Uroma

2015-08-09-792 klein

Es ist soweit.

Was?

Es ist Mis­tral.

Und?

Wir müs­sen die Eltern an den Strand brin­gen. Zu den Vögeln.

Muß das heute sein?

Mor­gen spä­tes­tens. Mis­tral ist immer nur ein paar Tage. Das weißt du doch!

Und die Brü­der?

Sind unter­wegs. Wir war­ten nur noch auf dich. Nimm dir einen Flie­ger oder setz' dich in den Zug!

Seit Jah­ren saßen die Eltern bei der Toch­ter auf dem Kamin­sims. Stan­dard­mo­dell, ein paar kit­schige Ver­zie­run­gen, Schraub­ver­schluß. Vor ein paar Tagen hatte der Enkel her­aus­ge­fun­den, wie man den Deckel öff­net und wollte mit Opa spie­len. Die Toch­ter nahm ihrem Kind Opas Hüfte wie­der weg, fegte die Krü­mel und den Staub zusam­men und ver­steckte Oma und Opa im Schrank. Der Rest ver­schwand im Staub­sauger und in der Bade­wanne. Das Kind weinte. So eine schöne Pis­tole hatte er noch nie gehabt. Es ist wirk­lich Zeit, daß die Eltern end­lich flie­gen ler­nen, dachte sie sich.

Jetzt?

Jetzt!

Ein Sams­tag­abend am Strand. Februar. Nur ein paar uner­schro­ckene Paare und ver­ein­zelte Läu­fer. Die Sonne ver­schwin­det im Meer. Bei "Jetzt!" plump­sen ein paar grau­schwarze Krü­mel in den Tüm­pel neben der Straße. Der kalte West­wind treibt den Staub in fei­nen Schwa­den über das fla­che Was­ser der Lagune. Über Möwen, Enten und Perl­hüh­ner hin­weg bis zu den Fla­min­gos.

Voilà, sagt der Älteste und steckt sich eine Ziga­rette an.

Die kleine Schwes­ter kann ein Schluch­zen nicht unter­drü­cken. Die Brü­der neh­men sie trös­tend in die Arme. Ist doch alles gut. Jetzt sind sie da, wo sie hin woll­ten. Bes­ser als jeder Fried­hof, wo kei­ner je hin­geht. Bes­ser als jede Grab­stätte, die in der zwei­ten Genera­tion spä­tes­tens umge­gra­ben wird. Die Legende von den Fla­min­gos hält sich mit etwas Glück ein biß­chen län­ger. Und funk­tio­niert in jedem Zoo der Welt.

Guck' mal, da ist die Uroma!


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Krebs

Bis heute Mor­gen noch hatte ich wahr­schein­lich Krebs. Magen­krebs. Bösar­tige Erkran­kun­gen kenne ich aus dem Stu­dium. Magen­krebs hatte ich bestimmt schon mal. Die Grund­sym­ptome der bös­ar­ti­gen Erkran­kun­gen waren immer ähn­lich: Appe­tit­lo­sig­keit, Übel­keit, Gewichts­ver­lust. Dazu viel­leicht leich­tes Fie­ber, Nacht­schweiß, dif­fu­ser Schmerz. Bei mei­nem Lun­gen­krebs kam noch ein hart­nä­cki­ger tro­cke­ner Hus­ten dazu. Über Wochen. Sehr stö­rend bei der Vor­be­rei­tung auf die Prü­fun­gen. Der Hirn­tu­mor ging zusätz­lich mit Schwin­del und Atta­cken ste­chen­den Schmer­zes von hin­ten direkt ins rechte Auge ein­her. Sauf­ge­lage konn­ten in ster­ben­se­len­den Zustän­den nahe einem hepa­ti­schen Koma enden oder aku­ter Leber­zir­rhose, Sta­dium C nach Child. Die Leber­zir­rhose ihrer­seits kann zu Leber­krebs füh­ren. Zum Ster­ben reichte es trotz tiefs­ter Über­zeu­gung nie. Glück­li­cher­weise ver­schwan­den nach den Prü­fun­gen alle meine schlim­men Krank­hei­ten inner­halb kur­zer Zeit weit­ge­hend fol­gen­los. Resti­tu­tio ad inte­grum. Und das ohne jeg­li­che The­ra­pie. Oder ich ver­gaß ein­fach, wie krank ich eigent­lich war.

Kla­rer Fall von stu­den­ti­scher Hypo­chon­drie.

Inzwi­schen bin ich fast drei­ßig Jahre älter. Schließt die Hypo­chon­drie nicht sicher aus. Ich weiß. Der Magen­krebs ist ande­rer­seits durch lang­fris­tige Expo­si­tion ver­schie­dens­ter Risi­ko­fak­to­ren deut­lich wahr­schein­li­cher gewor­den. Dazu seit Wochen Appe­tit­lo­sig­keit, Völ­le­ge­fühl, Gewichts­ver­lust. Das Völ­le­ge­fühl ist ein Spät­sym­ptom. Zeit, meine Papiere zu ord­nen. Ein aus­ge­wo­ge­nes Tes­ta­ment. Der Groß­teil mei­nes über ein gan­zes Leben ange­häuf­ten irdi­schen Guts wird ohne­hin über kurz oder lang im Con­tai­ner enden. Die Moda­li­tä­ten der Hin­ter­blie­be­nen­rente abklä­ren. Sie wer­den an mei­nem Ster­be­la­ger sit­zen und wei­nen. Ich muß mir wohl noch ein paar mar­kante letzte Worte zurecht­le­gen.

Meine Frau hat mir kurz­fris­tig einen Ter­min mit dem Gas­tro­en­te­ro­lo­gen ihrer Wahl im gro­ßen Hço­pi­tal von Tou­lon ver­schafft. 12:34 Uhr. Der Pfle­ger schließt den Blut­druck an, über­wacht die Sauer­stoff­sät­ti­gung. Ein Beiß­schutz hält die Zähne aus­ein­an­der. Eine Schwes­ter reicht die Optik an. Der Schlauch, den man frei­wil­lig schlu­cken soll oder einem zwi­schen Zunge und Gau­men in die Spei­se­röhre gepfrie­melt wird, ist klein­fin­ger­dick. Das wäre unan­ge­nehm, aber nicht schmerz­haft. Sage ich den Pati­en­ten, die eine Nar­kose für die Gastro­sko­pie haben wol­len. Lokal­an­äs­the­sie des Gau­mens reicht eigent­lich. Wer mehr braucht als eine Lokal­an­äs­the­sie, ist ein Weichei. Letz­te­res sage ich mei­nen Pati­en­ten nicht, sol­len sie aber zwi­schen den Zei­len ver­ste­hen. Eine Voll­nar­kose für einen harm­lo­sen Zwei-Minu­ten-Ein­griff ist nun wirk­lich über­trie­ben!

Ich muß mich auf die linke Seite legen, schräg über mir der Moni­tor. Hin­ter mir der Pfle­ger. Das wäre unan­ge­nehm, aber nicht schmerz­haft. Höre ich den Lieb­lings-Gas­tro­en­te­ro­lo­gen mei­ner Frau sagen. Zum drit­ten Mal bereits. Soll natür­lich hei­ßen: stell' dich jetzt bloß nicht an. Dabei hat­ten wir gerade noch so nett geplau­dert über unsere Kran­ken­häu­ser, die jewei­li­gen Kol­le­gen, die nicht gerade rosige Zukunft mei­ner Pro­vinz­klit­sche. Die vie­len Dienste, den Kol­le­gen, des­sen Magen­kar­zi­nom so spät ent­deckt wurde. Ich solle ruhig durch die Nase atmen. Wahr­schein­lich würde mich der Pfle­ger in Posi­tion hal­ten, sollte ich mich anstel­len. Meine Epi­glot­tis for­mat­fül­lend auf dem Moni­tor. Gleich wird es unan­ge­nehm. Ruhig durch die Nase atmen und nicht mehr schlu­cken, sagt der Pfle­ger wie­der. Auf dem Moni­tor die Spei­se­röhre von innen, meine, dann der Magen. Schlu­cken macht Wür­ge­reiz. Durch die Nase atmen geht nicht. Geht ein­fach nicht. Da ist zu. Haupt­sa­che atmen, Haupt­sa­che ruhig atmen. Mein Magen sieht von innen aus wie ein nor­ma­ler Magen. Am bes­ten nicht Schlu­cken, ruhig atmen.

Ein paar Biop­sien, ein paar Schluck­ver­su­che mit Wür­ge­reiz spä­ter ist es vor­bei. Alles in Ord­nung, sagt der Lieb­lings-Gas­tro­en­te­ro­loge. Wäre wohl doch nur der Streß. Bestimmt kein Krebs. Aber das ver­stünde er auch. Das Resul­tat der Biop­sien in ein paar Wochen. Würde er dann mei­ner Frau mit­ge­ben.

Kla­rer Fall von Hypo­chon­drie.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Ausländer

Mein Sohn, elf Jahre, hatte auf dem Weg zum Schwimm­trai­ning im Bad am Hafen behaup­tet, die Charles-de-Gaulle sei in Tou­lon. Würde er gerne mal in echt und aus der Nähe sehen. Die Charles-de-Gaulle ist der fran­zö­si­sche Flug­zeug­trä­ger. Die Rolex der fran­zö­si­schen Streit­kräfte, viel­leicht der Stolz der Grande Nation über­haupt. Daß sie gerade ange­kom­men wäre, hätte ihm eine Schwimm­ka­me­ra­din erzählt. Weil man sie, die Charles-de-Gaulle, von da, wo wir gerade waren, direkt am Was­ser, nicht weit vom Fähr­ha­fen, nicht sehen konnte, war ich mir sicher, seine Schwimm­ka­me­ra­din würde sich irren. Das wäre ein so rie­si­ges Schiff, sagte ich, das müßte man von hier aus sehen. Man konnte andere rie­sige graue Schiffe sehen, die Siroco zum Bei­spiel, ein Lan­dungs­schiff, nicht aber die Charles-de-Gaulle. Wenn man sie nicht sähe, behaup­tete ich, wäre sie wohl nicht da. Ande­rer­seits ist sie oft in Tou­lon. Immer wie­der muß die­ses Schiff über viele Monate gewar­tet wer­den, immer wie­der ist irgend­was kaputt. Auf ihrer Jung­fern­fahrt schon ver­lor sie einen ihrer Pro­pel­ler im Atlan­tik. Wie pein­lich. Wie eine Rolex mit abge­fal­le­nem Minu­ten­zei­ger.

Ein paar Tage spä­ter war ich mor­gens mit dem Fahr­rad am Faron. Ein­mal rüber über den Berg. Macht kei­nen Spaß. Sport­li­che Akti­vi­tät eben. Der Anstieg son­nen­ex­po­niert, die Abfahrt zwar im Schat­ten unter Pinien, aber mit sehr vie­len Kur­ven. Und vie­len klei­nen Stein­chen auf der Straße. Das beste am Faron ist neben der Aus­sicht die Dusche danach. Auf hal­ber Höhe, auf einer die­ser lan­gen Stei­gungs­stre­cken vor der nächs­ten Haar­na­del­kurve, eine Drei­er­gruppe auf Moun­tain­bikes. Ich holte lang­sam auf. Pas­siert mir nicht oft, daß ich andere Rad­fah­rer über­hole. Zwei Män­ner, leicht über­ge­wich­tig, eine Frau. Auch leicht über­ge­wich­tig. Die Frau vor­wie­gend in Signal-Orange. Die Her­ren in einer Kom­bi­na­tion aus Grau­tö­nen mit Schwarz. Aus­län­di­sche Tou­ris­ten. Fran­zo­sen kön­nen nur in grell­bun­ter Alberto-Con­ta­dor-Ver­klei­dung rad­fah­ren. Außer­dem San­da­len­trä­ger. Rad­fah­rer in San­da­len! Kein Wun­der, daß ich auf­holte. Kann man in San­da­len woan­ders als an Nord- oder Ost­see rad­fah­ren? San­da­len mit Socken zudem! Hol­län­der? Deut­sche? Und dann kann ich sie hören. Ja, Deut­sche. Vom Dia­lekt her Schwa­ben. Schwa­ben in Bir­ken­stocks und Socken. Deut­sche der Vor­zeige-Kate­go­rie. Die Dame muß ein Foto machen von der schöns­ten Rade Euro­pas. Natür­lich.

Guck' amol, d'Scharldegoll isch au do.

Mein Sohn hatte doch recht! Die Charles-de-Gaulle war in Tou­lon. Viel klei­ner als ich dachte. Und das nicht nur wegen der Per­spek­tive von hier oben. Macht sich auch gegen­über den Käh­nen von Cor­sica Fer­ries nicht wirk­lich rie­sig aus. Ein biß­chen grö­ßer, aber nicht beein­dru­ckend groß. Kein Wun­der, daß man sie nicht sehen kann vom Fähr­ha­fen aus.

Zwei Kur­ven spä­ter die Berg­sta­tion der Seil­bahn. Tou­lon gönnt sich den Luxus einer Seil­bahn! Von einem Pri­vat­mann in den 50er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts gebaut (Ein­wei­hung 1959), schafft diese Seil­bahn mit zwei Kabi­nen im Pen­del­ver­kehr maxi­mal 150 Per­so­nen pro Stunde. Von unge­fähr März bis unge­fähr Mitte Novem­ber zwi­schen 10 und 19 Uhr. Abge­se­hen von meh­re­ren tech­ni­schen Revi­sio­nen im Juni, Juli und Sep­tem­ber über jeweils zwei oder mehr Tage. Abge­se­hen auch von den Tagen mit Mis­tral. Zuviel Wind hält der Télé­phé­ri­que auch nicht aus. Die Tal­sta­tion liegt im Nor­den der Stadt, deut­lich außer­halb des Zen­trums, mit einem win­zi­gen Park­platz. Dem nicht-auto­mo­bi­len Tou­ris­ten bleibt der Bus. Linie 40. Net­tes Extra, diese Seil­bahn, aber viel­leicht nicht zeit­ge­mäß. So wie der Flug­zeug­trä­ger.

An der Berg­sta­tion, unweit des Welt­kriegs-Memo­ri­als, war­tet eine Frau. Eher schlank, in vor­wie­gend Signal-Orange. Das glei­che Kos­tüm wie die Dame mit Foto­ap­pa­rat vor­hin. Aber mit Renn­rad und Sport­schu­hen. Und ohne Socken. Hat ganz offen­sicht­lich ihre Rei­se­gruppe ver­lo­ren. Sie sieht so aus, als wollte sie mich anquat­schen. Passt mir nicht so. Mein Com­pu­ter zeigt eine Puls­fre­quenz von 154 an. Ab 140 rede ich nicht mehr so gerne.

Hello, excuse me, please!

Muß ich jetzt anhal­ten zum Plau­dern? Als Fran­zose dürfte ich ein­fach wei­ter­fah­ren. Als Fran­zose kann man aus Prin­zip – wenn über­haupt – nur miß­mu­tig auf aus­län­di­sche Pho­ne­tik reagie­ren. Ich kann einen Satz sagen:

Bon­jour! Vos amis né vont pas tar­der. Ils étai­ent en train de prendre quel­ques pho­tos.

Oh! Merci beau­coup! Bonne con­ti­nua­tion, bonne jour­née!

Und das akzent­frei. Warum nur, fragte ich mich, spricht sie mich nicht gleich auf Fran­zö­sisch an? Ein Kilo­me­ter wei­ter, auf Höhe des Zoos, die Erkennt­nis: es muß der Helm sein. In mei­nem Fall der feh­lende Helm. Zu glaub­haf­ter Tour-de-France-Ver­klei­dung gehört der Helm. Ohne Helm ist ein bei­nahe so zuver­läs­si­ges Aus­län­der-Merk­mal wie Bir­ken­stocks in der Öffent­lich­keit.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr