Uroma
Es ist soweit.
Was?
Es ist Mistral.
Und?
Wir müssen die Eltern an den Strand bringen. Zu den Vögeln.
Muß das heute sein?
Morgen spätestens. Mistral ist immer nur ein paar Tage. Das weißt du doch!
Und die Brüder?
Sind unterwegs. Wir warten nur noch auf dich. Nimm dir einen Flieger oder setz’ dich in den Zug!
Seit Jahren saßen die Eltern bei der Tochter auf dem Kaminsims. Standardmodell, ein paar kitschige Verzierungen, Schraubverschluß. Vor ein paar Tagen hatte der Enkel herausgefunden, wie man den Deckel öffnet und wollte mit Opa spielen. Die Tochter nahm ihrem Kind Opas Hüfte wieder weg, fegte die Krümel und den Staub zusammen und versteckte Oma und Opa im Schrank. Der Rest verschwand im Staubsauger und in der Badewanne. Das Kind weinte. So eine schöne Pistole hatte er noch nie gehabt. Es ist wirklich Zeit, daß die Eltern endlich fliegen lernen, dachte sie sich.
Jetzt?
Jetzt!
Ein Samstagabend am Strand. Februar. Nur ein paar unerschrockene Paare und vereinzelte Läufer. Die Sonne verschwindet im Meer. Bei “Jetzt!” plumpsen ein paar grauschwarze Krümel in den Tümpel neben der Straße. Der kalte Westwind treibt den Staub in feinen Schwaden über das flache Wasser der Lagune. Über Möwen, Enten und Perlhühner hinweg bis zu den Flamingos.
Voilà, sagt der Älteste und steckt sich eine Zigarette an.
Die kleine Schwester kann ein Schluchzen nicht unterdrücken. Die Brüder nehmen sie tröstend in die Arme. Ist doch alles gut. Jetzt sind sie da, wo sie hin wollten. Besser als jeder Friedhof, wo keiner je hingeht. Besser als jede Grabstätte, die in der zweiten Generation spätestens umgegraben wird. Die Legende von den Flamingos hält sich mit etwas Glück ein bißchen länger. Und funktioniert in jedem Zoo der Welt.
Guck’ mal, da ist die Uroma!
© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
bertram@diehl.fr