Einrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens

8. März 2015 Von Alleinerzieher

Kom­mende Woche, ab mor­gen, habe ich meine grie­chi­sche Woche. Grie­chi­sche Woche? Der Begriff hat hier nur wenig kuli­na­ri­schen Hin­ter­grund. Ist – ich gebe es zu, ich schwimme da völ­lig unbe­fan­gen auf der aktu­el­len Woge eines Vor­ur­teils – eine Stei­ge­rungs­form der süd­fran­zö­si­schen Ver­sion zur loka­len Arbeits­mo­ral. Arbeit dabei in Anfüh­rungs­zei­chen – "Arbeit". Tra­vail­ler – wört­lich: arbei­ten – hat im süd­fran­zö­si­schen Sinn außer Abwe­sen­heit von zuhause wenig gemein mit der ger­ma­ni­schen Vor­stel­lung von Arbeit. Im Rah­men der grie­chi­schen Woche in der medi­ter­ra­nen Ein­rich­tung des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens ist der betrof­fene Kol­lege für die anäs­the­sio­lo­gi­sche Visite auf den chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen zustän­dig. Wir haben eine vis­ze­ral­chir­ur­gi­sche Sta­tion mit viel­leicht drei­ßig Bet­ten und eine ortho­pä­di­sche Chir­ur­gie. Auch drei­ßig Bet­ten. Kaputte Hüf­ten, Hand­ge­lenke. So Sachen. Anäs­the­sio­lo­gi­sche Visite also auf chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen.

Visite?

Die Abtei­lung für Anäs­thesiolo­gie küm­mert sich um das Kalium, die Diurese und den Schmerz auf chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen. Weil der Chir­urg keine Ahnung hat von Elek­tro­ly­ten, Lasix und Schmerz­the­ra­pie jen­seits von Parazeta­mol. Oder keine Ahnung haben will davon. Keine Ahnung haben wol­len paßt zur süd­fran­zö­si­schen Men­ta­li­tät. Zur grie­chi­schen gehört zusätz­lich der Anäs­the­sist. Fach­arzt. Beam­ter. Voll­zeit. Der Auf­tritt des fach­ärzt­li­chen Voll­zeit­be­am­ten mit anäs­the­sio­lo­gi­schem Hin­ter­grund – Kalium, Lasix, Mor­phium – fin­det gegen zehn Uhr statt. Vor­her ist sinn­los, weil es da noch keine Labor­werte gibt. Die Visite fin­det am Com­pu­ter statt. Mit einer Schwes­ter. Dau­ert nor­ma­ler­weise um die 15 (in Wor­ten: fünf­zehn) Minu­ten. In der Kno­chen­chir­ur­gie. In der Vis­ze­ral­chir­ur­gie besteht sie aus einer simp­len Frage: Gibt es was für mich? Wor­auf die betrof­fene Schwes­ter die Liste ihrer Pati­en­ten kurz über­fliegt und auf die bekann­ten Kri­te­rien – Kalium, Diurese, Mor­phium – prüft. Meis­tens fällt ihr nichts ein. Eine Minute drei­ßig. Mit Küß­chen links, rechts und drei Wor­ten zum Wochen­ende, je nach Schwes­ter, kom­men fünf Minu­ten dazu. Sozia­ler Kon­text. Das gehört zur Anäs­the­sio­lo­gie. Das kön­nen wir im Prin­zip ganz gut. Gehört auch zum Beam­ten­sta­tus. Und zur süd­fran­zö­si­schen Men­ta­li­tät. Zur grie­chi­schen sowieso.

Visite ist ein­fach und kurz.

Wis­sen alle, wür­den meine Kol­le­gen aber nie zuge­ben. Im Gegen­teil. Bur­nout auf chir­ur­gi­schen Sta­tio­nen der Grund­te­nor. Viel­leicht haben sie für sich per­sön­lich recht. Das liegt aber ver­mut­lich daran, daß sie das mit dem sozia­len Kon­text nicht aus­rei­chend beher­zi­gen. Statt­des­sen rum­schreien. Wofür auch immer. Weil gerade keine Schwes­ter für sie Zeit hat, erst noch die chir­ur­gi­sche Kon­kur­renz küs­sen muß. Oder die Labor­werte noch nicht aus­ge­druckt sind. Sowas. Es geht ums Prin­zip. Auch als Anäs­the­sist bin ich Arzt und schon alleine des­halb irgend­wie Chef. Rum­schreien ist anstren­gend und führt nicht wei­ter.

Auf­wen­dig, rich­tig auf­wen­dig kann es wer­den, wenn man noch prä­me­di­zie­ren muß. Plan­ein­griffe für mor­gen oder sonst­wann. Für die Not­fälle – heute irgend­wann – bin ich nicht zustän­dig. Das Nicht­zu­stän­dig­sein ist schön und paßt zum Beam­ten­sta­tus. Der Klas­si­ker, wie in der Behörde, nicht Zim­mer A35 oder C17, son­dern B16. Und die Sach­be­ar­bei­te­rin in B16 weiß gar nicht, kann viel­leicht gar nicht wis­sen, worum es gerade geht. Wenn sie über­haupt da ist. Damit kann man Chir­ur­gen zum Wei­nen brin­gen. Sogar süd­fran­zö­si­sche. Ich bin nicht zustän­dig. Wer denn? Keine Ahnung. Ruf' doch mal im Auf­wach­raum an. Im Auf­wach­raum geht fast nie jemand ans Tele­fon.

Zwei, drei ernst­ge­meinte Prä­me­di­ka­tio­nen kön­nen einen dage­gen ganz schön aus dem Timing brin­gen. Wenn sie nicht wirk­lich drin­gend sind, kann man sie aller­dings auch noch auf mor­gen ver­schie­ben.

Gutes Timing in der grie­chi­schen Woche heißt Mit­tag­essen zuhause. Hier kommt der kuli­na­ri­sche Aspekt rudi­men­tär ins Spiel. Zwölf Uhr spä­tes­tens also an der Schranke zum Ärz­te­park­platz. Im Auto. Die Schranke im Rück­spie­gel. Zuhause unbe­dingt das Tele­fon im Auto ver­ges­sen!

Abends muß man dann aller­dings noch mal hin. Plan­mä­ßig auf­ge­nom­me­nen Pati­en­ten für mor­gen bon­jour sagen, Fra­gen beant­wor­ten, mit­ge­brachte Labor­werte angu­cken und sagen, daß alles gut­ge­hen würde. Bonne nuit. Halbe Stunde. Ein­schließ­lich sozia­lem Kon­text mit der Spät­schicht. Eine Stunde mit An- und Abreise.

Zuhause, zwi­schen den Visi­ten, Zeit genug für Mit­tag­essen in der Sonne. Aus­gie­bige Sieste. Viel­leicht ein biß­chen Haus­halt, Ein­käufe. Spä­ter Fein­schliff an den Haus­auf­ga­ben der Kin­der. Mitt­woch habe ich ohne­hin frei. Macht geschätzt immer­hin elf Wochen­stun­den. Wird aber gezählt wie fünf­und­drei­ßig. Wenn das nicht grie­chi­sche Zustände sind?

Kann ich gut, die grie­chi­sche Woche gefällt mir. Geht auch als Allein­er­zie­her, wenn zum Bei­spiel die Mut­ter mei­ner Kin­der Dienst hat, auf Fort­bil­dung ist oder in Fern­ost Huma­ni­tär­me­di­zin betreibt.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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