Kollateraltröpfchen

Hallo Herr Redakteur!

Gestern waren wir in der Oper von Toulon, meine Frau und ich. Wir haben Contes d’Hoffmann – Hoffmanns Erzählungen – von Jacques Offenbach gesehen und ich mußte an Sie denken. Nein, nicht wirklich an Sie direkt, sondern an ein Interview in ZEIT ONLINE. Herr Daschner wurde interviewt von Nicola Meier vielleicht haben Sie es ja selbst gelesen. Herr Daschner ist ein alter Bekannter für mich. In meinen jungen Jahren im Beruf war er der Spezialist der Hygiene im allgemeinen und der Antibiotherapie im Speziellen. Als AiP hatte ich ihn immer in der Kitteltasche. Antibiotika am Krankenbett. Und offenbar ist er immer noch der Spezialist.

Gestern in der Oper mußte ich an dieses Interview denken. Was Händewaschen angeht, ist der Mann ein Ferkel. Sagt Herr Daschner.

Im Rahmen unseres Abonnements sitzen wir im Parkett. Das ist fast so wie im Kino. Man kann den Kopf anlehnen. Geradeaus nach vorne ist die Bühne. Früher saßen wir immer oben irgendwo. Das ist zu kurz an den Knien und ohne Anlehnen am Kopf. Die Bühne zudem schräg rechts oder links. Am Ende immer schreckliche Kopfschmerzen vor lauter Verspannung. Und der Hitze wegen. Sie haben diese Oper gerade erst über ein ganzes Jahr renoviert, aber die Klimaanlage vergessen oder weggelassen. Bestimmt gab es für das Weglassen der Klimaanlage eine Öko-Plakette. Oben auf den billigen Plätzen sammelt sich die Hitze. Und die Ausdünstungen der Herrschaften unten auf den teuren Parkettplätzen. Oben muß man auch immer gucken. Zumindest auf diesen seitlichen Plätzen kann man nicht mal kurz die Augen zumachen, weil man sich ja im Blickwinkel eines Nachbarn befindet. Macht einen schlechten Eindruck, wenn man in der Oper dämmert. Geht oben ohnehin nur ganz schlecht, weil man den Kopf ja nicht anlehnen kann.

Das alles ist unten besser. Parkett, I1 und I3, mittendrin. Die Lehnen ein bißchen speckig. Roter, speckiger Samt. Samtimitation vermutlich, Polyester. Um einen herum nur Senioren. Weißhaarig. Hunderte, Tausende haben ihre weißen Schöpfe schon an diese Lehnen gelehnt. Nicht wirklich appetitlich der Gedanke. Findet Herr Daschner auch. Ein bißchen so wie im D-Zug.

In der Pause rennen wir immer mit den Ersten aus dem Saal. Eine halbe Etage weiter oben gibt es einen Festsaal mit einer Art Bar in einer Ecke. Mehr ein improvisierter Ausschank mit sozialistischem Charme. Minimalistisch. Nur drei Bedienungen, die natürlich in dieser Viertelstunde Pause hoffnungslos überlastet sind. Und in ihrer Überforderung sozialistischen Charme versprühen. Minimalistischen Charme. Wenn man nicht zu den Ersten an diesem Ausschank gehört, hat man seinen Sekt erst, wenn die Pause schon fast wieder zu Ende ist. Die Senioren drängen sich mit harten Ellenbogen wie die Schweine am Trog. Es gibt Wasser mit und ohne Kohlensäure, diverse Fruchtsäfte, ein paar Sorten Zuckerbrauselösungen und Champagner. Fünf Euro fünfzig die Schale Champagner. Wir trinken jeder eine Schale.

Nach dem Sekt gehe ich fast immer auf Toilette. Nichts ist blöder, wenn man unten, den Kopf schön angelehnt an etwas speckigen Lehnen unter Sekteinfluß die Augen einen Moment, einen Moment nur, zumachen möchte und dann erst merkt, daß die Blase zu voll ist. Wenn es ganz schlimm kommt, kann man an gar nichts anderes mehr denken als an seine volle Blase. Man kann nicht mehr zuhören, geschweige denn die Augen schließen und ein bißchen wegdämmern. Deswegen immer schnell noch auf Toilette.

Die Tür zur Herrentoilette klemmt etwas beim Öffnen. Wahrscheinlich auch eine Folge der Renovierung. Der Marmorboden ist etwas uneben geraten. Dafür schließt sie automatisch und heftig, mit lautem Knall. Der Federmechanismus der Tür stammt wahrscheinlich aus dem Baumarkt und ist schlecht eingestellt. Gleich hinter der Tür der Vorraum mit einer Waschbeckenzeile in durchgehender Steinplatte. Die Wasserhähne billige Baumarktware, Designermodellen nachempfunden. Alle wackeln im Marmorimitat. Offenbar kamen auch die Installateure aus dem Baumarkt. Links der Waschbeckenzeile ein Klo mit Tür und ein offener Raum mit Pissbeckenzeile. Vier Stück davon, etwas zu dicht nebeneinander. Man kann dem Herren nebenan auf den Pimmel gucken. Mich hemmt das, wenn mir jemand beim Pinkeln zuguckt. Allein die Idee schon, daß neben mir jemand gucken könnte, macht mir akute Prostatahypertrophie. Manchmal werden zwei Herren, zumeist grauhaarig, neben mir fertig, bevor es bei mir zu tröpfeln beginnt. Ältere Herren haben es immer eilig. Oft packen sie ihren Pimmel erst im Wegdrehen wieder richtig ein. Neunzig Prozent aller Toilettenbesucher waschen ihre Hände nicht. Und zerren mit ungewaschenen Händen am Türknauf. Ich wasche meine Hände immer. In der Oper am Designerimitat. Mit Seife aus dem Spender. Ist sogar immer welche drin. Währenddessen verläßt der letzte Senior den Raum. Mit lautem Knall fällt die Tür zu.

In diesem Moment, mit diesem Knall, beginne ich diese Menschen mit Waschzwang zu verstehen. Man kann diesen Türknauf nicht anfassen. Da klebt Urin dran. Auch wenn die Herren den Tropfen, der ihnen zwischen die Finger gekommen ist, schnell an ihrer Hose abgewischt haben. Spuren ihrer Ausscheidungen kleben an diesem Türknauf. Spuren Hunderter von Tröpfchen. Das kann ich nicht anfassen. Die Tropfen sieht man natürlich nicht. Aber ich weiß davon. Ich habe ja gerade erst den Mechanismus gesehen. Aus nächster Anschauung. Männer, die sich den letzten Tropfen vom Pimmel schütteln. Kollateraltröpfchen an den Fingern. Und jetzt zwangsläufig am Türknauf. Weil sich kaum einer die Hände wäscht vor lauter Eile. Eine Tür, die klemmt und nach innen aufgeht. Ginge sie nach außen auf, zum Flur hin, könnte ich sie ja einfach mit dem Fuß aufschieben. Ich kann das nicht anfassen! Wenn wenigstens auf dem Flur dahinter noch ein Waschbecken wäre! Oder ich Einmalhandschuhe aus dem Krankenhaus dabeihätte. Oder ein Tempo, irgendwas, womit ich diesen Türknauf ohne Direktkontakt anfassen könnte. An der Waschzeile gibt es – ganz ökologisch, das muß ein Unikat sein an der gesamten Côte d’Azur – keine Papierhandtuchspender, sondern so einen Handtuch-Bandautomaten. So ein Ding, aus dem man einen halben Meter frisches Handtuch zieht und gleichzeitig der benutzte Teil des Bandes unten in der Kiste verschwindet. Nichts, was man mitnehmen könnte, nichts, was als Schutz vor Urinspuren geeignet wäre. Ich kann nur auf einen weiteren eiligen Senioren hoffen. Dicht an der Tür warten, reinlassen, Fuß in die Tür und mich retten, bevor sie wieder zuknallt.

Das nächste Mal werde ich eine Packung Tempos dabeihaben. Zumindest eins. Um den Türknauf im Herrenklo anfassen zu können. Aber das nehme ich mir schon seit Jahren vor.

Andererseits gibt es eben die Aussagen von Herrn Daschner bei der ZEIT.  Da spricht er von der überall und massenhaft vorhandenen Mikrobe, die eigentlich nie krankmachend ist. Nicht mal im ICE-Abteil und den zugeschissenen Zugtoiletten. Nur in der offenen Wunde. Sagt Herr Daschner. Ich sollte mich also nicht so anstellen auf dem Opernklo in Toulon. Völlig ungefährlich. Und außerdem völlig normal das mit den Kollateraltröpfchen. Ungefährlich sowieso. Aber auch normal. Auf einem Kongress von Hygienikern haben sie eine Art wissenschaftliche Erhebung durchgeführt, erzählt Herr Daschner in seinem Interview. In den Toiletten des Kongress-Zentrums. Das Resultat: nicht einmal die Hälfte der Teilnehmer, Akademiker immerhin und Spezialisten, was die Mikrobe betrifft, wäscht sich die Hände nach der Toilettenbenutzung. Alles nicht so schlimm also. Normal geradezu.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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