Pseudomnesie

Acacia dealbata 1000x500

Vor vielen Jahren, während meines ersten Schuljahres, verbrachte ich mit meinen Eltern und meinen Brüdern ein paar Monate in Südfrankreich. Irgendwo bei Vence hatten wir ein Haus mit offenem Kamin gemietet. Vier Monate lang. Mitten in der ersten Klasse Grundschule. Meine Mutter war Grundschullehrerin. Lesen und Schreiben habe ich da mit ihr gelernt und meine ersten Briefe an Oma und Opa in großen, ungelenken Buchstaben gemalt. Neben im Kaminfeuer angekokelten Pantoffeln gehört auch die Mimosenblüte in Südfrankreich zu den Erinnerungen an diese Zeit.

Jetzt, viele Jahre später, habe ich Mimosen im eigenen Garten. Überall. Zwischen den Palmen, Eichen, Zedern, Eukalyptusbäumen. Mimosen wachsen hier wie Unkraut. Wie Löwenzahn in Westfalen. Blühen gerade. Oder immer noch. Mimosen blühen immer wieder zu dieser Jahreszeit. Über Wochen hinweg blüht immer ein anderer Baum. Je nach Standort und Sonneneinstrahlung vermutlich. Die ersten blühen ab Mitte Januar und sind schon lange verblüht. Das geht bis Ende März. Wenn es warm genug ist, duften sie ganz intensiv. Ganze Landstriche finden sich unter Minosenduft. Aus der winterlichen Kälte in die Wärme der Wohnung geholt, können Mimosenzweige ein dramatisches Duftpotential entwickeln.

Dabei ist meine französische Mimosa gar keine echte Mimose. Sagt außer wikipedia auch die Fachliteratur. Die Mimosa im Garten ist eine Acacia dealbata, Silber-Akazie. Eine Akazie. Mimose und Akazie gehören botanisch zwar zur gleichen Familie der Mimosaceae, in dieser Familie aber zu unterschiedlichen Gattungen, Mimosa und Acacia. Die Mimosa in meinem Garten ist immigriert aus Australien. Mitgebracht von Nicolas Baudin, einem Seefahrer, und erstmalig geplanzt von Napoleons Frau Josphine im Park ihres Château de Malmaison. 1804. Sagt die französische Wikipedia.

Die Pflanze hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den echten Mimosa. Arten der Gattung Mimosa kommen aber nur in der Neotropis vor. Neotropis? Neotropis ist ein Begriff aus der Biogeographie. Mittel- und Südamerika mit Ausnahme der südlichen Anden, die ihrerseits zur Antarktis zählen. Biogeographisch. Wie auch immer auch weit weg.

Die wirkliche Mimosa heißt auch “Sinnpflanze”, weil sie so sensibel ist. Wikipedia weiß eine ganze Reihe  schöner Begriffe zur Sinnlichkeit von Pflanzen: Nastien. Unspezifisch reaktive, aber gerichtete Bewegungsphänomene. Unter anderem Seismonastie (Erschütterung), Chemonastie (chemischer Reiz), Photonastie (Licht), Thermonastie (Hitze) und Thigmonastie, der Reaktion auf Berührungsreize. Vertreter der Gattung Mimosa, die Mimosen im botanischen korrekten Sinn, klappen bei Berührung ihre gefiederten Blätter zusammen. Thigmonastie. Wahrscheinlich eine Schutzreaktion. Und eben nicht nur bei Berührung. Reicht wohl schon ein kleiner Windhauch. Ein Regentropfen. So erklärt sich auch der übertragene Begriff. Klar. Die menschliche Mimose hält auch nichts aus. Ein kleiner Kommentar zum Schwabbel unter dem Karohemd und schon gibt er sich drei Tage demonstrativ einsilbig. Oder ein vergessener Hochzeitstag. Drei Tage Migräne. Das kenne ich auch von mir. Gibt es. Selten, glaube ich, aber gibt es. Nicht gerade den Schwabbel unter dem Karohemd betreffend. Ich trage schon seit Jahren keine Karohemden mehr.

Meine Unkraut-Mimosa im Garten, meine Acacia dealbata, hat leider, zu meiner Enttäuschung, keine Sinnlichkeit, klappt ihre gefiederten Blätter nicht zusammen. Zumindest nicht auf delikate thigmonastische Reize. Auch nicht auf grobe. Umgesägt, abgehakt, zum Verbrennen auf einen Haufen gestapelt dann schon. Eine Terminalreaktion also. Die Blätter trocknen aus und falten sich. Hat mit Thigmonastie nichts zu tun. Geht nicht mal als Thermonastie oder Traumatonastie durch.

Andererseits gehört die Thigmonastie der französischen Mimosen zu meinen frühen Kindheitserinnerungen. In der Erinnerung waren wir immer wieder unterwegs unter Mimosen. Mimosenwälder gibt es hier überall. Namensgebend zum Beispiel um Bormes-les-Mimosas. Ganz viel auch im Esterel, im Massif des Maures und im Massif du Tanneron. Eine kleine Berührung und die Blätter falteten sich. Direkt vor meinen Augen. Mein Vater war ein Held, weil er mir sowas Wunderbares zeigen konnte. Und jetzt sagt Wikipedia, solche Mimosen gibt es nur in der Neotropis. Muß ein klassischer Fall von Pseudomnesie sein. Erinnerungstäuschung, Scheinerinnerung.

Kann natürlich auch in einer Jardinerie mit südamerikanischen Exotika gewesen sein. Im Alter von sechs Jahren scheinen fast alle Pflanzen baumgroß.


Modifiziert, gekürzt zur Publikation in der Märzausgabe der Riviera-Zeit. 3.943 Zeichen.

Vor vielen Jahren, während meines ersten Schuljahres, verbrachte ich mit meinen Eltern und meinen Brüdern ein paar Monate in Südfrankreich. Irgendwo bei Vence hatten wir ein Haus mit offenem Kamin gemietet. Mitten in der ersten Klasse Grundschule. Lesen und Schreiben habe ich da mit meiner Mutter gelernt und meine ersten Briefe an Oma und Opa in großen, ungelenken Buchstaben gemalt. Neben im Kaminfeuer angekokelten Pantoffeln gehört auch die Mimosenblüte zu meinen Erinnerungen.

Jetzt, viele Jahre später, habe ich Mimosen im eigenen Garten. Überall. Mimosen wachsen wie Unkraut. Wie Löwenzahn in Westfalen. Blühen gerade. Oder immer noch. Mimosen blühen immer wieder zu dieser Jahreszeit. Über Wochen hinweg blüht immer ein anderer Baum. Je nach Sorte, Standort und Sonneneinstrahlung vermutlich. Die ersten blühen ab Mitte Januar und sind schon lange verblüht. Das geht bis Ende März. Wenn es warm genug ist, duften sie ganz intensiv. Ganze Landstriche finden sich unter Minosenduft. Aus winterlicher Kälte in die Wärme der Wohnung geholt, können Mimosenzweige ein dramatisches Duftpotential entwickeln.

Dabei ist meine französische Mimosa gar keine echte Mimose. Sagt außer wikipedia auch die Fachliteratur. Die Mimosa im Garten ist eine Acacia dealbata, Silber-Akazie. Mimose und Akazie gehören botanisch zwar zur gleichen Familie der Mimosaceae, in dieser Familie aber zu unterschiedlichen Gattungen. Die Mimosa in meinem Garten ist immigriert aus Australien. Mitgebracht von einem Seefahrer und erstmalig geplanzt im Park des Château de Malmaison. 1804.

Die Pflanze hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der echten Mimosa. Diese kommt aber nur in der Neotropis vor. Neotropis? Neotropis ist ein Begriff aus der Biogeographie. Mittel- und Südamerika mit Ausnahme der südlichen Anden, die ihrerseits zur Antarktis zählen. Biogeographisch. Weit weg.

Die wirkliche Mimosa heißt auch “Sinnpflanze”, weil sie so sensibel ist. Wikipedia weiß eine ganze Reihe schöner Begriffe zur Sinnlichkeit von Pflanzen: Nastien. Unspezifisch reaktive, aber gerichtete Bewegungsphänomene. Schutzreaktionen. Unter anderem Seismonastie, Chemonastie, Photonastie und Thermonastie. Vertreter der Gattung Mimosa, der Mimosen im botanischen korrekten Sinn, klappen bei Berührung ihre gefiederten Blätter zusammen. Thigmonastie. Und eben nicht nur bei Berührung. Reicht wohl schon ein kleiner Windhauch. Ein Regentropfen. So erklärt sich auch der übertragene Begriff. Klar. Die menschliche Mimose hält auch nichts aus. Ein kleiner Kommentar zum Schwabbel unter dem Karohemd und schon gibt er sich drei Tage demonstrativ einsilbig. Oder ein vergessener Hochzeitstag. Drei Tage Migräne. Das kenne ich auch von mir. Selten, glaube ich, aber gibt es. Nicht gerade den Schwabbel unter dem Karohemd betreffend. Ich trage schon seit Jahren keine Karohemden mehr.

Meine Unkraut-Mimosa im Garten, meine Acacia dealbata, hat leider, zu meiner Enttäuschung, keine Sinnlichkeit, klappt ihre gefiederten Blätter nicht zusammen. Überhaupt nicht. Nicht auf delikate thigmonastische Reize und auch nicht auf grobe. Umgesägt, abgehakt, gestapelt dann schon. Die Blätter trocknen aus und falten sich. Hat mit Thigmonastie nichts zu tun. Geht nicht mal als Thermonastie oder Traumatonastie durch.

Andererseits gehört die Thigmonastie der französischen Mimosen zu meinen frühen Kindheitserinnerungen. In der Erinnerung waren wir unterwegs unter Mimosen. Mimosenwälder gibt es hier überall. Namensgebend zum Beispiel um Bormes-les-Mimosas. Eine kleine Berührung und die Blätter falteten sich. Direkt vor meinen Augen. Mein Vater war ein Held, weil er mir sowas Wunderbares zeigen konnte. Und jetzt sagt Wikipedia, solche Mimosen gibt es nur in der Neotropis. Muß ein klassischer Fall von Pseudomnesie sein. Erinnerungstäuschung, Scheinerinnerung.

Kann natürlich auch in einer Jardinerie mit südamerikanischen Exotika gewesen sein. Im Alter von sechs Jahren scheinen fast alle Pflanzen baumgroß.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr