Alles so wie immer
Ich hatte geahnt, das es soweit kommen würde. Prokrastination bringt gar nichts. Predige ich meinen Kindern regelmäßig. Macht eure Hausaufgaben, lest eure Bücher rechtzeitig, denkt an eure Sportsachen. Ce qui est fait, n’est plus à faire. Getan ist getan. Ganz selten hören sie auf mich.
Zum Wochenende Ende November die Mail von der Redakteurin. Hast du Stoff für uns? Mit diskreter Andeutung von Zeitdruck. Und lieben Grüßen aus dem Vorweihnachtschaos. Kalter Schweiss. Normalerweise passiert mir das nicht. Normalerweise warte die Mail gar nicht erst ab oder habe schon was auf Lager. Meist irgendwas aus dem Blog, ein bisschen überarbeitet, ein bisschen gekürzt, nicht mehr als viertausend Zeichen. Ich hasse Zeitdruck. Macht eure Aufgaben, wenn ihr Zeit habt. Ce qui est fait, n’est plus à faire höre ich mich noch selbst. Dazu nichts als faule Ausreden. Wie die Kinder. Buch vergessen, Füller gestohlen, vom Schwimmen so müde. Auto in der Werkstatt, Spülmaschine kaputt, Ärger mit Kollegen, solcher Unsinn. Als ob mir das Auto in der Werkstatt jedes denkbare Zeitfenster rauben könnte. Klassische Prokrastination. Absehbar somit und doch ganz plötzlich die Mail von der Redakteurin und nichts parat. Ich brauche dringend einen Text für meine Kolumne weiter hinten in der RivieraZeit, zweispaltig auf einer Art Natogrün. Am besten was passend zum Jahresende. Was Nettes zum Schmunzeln, ein Text, der mit Bonne Année enden kann oder Meilleurs voeux. Was mit Bezug zur Côte d’Azur, zum Leben hier als deutscher Ausländer. Zum Leben der Zielgruppe. Was mit Familie vielleicht. Familie passt gut zum Jahreswechsel. Familie passt auch zur Zielgruppe. Die Zielgruppe muss oft Weihnachten und Sylvester mit Kind und Kegel und Hund nach Karlsruhe und Oer-Erkenschwick reisen, weil die Großeltern lieber zuhause feiern. Wisst ihr, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Oder Familie aus München und Potsdam fällt im Süden ein. Kinder, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr’s hier habt.
Mein Schwiegervater gehört zu letzterer Kategorie. Kinder, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr’s hier habt. Er wird Neujahr im Süden verbringen. Obwohl er ja auch nicht mehr der Jüngste ist. Mit easyjet nach Nizza fliegen. Dort einen Leihwagen nehmen. Ein paar Tage blauer Himmel und mediterrane Kulinarik. Und Familie. Fast alle Enkel sind zuhause. Freut mich sehr, weil er schon länger nicht mehr zu Besuch gekommen ist. Früher kam er gerne mit dem Auto. Gerne auch alleine. Mit dem Auto, weil da mehr reingeht als in ein, zwei Koffer. Und weil man dann unabhängiger ist, sagte er. Man kann fahren, wann man will. Wenn man morgens um halb vier aufwacht und fahren will, fährt man eben um halb vier Uhr morgens. Nichts konnte ihn aufhalten. Senioren neigen zu Imperativen dieser Art. Mit dem Flieger müsste man zudem noch einen Leihwagen nehmen in Nizza oder Marseille und das wäre alles zu lästig. Oder, noch schlimmer, man müsste sich abholen lassen. Senioren wollen vor allem niemandem zur Last fallen. Wenn er dann schon mal mit dem Auto kam, immerhin gut 1.600 Kilometer in vierzehn Stunden, blieb er gerne auch ein bisschen länger. Zwei, drei Wochen. Ich kann mich dann ja auch um die Küche kümmern, sagte er. Er kümmert sich gerne um die Küche, einschließlich marché, poissonnerie, fromagerie. Haben wir alles im Dorf. Südfrankreich eben. Früher, wenn er sich nicht um die Küche kümmerte, arbeitete er im Garten. Mein Schwiegervater ist Bildhauer. Der bedeutendste lebende Bildhauer Schleswig-Holsteins übrigens. Findet er nett, wenn man das sagt. Er ist bedeutendste lebende Bildhauer Schleswig-Holsteins. Bei uns im Garten entstanden unter Kettensäge, Stecheisen und Winkelschleifer zahlreiche Skulpturen in Zeder, Zypresse, Akazie und Pinie. Über Wochen profitierte das ganze Viertel vom würzigen Aroma mediterraner Hölzer. Um den Staub kümmerte sich die Putzfrau.
Manchmal kam auch die Schwiegermutter, vor allem als die Kinder noch kleiner waren. Gerne auch sie alleine und lieber im Sommer. Was uns auch entgegenkam, irgendwie. Ersparte uns Aupair-Mädchen und andere abgründige Betreuungsmaßnahmen. Ich schicke euch dann mal Mutter, sagte der Schwiegervater dazu. Drei, vier Wochen. Damit sich’s auch lohnt. Sie kann euch ja dann auch in der Küche helfen. Die Schwiegermutter nahm gerne den Flieger, wir holten sie in Marseille oder Nizza ab. Kleines Gepäck. Wenn ich was vergesse, kann ich mir das ja bei Intermarché oder Carrefour holen, sagte sie. Sie half auch gerne in der Küche. Nudeln mit Tomatensoße, Pfannkuchen mit Nutella, Fischstäbchen mit Kartoffelpüree. Dazu Bespaßung. Marineland, Aqualand, MacDonald’s.
Der Schwiegervater bringt ein Paar kunstinteressierter Freunde mit. Er wird ihnen die Sehenswürdigkeiten der Umgebung zeigen, wahrscheinlich das eine oder andere Museum. Sie werden zweifelsohne auf Hafenpromenaden zu Mittag essen und exzessive Einkäufe tätigen auf dem Markt, bei der Fischfrau und dem Käsespezialisten. Südfrankreich eben. Blauer Himmel im tiefsten Winter. Das Regengrau zuhause nur in der Wetter-App. Kinder, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr’s hier habt. Wenn ich von der Arbeit zurückkomme, werden sie sich um die abendliche Kulinarik gekümmert haben. Punktgenau um sieben à table. Keine mediterranen Anwandlungen bitte, preussische Gene lassen da keinen Verhandlungsspielraum zu. Imperativ. Meines Schwiegervaters Fischsuppe mit handverlesenen Zutaten ist ganz exquisit. Zum Jahreswechsel wird es Austern geben und andere fruits de mer. Meine Tochter wird sich diesbezüglich unzufrieden zeigen. Zu ihrem Geburtstag hätte sie sich Raclette gewünscht oder Käsefondue. Egal, die Tochter findet immer was zu kritisieren.
Vor dem Countdown auf 2017 zwei, drei Mal Dinner for One auf verschiedenen Sendern. Ein Muss. Same procedure as every year.
© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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