Yühtüb

18. Dezember 2017 Von Bertram Diehl

Deutsch­land­reise. Nicht mehr lange bis zur Wahl. Pla­kate allent­hal­ben. Angela natür­lich und Mar­tin. Der sollte sich mal rasie­ren, sagen die Kin­der. Die loka­len Reprä­sen­tan­ten dazu. Man­che Por­träts auf den Pla­ka­ten in schwarz-weiß. Auch unra­siert. Dazu gelb auf rosa: FDP. Fin­den die Kin­der zum Brül­len komisch. Den soll man wäh­len? FDP? Papa ver­steht mal wie­der nichts. Erklärt, die FDP sei eben auch so eine Par­tei, die man in Deutsch­land wäh­len könnte. Wofür die Buch­sta­ben ste­hen, inters­siert die Kin­der schon gar nicht mehr. Ja, ja, schon gut, aber doch nicht FDP! Weißt du nicht, was das heißt? Papa weiß es nicht. Wahr­schein­lich eines die­ser Kür­zel, die die Kin­der so gerne ver­wen­den, lol und mdr kenne ich. FDP, klä­ren mich die Kin­der auf, steht für fils de pute. Stimmt, in Frank­reich ginge das gar nicht.

Rosa rosa rosam

Auf dem Weg zur Schule. Latein. Meine Toch­ter hat jetzt auch Latein. Ein Test. Sie übt noch mal schnell die A-Dekli­na­tion. Rosa rosa rosam. An diese Rei­hen­folge konnte ich mich beim ers­ten Sohn nur schwer gewöh­nen. Eigent­lich rosa rosae rosae. Fran­zo­sen machen gerne alles anders als alle ande­ren. Sogar Latein. Andere Rei­hen­folge der Fälle als die Deut­schen. Immer­hin bleibt der Nomi­na­tiv an ers­ter Stelle. Danach Kraut und Rüben. Als zwei­tes der Voka­tiv. Statt des Gene­tivs. Der Gene­tiv wird stief­kind­lich behan­delt, fin­det sich erst an vier­ter Stelle. Liegt viel­leicht daran, dass sie in ihrer Mut­ter­spra­che schon ohne Gene­tiv aus­kom­men müs­sen, statt von Papas Ham­mer von le mar­teau de papa, dem Ham­mer von Papa, reden müs­sen. Ist für mein Sprach­ge­fühl fast so ele­gant wie dem Papa sein Ham­mer. Ver­mut­lich eine Frage der Gewöh­nung. Andere roma­ni­sche Spra­chen müs­sen auch ohne Geni­tiv aus­kom­men.

Rosae rosae rosa

Meine Toch­ter mag Latein gar nicht, nimmt da kein Blatt vor den Mund. La pure merde sagt sie. Weil das nichts bringt. Was soll eine tote Spra­che schon brin­gen? Auch wenn die Brü­der schon Latein machen muss­ten. Der Eltern wegen. Weil das sehr wohl was bringt. Für das Sprach­ver­ständ­nis, den Sprach­er­werb, den Wort­schatz. Die All­ge­mein­bil­dung. Hat's uns etwa gescha­det? Sagen die Eltern.

Rosae rosae rosas rosarum rosis rosis

Die Brü­der konn­ten in der Tat auch wenig Begeis­te­rung auf­brin­gen für Latein. Hiel­ten sich aber zurück mit so kras­sem Kom­men­tar. Die Leh­rer geben sich ande­rer­seits große Mühe, ihrem unbe­lieb­ten Fach inter­es­sante Aspekte zu ver­lei­hen. Klas­sen­rei­sen zum Bei­spiel nach Rom, Nea­pel, Pom­peji. Auch die Reise des Sohns nach Grie­chen­land – Athen, Del­phi, Olym­pia – im nächs­ten Früh­jahr fin­det im Rah­men des Latein­un­ter­richts statt. Zehn Tage im Bus. Immer­hin. Ein Sohn durfte über Jahre Filme gucken, die im wei­tes­ten Sinne was mit der Spra­che zu tun hat­ten. Klas­si­ker wie Ben Hur. Wahr­schein­lich auch die Auf­nahme mit Jac­ques Brel. Der Voll­stän­dig­keit hal­ber. Aber das ist schon fast so schlimm wie Oper. Ich glaube nicht, dass er über rosa rosa rosam hin­aus­ge­hende Sprach­kennt­nisse erwer­ben konnte. Egal.

Hast du gehört, was der gesagt hat?

Er hat was gesagt, rich­tig. Ich habe nicht zuge­hört. Nein, was denn?

Der hat twenty one pilot gesagt.

Ja, und?

Mor­gens auf dem Weg zur Schule. Wir hören mis­tral fm, Lokal­sen­der von Tou­lon. Von sechs bis neun wird "La Mati­nale" mode­riert von zwei Spre­chern, weib­lich und männ­lich, ich nenne sie mal Manon und Livio. Wahr­schein­lich haben sie auch wirk­li­che Namen, wahr­schein­lich stel­len sie sich auch irgend­wann vor, um sechs Uhr mor­gens ver­mut­lich. Vor dem Kaf­fee kann ich aber noch kein Radio mit impe­ra­tiv guter Laune aus­hal­ten. Ich höre mis­tral fm ohne­hin nur mit den Kin­dern im Auto und nur, wenn sie dar­auf bestehen. Wenn ich mit den Kin­dern mor­gens mis­tral fm höre, ist Manon zustän­dig für den Ver­kehrs­über­blick – Stau über­all, inten­si­ver Pend­ler­ver­kehr in die Groß­stadt eben, immer das Glei­che – und das Horo­skop, auch immer das Glei­che irgend­wie. Livio erzählt Neues aus der Welt der Pie­pöhl – er meint people, also VIPs, Hol­ly­wood­grö­ßen und ein­hei­mi­sche Pro­mi­nenz – sowie lus­tige Anek­do­ten, die er ver­mut­lich bei yahoo oder face­book auf­ge­schnappt hat. Manon lacht dazu gerne ein rau­chi­ges Lachen, kom­men­tiert wahn­sin­nig amü­sant und unglaub­lich inspi­riert. Manon sollte ein­fach beim Lachen blei­ben. Noch bes­ser wäre, wenn Livio ein­fach die Klappe hal­ten könnte.

Der hat pilot [pi:lot] gesagt. Mit I!

Mein Sohn gibt sich empört, ich ver­stehe nicht, warum. Na, und?

Twenty One Pilots ist eine eng­li­sche Gruppe. Man sagt [ˈpaɪləts].

Nous som­mes en France, fis­ton. Fran­zo­sen dür­fen das doch.

Wie­der im Auto. Mit der Toch­ter. Auf der vier­spu­ri­gen Aus­fall­straße – Ave­nue de la Paix – west­wärts Rich­tung Car­re­four, Ikea und Déc­a­th­lon ist die Geschwin­dig­keit auf fünf­zig Stun­den­ki­lo­me­ter begrenzt. Solar­be­trie­bene Mess­ge­räte zei­gen die tat­säch­lich gefah­rene Geschwin­dig­keit an. Grü­nes Smi­ley und "Merci" oder rot und die Dro­hung mit Punkt­ver­lust. Wer ohne Punkt­ver­lust fah­ren will, nimmt jede Ampel mit. Sechs Mal rot auf einem knap­pen Kilo­me­ter. Das nervt. Nur Fahr­schu­len fah­ren hier fünf­zig. Manch­mal reicht's trotz­dem nicht. Der eilige Hand­wer­ker im wei­ßen Kas­ten­wa­gen muss bei Rot über die Ampel. Egal. Fällt aber auch mei­ner Toch­ter auf.

T'as vu ce thug?

Meine Toch­ter sagt "tög". Klingt wie "bög". Die Ein­hei­mi­schen ken­nen den "bög" seit dem Ende des letz­ten Jahr­tau­sends. Den mil­le­nium bug haben die Fran­zo­sen von den Amis über­nom­men. Nicht nur sprach­lich. Immer, wenn was nicht nicht funk­tio­niert, ist es ein bög. Geht auch als Verb. Ça a bugué (oder beu­gué), da ist was schief gegan­gen. Den thug kannte ich nicht.

Was ist ein tög?

Un voyou, ein Gau­ner. Meine Toch­ter ant­wor­tet prin­zi­pi­ell auf Fran­zö­sisch.

Und woher kennst du das?

De quelqu'un chez you­tube, von jeman­dem bei You­tube. Wahr­schein­lich von einem fran­zö­si­schen you­tuber mit Mil­lio­nen von Abon­nen­ten. Squee­zie, Nor­man oder Cyprien. Meine Toch­ter sagt Yühtüb. Geht natür­lich gar nicht. Nicht mal nach den gän­gi­gen fran­zö­si­schen Regel zur Aus­spra­che geht das, ou ist u.

You­tube ist eng­lisch, kläre ich die Toch­ter auf, man sagt [ˈjuːˌt­juːb].

Tu peux le dire comme tu veux. Moi, je suis française. Et en France on dit Yühtüb.

Voilà. Ende der Dis­kus­sion.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.