Yühtüb

Deutschlandreise. Nicht mehr lange bis zur Wahl. Plakate allenthalben. Angela natürlich und Martin. Der sollte sich mal rasieren, sagen die Kinder. Die lokalen Repräsentanten dazu. Manche Porträts auf den Plakaten in schwarz-weiß. Auch unrasiert. Dazu gelb auf rosa: FDP. Finden die Kinder zum Brüllen komisch. Den soll man wählen? FDP? Papa versteht mal wieder nichts. Erklärt, die FDP sei eben auch so eine Partei, die man in Deutschland wählen könnte. Wofür die Buchstaben stehen, interssiert die Kinder schon gar nicht mehr. Ja, ja, schon gut, aber doch nicht FDP! Weißt du nicht, was das heißt? Papa weiß es nicht. Wahrscheinlich eines dieser Kürzel, die die Kinder so gerne verwenden, lol und mdr kenne ich. FDP, klären mich die Kinder auf, steht für fils de pute. Stimmt, in Frankreich ginge das gar nicht.

Rosa rosa rosam

Auf dem Weg zur Schule. Latein. Meine Tochter hat jetzt auch Latein. Ein Test. Sie übt noch mal schnell die A-Deklination. Rosa rosa rosam. An diese Reihenfolge konnte ich mich beim ersten Sohn nur schwer gewöhnen. Eigentlich rosa rosae rosae. Franzosen machen gerne alles anders als alle anderen. Sogar Latein. Andere Reihenfolge der Fälle als die Deutschen. Immerhin bleibt der Nominativ an erster Stelle. Danach Kraut und Rüben. Als zweites der Vokativ. Statt des Genetivs. Der Genetiv wird stiefkindlich behandelt, findet sich erst an vierter Stelle. Liegt vielleicht daran, dass sie in ihrer Muttersprache schon ohne Genetiv auskommen müssen, statt von Papas Hammer von le marteau de papa, dem Hammer von Papa, reden müssen. Ist für mein Sprachgefühl fast so elegant wie dem Papa sein Hammer. Vermutlich eine Frage der Gewöhnung. Andere romanische Sprachen müssen auch ohne Genitiv auskommen.

Rosae rosae rosa

Meine Tochter mag Latein gar nicht, nimmt da kein Blatt vor den Mund. La pure merde sagt sie. Weil das nichts bringt. Was soll eine tote Sprache schon bringen? Auch wenn die Brüder schon Latein machen mussten. Der Eltern wegen. Weil das sehr wohl was bringt. Für das Sprachverständnis, den Spracherwerb, den Wortschatz. Die Allgemeinbildung. Hat’s uns etwa geschadet? Sagen die Eltern.

Rosae rosae rosas rosarum rosis rosis

Die Brüder konnten in der Tat auch wenig Begeisterung aufbringen für Latein. Hielten sich aber zurück mit so krassem Kommentar. Die Lehrer geben sich andererseits große Mühe, ihrem unbeliebten Fach interessante Aspekte zu verleihen. Klassenreisen zum Beispiel nach Rom, Neapel, Pompeji. Auch die Reise des Sohns nach Griechenland – Athen, Delphi, Olympia – im nächsten Frühjahr findet im Rahmen des Lateinunterrichts statt. Zehn Tage im Bus. Immerhin. Ein Sohn durfte über Jahre Filme gucken, die im weitesten Sinne was mit der Sprache zu tun hatten. Klassiker wie Ben Hur. Wahrscheinlich auch die Aufnahme mit Jacques Brel. Der Vollständigkeit halber. Aber das ist schon fast so schlimm wie Oper. Ich glaube nicht, dass er über rosa rosa rosam hinausgehende Sprachkenntnisse erwerben konnte. Egal.

Hast du gehört, was der gesagt hat?

Er hat was gesagt, richtig. Ich habe nicht zugehört. Nein, was denn?

Der hat twenty one pilot gesagt.

Ja, und?

Morgens auf dem Weg zur Schule. Wir hören mistral fm, Lokalsender von Toulon. Von sechs bis neun wird “La Matinale” moderiert von zwei Sprechern, weiblich und männlich, ich nenne sie mal Manon und Livio. Wahrscheinlich haben sie auch wirkliche Namen, wahrscheinlich stellen sie sich auch irgendwann vor, um sechs Uhr morgens vermutlich. Vor dem Kaffee kann ich aber noch kein Radio mit imperativ guter Laune aushalten. Ich höre mistral fm ohnehin nur mit den Kindern im Auto und nur, wenn sie darauf bestehen. Wenn ich mit den Kindern morgens mistral fm höre, ist Manon zuständig für den Verkehrsüberblick – Stau überall, intensiver Pendlerverkehr in die Großstadt eben, immer das Gleiche – und das Horoskop, auch immer das Gleiche irgendwie. Livio erzählt Neues aus der Welt der Piepöhl – er meint people, also VIPs, Hollywoodgrößen und einheimische Prominenz – sowie lustige Anekdoten, die er vermutlich bei yahoo oder facebook aufgeschnappt hat. Manon lacht dazu gerne ein rauchiges Lachen, kommentiert wahnsinnig amüsant und unglaublich inspiriert. Manon sollte einfach beim Lachen bleiben. Noch besser wäre, wenn Livio einfach die Klappe halten könnte.

Der hat pilot [pi:lot] gesagt. Mit I!

Mein Sohn gibt sich empört, ich verstehe nicht, warum. Na, und?

Twenty One Pilots ist eine englische Gruppe. Man sagt [ˈpaɪləts].

Nous sommes en France, fiston. Franzosen dürfen das doch.

Wieder im Auto. Mit der Tochter. Auf der vierspurigen Ausfallstraße – Avenue de la Paix – westwärts Richtung Carrefour, Ikea und Décathlon ist die Geschwindigkeit auf fünfzig Stundenkilometer begrenzt. Solarbetriebene Messgeräte zeigen die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit an. Grünes Smiley und “Merci” oder rot und die Drohung mit Punktverlust. Wer ohne Punktverlust fahren will, nimmt jede Ampel mit. Sechs Mal rot auf einem knappen Kilometer. Das nervt. Nur Fahrschulen fahren hier fünfzig. Manchmal reicht’s trotzdem nicht. Der eilige Handwerker im weißen Kastenwagen muss bei Rot über die Ampel. Egal. Fällt aber auch meiner Tochter auf.

T’as vu ce thug?

Meine Tochter sagt “tög”. Klingt wie “bög”. Die Einheimischen kennen den “bög” seit dem Ende des letzten Jahrtausends. Den millenium bug haben die Franzosen von den Amis übernommen. Nicht nur sprachlich. Immer, wenn was nicht nicht funktioniert, ist es ein bög. Geht auch als Verb. Ça a bugué (oder beugué), da ist was schief gegangen. Den thug kannte ich nicht.

Was ist ein tög?

Un voyou, ein Gauner. Meine Tochter antwortet prinzipiell auf Französisch.

Und woher kennst du das?

De quelqu’un chez youtube, von jemandem bei Youtube. Wahrscheinlich von einem französischen youtuber mit Millionen von Abonnenten. Squeezie, Norman oder Cyprien. Meine Tochter sagt Yühtüb. Geht natürlich gar nicht. Nicht mal nach den gängigen französischen Regel zur Aussprache geht das, ou ist u.

Youtube ist englisch, kläre ich die Tochter auf, man sagt [ˈjuːˌtjuːb].

Tu peux le dire comme tu veux. Moi, je suis française. Et en France on dit Yühtüb.

Voilà. Ende der Diskussion.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.