Schweinehunde

Über den Win­ter hat sich ein gan­zes Rudel inne­rer Schwei­ne­hunde gegen mein Fahr­rad ange­sam­melt. Der Wind an sich, der Wind aus der fal­schen Rich­tung, die Kälte, die Nässe, die Wol­ken, die Regen­wahr­schein­lich­keit. Dazu die übli­chen Schwei­ne­hunde, die immer funk­tio­nie­ren. Der leere Kühl­schrank, zu wenig Kat­zen­fut­ter, der fast ver­stopfte Ablauf der Bade­wanne. Sowas. Wenn es ein Argu­ment gegen ein, zwei Stun­den Rad­fah­ren zu fin­den galt, fand sich auch eins.

Zur Not Stella.

2:16 Uhr das Tele­fon. Stella. Stella, la sage-femme, die Heb­amme. Braucht eine Péri­du­rale für eine Dritt­ge­bä­rende bei fünf Zen­ti­me­tern. Stella bezeich­net sich selbst als chat noir, als jeman­den, der Unglück irgend­wie anzu­zie­hen scheint. Wenn Stella im Kreiss­saal ist, geht immer, na ja, oft was schief. Okay, keine beun­ru­hi­gen­den Ein­zel­hei­ten an die­ser Stelle. Auch im Kreiss­saal kann eben immer wie­der mal was schief­ge­hen. Orga­ni­sa­to­risch, mensch­lich, medi­zi­nisch. Acht Minu­ten spä­ter schon, 2:24 Uhr, finde ich Stella in Saal 4. Der Mut­ter­mund mitt­ler­weile voll­stän­dig eröff­net. Typisch Stella. Eigent­lich zu spät für eine Péri­du­rale. Wie lange es wohl noch dau­ern würde, bis das Kind da sei? Na ja, eine halbe Stunde bestimmt viel­leicht schon noch. Bis die Péri­du­rale fer­tig ist und zu wir­ken beginnt, dau­ert es etwa zwan­zig Minu­ten.

Cap Garonne ist eine Wohn­lage wie Cap Fer­rat in Nizza, Pam­pe­lonne bei Saint-Tro­pez oder Cap Bénat bei Le Lavan­dou. Das Meer in Sicht­weite, Aus­sicht bis Kor­sika, woh­nen Leute – oder kom­men übers Wochen­ende – in Anwe­sen deut­lich jen­seits der Mil­lio­nen­grenze. Bei­la­gen von Hoch­glanz­ma­ga­zi­nen bie­ten sowas an. Drei Mil­lio­nen auf­wärts. Video­über­wa­chung, Pfört­ner, Zugangs­kon­trolle. Rie­sige Ter­ras­sen, Pools, deren blauer Hori­zont mit dem Him­mel ver­schmilzt. Im Fuhr­park eli­täre Roads­ter ohne Dach und rie­sige All­rad­schiffe, viel zu groß für die schma­len Stra­ßen. Am einem Don­ners­tag­mor­gen nach Stella mit­ten in der Nacht sind hier nur weiße Kas­ten­wa­gen unter­wegs, Klemp­ner, Gla­ser, Schlüs­sel­dienste. Auch in der Hoch­glan­z­im­mo­bi­lie geht mal eine Scheibe kaputt, ist mal ein Klo ver­stopft, hat der Nach­wuchs den Code der Alarm­an­lage ver­stellt. Sans faire exprès natür­lich. Warum sollte hier irgend­et­was anders sein als bei nor­ma­len Leu­ten?

Ob sie wirk­lich all die Risi­ken in Kauf neh­men möchte? Für zehn Minu­ten weni­ger Schmerz viel­leicht? – Wel­che Risi­ken? – Na ja, auch eine Péri­du­rale kann töd­li­che Kom­pli­ka­tio­nen mit sich brin­gen. Für Sie oder ihr Baby. So ist das eben in der Medi­zin. Oder Sie in den Roll­stuhl brin­gen. Das war ein biss­chen unfair, ich weiß. Das Glei­che sage ich den wer­den­den Müt­tern in der nor­ma­len Sprech­stunde zwar auch, gehört zur Risi­ko­auf­klä­rung, aber rela­ti­viere diese Risi­ken im glei­chen Atem­zug als heut­zu­tage eher theo­re­tisch.

Vor ein paar Jah­ren, ich kann mich noch prä­zise an den Abschnitt erin­nern, wurde ich von der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin über­holt. In einer Stei­gung. Mor­gens um zehn nach acht. Sie hatte ihr Töch­ter­chen dabei, blond gelockt und in Rosa. Im Anhän­ger. Wahr­schein­lich auf dem Weg in die École mater­nelle. Beide lächel­ten und nick­ten mir auf­mun­ternd zu. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, auch nur dran zu blei­ben. Spä­ter fragte ich mich, ob das Fahr­rad der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin nicht doch mit Bat­te­rie und Motor getunt war.

Die Dritt­ge­bä­rende will es nachts um halb drei unter der Vor­stel­lung nicht uner­heb­li­cher Risi­ken doch lie­ber mit ange­pass­ter Atem­tech­nik zu Ende brin­gen. Muss sich eben Stella mehr bemü­hen. Und kann nicht mehr als Schwei­ne­hund her­hal­ten.

Auf mei­ner Stre­cke über Cap Garonne, gemä­ßigt berg­auf und bergab, gesperrt außer für Anlie­ger und Rad­fah­rer, zwi­schen Pinien, Fel­sen, Man­del­bäu­men, Oli­ven und Fei­gen, gele­gent­lich eilige Kas­ten­wa­gen von vorne oder hin­ten, gibt es, abseits der abge­rie­gel­ten Wohn­be­zirke, zwi­schen ver­wil­der­ten Wein­stö­cken und ein­ge­fal­le­nen Gewächs­häu­sern, noch ursprüng­li­che Häus­chen in Bruch­stein. Man­che mit erheb­li­chem Reno­vie­rungs­be­darf. Aber mit vue mer. Spä­ter, wenn ich mal älter bin, wenn die Kin­der mal nicht mehr zuhause woh­nen und nur alle halbe Jahre für ein Wochen­ende zu Besuch kom­men, reicht mir auch sowas. Von mei­ner Ter­rasse aus kann man das Meer hören, sehen und rie­chen. Am Hori­zont die Fäh­ren nach Kor­sika, Sar­di­nien und Rom, manch­mal die Charles-de-Gaulle. Im Kühl­schrank immer ein Vor­rat von ein paar Fla­schen Rosé. Für die Enkel ein Matrat­zen­la­ger unter dem Dach, zur Abküh­lung reicht der Brun­nen im Gar­ten.

Für mich ein Fahr­rad mit Elek­tro­un­ter­stüt­zung.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Dienst

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Du woll­test doch immer schon mal mein Kran­ken­haus sehen und was ich so mache den gan­zen Tag. Heute, Sams­tag, habe ich Dienst. Du kommst ein­fach mal mit und guckst mir bei der Arbeit zu.

Sie­ben Uhr muß ich auf­ste­hen. Kaf­fee, Dusche.

Acht Uhr der Anruf bei der Heb­amme im Kreiß­saal. Habt ihr was für mich, eine Péri­du­rale am Lau­fen? Wenn eine Péri­du­rale aktiv ist, muß ich auf halb neun dort sein. Ablö­sung des Kol­le­gen. Die Ablö­sung um spä­tes­tens halb neun an den Wochen­end­ta­gen neh­men alle Kol­le­gen sehr genau. Sonst kommt es fünf oder zehn Minu­ten mehr oder weni­ger nicht an, am Wochen­ende aber zählt jede Minute. Halb neun. Wenn nichts zu tun ist, geht der Kol­lege ein­fach und ich kann zuhause war­ten, bis die Heb­amme doch was hat für mich oder einer der Chir­ur­gen. Meis­tens steht eine kaputte Hüfte auf dem Pro­gramm oder zumin­dest ein Hand­ge­lenk. Das ist aber nor­ma­ler­weise nicht eilig. Die Chir­ur­gen kom­men erst gegen halb zehn ins Kran­ken­haus. Man darf ja nicht ver­ges­sen, wo wir hier sind. Süd­frank­reich. Keine Péri­du­rale im Moment. Lege ich mich noch­mal ins Bett und höre dem Regen zu. Seit wir das Dach neu gedeckt haben vor ein paar Jah­ren und ich nicht mehr mit Eimern und Schüs­seln die gröbs­ten Lecks abfan­gen muß, kann ich den Regen drau­ßen genie­ßen. Es gibt kaum was Schö­ne­res.

Kann ich auch noch mit den Kin­dern früh­stü­cken. Auch schön. Meine Frau früh­stückt nicht. Bekommt Ihre Zei­tung ans Bett und einen klei­nen Kaf­fee. Es ist Sams­tag, immer­hin.

Bis der Anruf kommt. 09:47 Uhr. Logisch. Es war eine Frage der Zeit. Boris­lav, der Bul­gare. Die eine Pati­en­tin, die er eigent­lich heute Mor­gen ope­rie­ren wollte, hat fälsch­li­cher­weise ein Früh­stück bekom­men um halb acht, aber er hat noch eine andere auf Lager. Ist heute Nacht gekom­men, auch der Ober­schen­kel. Die ihrer­seits ist nüch­tern. Wir ver­ab­re­den uns auf halb elf. Erst die zweite, danach die andere, die eigent­lich erste. Bis zum frü­hen Nach­mit­tag gilt die wie­der als nüch­tern und damit als nar­ko­se­fä­hig.

Um zehn Uhr müs­sen wir los. Das Kran­ken­haus ist über die Auto­bahn zwölf Minu­ten von zuhause ent­fernt, über die Natio­nal­straße sieb­zehn. Meis­tens nehme ich die Auto­bahn. Die letzte Aus­fahrt vor Hyè­res. Man sieht das Gebäude links hin­ter einer Bam­bus­he­cke, umge­ben von neuen Sied­lun­gen. Es wirkt trotz sei­ner vier Eta­gen eher geduckt. Oliv­grüne Fas­sade oben und ein rie­si­ger Funk­mast auf dem Dach.

Mein Kran­ken­haus hat nichts zum Vor­zei­gen. Alles ist ganz klein und eher schä­big. Die dop­pelte Schie­be­tür am Haupt­ein­gang ist die ein­zige auto­ma­ti­sche Tür im gan­zen Haus. Es gibt kein Kran­ken­haus-Café, nicht mal eine reprä­sen­ta­tive Ein­gangs­halle. Kein Gra­nit auf dem Boden, nur Lin­oleum-Imi­tat mit Löchern an den Näh­ten. Keine Kunst an den Wän­den. Ein paar immer­grüne Plas­tik­pflan­zen. Die Tele­fon­zen­trale sitzt hin­ter einer Glas­scheibe links neben dem Ein­gang. Bon­jour Patri­cia! Patri­cia ist immer über­aus feund­lich und hat immer Zeit zum Plau­dern. Manch­mal dau­ert es Stun­den, bis sie end­lich ans Tele­fon geht. Ein Stück wei­ter der Kiosk. Ein Schau­fens­ter mit Spiel­zeug, ein paar Zei­tun­gen. Hier bekom­men die Pati­en­ten die Fern­steue­rung für die Glotze in ihrem Zim­mer. Von neun bis zwölf und von vier­zehn bis neun­zehn Uhr. Am Wochen­ende nur vor­mit­tags. Ansons­ten eben Pech gehabt.

Es gibt zwei Auf­züge bis in die vierte Etage, Päd­ia­trie, und ein Trep­pen­haus. Das Trep­pen­haus ist hin­ter einer der blaß­grü­nen Sperr­holz­tü­ren rechts der Auf­züge ver­steckt. Manch­mal wird die Tür genau in dem Moment auf­ge­sto­ßen, in dem man die Hand zum Griff aus­streckt. Das kann schmerz­haft sein. In der ers­ten Etage gelangt man durch wei­tere Sperr­holz­tü­ren, alle im glei­chen Blaß­grün auf den Flur zu den Urgen­ces und zum OP. Meine Tür ist die zweite links. Bloc opé­ra­toire steht drauf und Endo­scopies. Auch Sperr­holz. Die Plas­tik­plat­ten zum Stoß­fang sind an den Rän­dern abge­split­tert. Dar­un­ter tre­ten braune Kleb­stoff­stri­che zutage. Ja, tut mir leid, es wirkt alles ein biß­chen wie Dritte Welt. Stammt aus den acht­zi­ger Jah­ren. Dem Kran­ken­haus geht es wirt­schaft­lich nicht so gut. Drei Mil­lio­nen Defi­zit. Für ernst­hafte Reno­vie­rung reicht es eben nicht. Das Schloss hakt ein biß­chen und die bei­den Flü­gel rei­ben sich anein­an­der. Dahin­ter ist noch alles dun­kel. Wir sind die Ers­ten.

Ja, und das ist mein Büro. Nein, kein Fens­ter. Und nein, ich habe mir die­ses Hell­grau an den Wän­den nicht aus­ge­sucht. Man dachte wohl, das würde gut zum Grau der Stahl­schränke pas­sen. Keine Bil­der. Doch, die Prin­zes­sin da. Ist von mei­ner Toch­ter. Ich habe direkt nach dem Umbau vor ein paar Jah­ren ein paar Hand­tü­cher in den Aus­lass der Kli­ma­an­lage gestopft, sonst wäre es nicht nur grau hier, son­dern auch noch sibi­risch kalt und zugig. Hier kannst du dich in OP-Grün ver­klei­den und dir einen wei­ßen Kit­tel über­wer­fen. Ich muß der Pati­en­tin für die Pro­these noch Hallo sagen. Ich habe meine Arzt­kit­tel aus Deutsch­land mit­ge­bracht, so Kit­tel, wie sie in Deutsch­land eben üblich sind. Hier gibt es nur "blou­ses", eine Art Hem­den mit Druck­knöp­fen. Ursprüng­lich weiß, neh­men sie nach ein paar Durch­gän­gen Wäsche­rei einen dezen­ten Gelb­ton an. Und haben vor allem nur ein klei­nes Täsch­chen rechts. Nicht genug Platz für Ste­tho­skop, Kugel­schrei­ber und Tele­fon. Wenn das Tele­fon klin­gelt, bekommt man es nor­ma­ler­weise nicht frei, bevor die Mess­a­ge­rie anspricht. Blö­des, uncoo­les Gezerre. Meist fällt außer­dem der Kuli. Wenn man das Ste­tho­skop braucht, kommt das Tele­fon gleich mit und geht zu Boden. Auch läs­tig. Meine Kit­tel aus Deutsch­land haben rich­tige Taschen. Eine für das Ste­tho­skop, eine für das Tele­fon, eine für den Kuli.

Bon­jour Madame. – Häh? – BONJOUR MADAME! Madame S. ist über neun­zig Jahre alt. Und schwer­hö­rig. Sie müs­sen ein biß­chen näher kom­men, weil ich schwer­hö­rig bin. Sie ist mit Ope­ra­tion und Nar­kose ein­ver­stan­den. Tout va bien se pas­ser. Das wird schon gut­ge­hen. – Häh? – TOUT VA BIEN SE PASSER!

Vier­tel nach zehn ist Chris­tine auch schon da. Chris­tine ist die Anäs­the­sie­schwes­ter für das ganze Wochen­ende. Sie hatte einen sehr ange­neh­men Frei­tag Abend – sehr ange­nehm – und lächelt noch, immer noch. Wenn ich sie heute Nacht um halb drei zum Kai­ser­schnitt kom­men las­sen muß, wird sie nicht mehr lächeln. Wir hof­fen das Beste, so schlimm wird es schon nicht kom­men. Die zwei OP-Schwes­tern und die Putz­frau las­sen auch nicht mehr lange auf sich war­ten. Nur Boris­lav ist noch nicht da. Mit oder ohne Zucker den Kaf­fee?

Und dann wird es ein biß­chen lang­wei­lig. Nach der ers­ten Hüfte Imbiß für alle. Ist ja schon halb eins inzwi­schen. Fran­zo­sen essen zwi­schen zwölf und zwei. Immer. Auch wenn ihnen der Him­mel auf den Kopf zu fal­len droht. Dann der andere kaputte Ober­schen­kel. Die Pati­en­tin ist inzwi­schen wie­der nüch­tern. Zwi­schen­durch ein Kai­ser­schnitt, Code rouge. Rot heißt, es muß ganz schnell gehen, weil es dem Kind mut­maß­lich ganz schlecht geht. Bei Soraya, der Gynä­ko­lo­gin sind alle Kai­ser­schnitte rote Kai­ser­schnitte, glü­hend rot. Das macht sie ein biß­chen unglaub­wür­dig. Auch heute hätte orange gereicht.

Wenn du dich lang­weilst, kannst du übri­gens den ande­ren Com­pu­ter haben in mei­nem Büro. Gibt aller­dings kein Face­book oder you­tube bei uns. Ist gesperrt, weil die Leute sonst angeb­lich nicht zum Arbei­ten kämen. Glaubt die Direk­tion. Ebay funk­tio­niert.

Ab dem frü­hen Nach­mit­tag bin ich für unsere Sta­tion für Inter­me­diate Care zustän­dig. Der Kol­lege dort hat sich den Vor­mit­tag über um die Kran­ken geküm­mert, ist bis Mit­ter­nacht in Ruf­be­reit­schaft. Inter­me­diate Care ist die Sta­tion für ziem­lich kranke Pati­en­ten. Zu krank für eine Nor­mal­sta­tion, nicht krank genug aber für eine Inten­siv­sta­tion. Für die Inten­siv­sta­tion müß­ten sie in eines der gro­ßen Kran­ken­häu­ser nebenan ver­legt wer­den. Wich­tig ist, daß vor Mit­ter­nacht alle Bet­ten belegt sind. Nichts ist anstren­gen­der als eine Auf­nahme nach Mit­ter­nacht. Mei­nen – hof­fent­lich – abschlie­ßen­den Auf­tritt auf der Sta­tion habe ich da gegen halb zwölf. Letzte Abspra­chen mit dem Pfle­ge­per­so­nal, was in wel­chen Fäl­len zu tun sei. Was gegen Schmer­zen und vor allem was gegen Unruhe. Die Schwes­tern von Inter­me­diate Care essen gegen Mit­ter­nacht. Da wol­len sie nicht gestört wer­den.

Du willst ohne­hin nicht über Nacht blei­ben? Jetzt nach Hause? Stimmt, ist schon spät. Ich sage den Heb­am­men noch gute Nacht und ver­schwinde dann auch in mei­nem Dienst­zim­mer.

Schade, daß es nicht mehr reg­net.

p.s.:

habe ich ver­linkt bei "WMDEDGT", steht für Was Machst Du Eigent­lich Den Ganzen Tag. Immer zum Fünf­ten des Monats. Würde "traf­fic" auf die eigene Seite brin­gen, dachte ich mir. Und Ein­sicht in den einen oder ande­ren inter­es­san­ten Blog. Stimmt bei­des. Traf­fic und Ein­sicht.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Harissa

3:06 Uhr die sage-femme. Petite primi deman­de­use d’une péri­du­rale. Bis dahin Voll­mond­nacht. Erst zu lange im Inter­net. ZEIT vor­wie­gend und SPIEGEL. Ich lese sogar Bei­träge wie "Frauen sind auch nur Män­ner". 57 Pro­zent der Män­ner gehen fremd. Zum Fremd­ge­hen gehö­ren meist auch Frauen. Logisch eigent­lich. Nur 47 Pro­zent geben es aber zu. Viel mehr aber wür­den mit dem Gedan­ken an einen Sei­ten­sprung spie­len. Fast alle eigent­lich. So wie Män­ner eben. Erzie­hung und soziale Kon­ven­tio­nen wür­den sie eher abhal­ten. Die Frauen eher abhal­ten als die Män­ner. Schreibt der SPIEGEL. Am Ende finde ich mich bei den Auto­nach­rich­ten bei Spie­gel. Häß­li­cher Protz-BMW mit fast sechs­hun­dert PS. Wenn ich bei den Auto­nach­rich­ten von SPIEGEL ONLINE ange­kom­men bin, weiß ich, daß ich reif bin fürs Bett. Auch wenn es erst neun Uhr abends ist.

Kurz noch über Mater­nité. Meine Péri­du­rale von kurz vor sie­ben Uhr abends bei acht Zen­ti­me­tern. Drei weib­li­che Heb­am­men, Céline, Cécile und noch eine, deren Name mir nicht ein­fällt. Irgend­was wie Harissa. Ist aber nicht Harissa. Die Frau hat ohne­hin über­haupt nicht nichts Schar­fes. Aber ich komme nicht auf den Namen. Bleibe an Harissa hän­gen. Maghre­bi­ni­scher Hin­ter­grund jeden­falls. Cécile hat ihre Lip­pen knall­rot gefärbt. Ist das gerade modern? Und sagt, sie müßte immer rülp­sen. Und zwar auf Berüh­rung am rech­ten Hand­ge­lenk. Aha. Streicht sich über das rechte Hand­ge­lenk und rülpst ein Rülp­ser­chen. Sehr inter­es­sant. Und gleich noch eins. Ist die Frau eines Gynä­ko­lo­gen, der bis vor einem Jahr bei uns war. Sie hat lange nicht gear­bei­tet wegen Fibro­my­al­gie. Sagte der Gatte damals. Bestä­tigt meine Vor­ur­teile gegen Leute mit Fibro­my­al­gie. Das ist eine Not­dia­gnose für Leute mit Knall. Drei Frauen also, es könnte schlim­mer gekom­men sein. Kein Phil­ippe, kein Jérôme. Auch nicht Marie oder Séverine.

Ab ins Bett. Noch was lesen. Ich habe "Kapu­zi­ner­gruft" von Joseph Roth ange­fan­gen. Gibt es für null Euro auf den kindle. Die Fort­set­zung zu "Radetz­ky­marsch". Schöne Spra­che, Anfang letz­tes Jahr­hun­dert. Öster­reich unter Franz Josef. Der Groß­va­ter ret­tet dem Kai­ser das Leben, wird dafür geadelt. Der Vater ange­se­he­ner Bezirks­haupt­meis­ter, der Sohn ver­sagt beim Mili­tär, obwohl der Groß­va­ter dem Kai­ser das Leben geret­tet hat, fällt in den frü­hen Tagen des ers­ten Welt­kriegs. Frauen spie­len nur gele­gent­lich eine Rolle. Schwa­che Gesund­heit, ster­ben früh.

Glas Rot­wein, Licht aus um halb elf. Das Glas Rot­wein soll gegen den Voll­mond im Kopf hel­fen. Voll­mond war vor­ges­tern. Manch­mal füh­len sich Nächte wie Voll­mond­nächte an. Im Dienst sowieso. Auch ohne wirk­li­chen Voll­mond.

Halb eins Voll­mond. Wach irgend­wie, aber ver­mut­lich sogar für ein Sudoku zu blöde im Kopf. Geschweige denn Joseph Roth. Wie Harissa wirk­lich heißt, fällt mir immer noch nicht ein. Wach irgend­wie, kei­nes wirk­li­chen Gedan­kens fähig. Som­n­o­lenz im Dun­keln. Mein Zweit­ge­bo­re­ner hatte ges­tern sei­nen neun­zehn­ten Geburts­tag. Hatte keine Wün­sche. Außer viel­leicht ein paar Hosen. Für seine Mut­ter ist ein Geburts­tag ohne Geschenke kein rich­ti­ger Geburts­tag. Ein paar Hosen also. Ein schö­ner Kugel­schrei­ber. Und ein Wecker. Super-Sonic oder so. Weil er noch immer nicht alleine aus dem Bett kommt. Na ja, ein­mal von zwan­zig viel­leicht. Jetzt hat er eine Maschine, mit der er das ganze Haus wach kriegt. Und die Nach­bar­schaft dazu ver­mut­lich. Er hat sich selbst einen Sta­pel Mathe­bü­cher von Ama­zon geschenkt. Übun­gen. Weil er so schlecht ist in Mathe. 6,7 im ers­ten Semes­ter. Und sich nicht hel­fen las­sen will. Zu stolz, zu cool. Ich kann ihm nicht hel­fen. Mathe war ich noch nie gut. Schon gar nicht auf die­sem Niveau. Und er will meine Rat­schläge zu punkt­ge­nauer Nach­hilfe nicht. Logisch. Hätte ich Rat­schläge von mei­nem Vater gewollt? Ich hätte mei­nem Vater nicht ein­mal zuge­hört. Ver­mut­lich hört mir mein Sohn auch nicht zu. Ich sehe ihn unter­ge­hen in sei­ner Prépa und kann ihm nicht hel­fen. Voll­mond.

Bis 3:06 Uhr. Nacima! Harissa ist Nacima. Petite primi deman­de­use d’une péri­du­rale. Die petite primi ist taub. Der Mann dazu auch. Des­we­gen hat Nacima die CTG-Maschine ganz laut gestellt. Die Primi und ihr Mann hören aber trotz­dem nichts. Kön­nen von den Lip­pen lesen. Weiß ich. Ich habe die ganze Fami­lie in den Con­sul­ta­ti­ons gese­hen. Mut­ter, Toch­ter, Schwie­ger­sohn. Alle taub. Dafür hat Nacima kein EKG ange­schlos­sen und kei­nen Blut­druck. Fällt mir aber auch erst nach der Test­do­sis auf. Voll­mond im Kopf.

Danach will Cécile eine petite péri­du­rale für ihre Primi in Salle une. Die Lip­pen sind inzwi­schen nicht mehr so rot. Ich bin ver­sucht, sie zu pro­vo­zie­ren wegen ihrer blö­den Bäu­er­chen vor­hin. Wel­che Art vis­ze­ra­ler Reflexe denn tak­tile Reize ihres lin­ken Hand­ge­lenks aus­lö­sen wür­den, zum Bei­spiel. Aber Cécile inter­es­siert mich dann doch viel zu wenig. Petite péri und zurück ins Bett.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr