Harissa

7. Februar 2015 Von Alleinerzieher

3:06 Uhr die sage-femme. Petite primi deman­de­use d’une péri­du­rale. Bis dahin Voll­mond­nacht. Erst zu lange im Inter­net. ZEIT vor­wie­gend und SPIEGEL. Ich lese sogar Bei­träge wie "Frauen sind auch nur Män­ner". 57 Pro­zent der Män­ner gehen fremd. Zum Fremd­ge­hen gehö­ren meist auch Frauen. Logisch eigent­lich. Nur 47 Pro­zent geben es aber zu. Viel mehr aber wür­den mit dem Gedan­ken an einen Sei­ten­sprung spie­len. Fast alle eigent­lich. So wie Män­ner eben. Erzie­hung und soziale Kon­ven­tio­nen wür­den sie eher abhal­ten. Die Frauen eher abhal­ten als die Män­ner. Schreibt der SPIEGEL. Am Ende finde ich mich bei den Auto­nach­rich­ten bei Spie­gel. Häß­li­cher Protz-BMW mit fast sechs­hun­dert PS. Wenn ich bei den Auto­nach­rich­ten von SPIEGEL ONLINE ange­kom­men bin, weiß ich, daß ich reif bin fürs Bett. Auch wenn es erst neun Uhr abends ist.

Kurz noch über Mater­nité. Meine Péri­du­rale von kurz vor sie­ben Uhr abends bei acht Zen­ti­me­tern. Drei weib­li­che Heb­am­men, Céline, Cécile und noch eine, deren Name mir nicht ein­fällt. Irgend­was wie Harissa. Ist aber nicht Harissa. Die Frau hat ohne­hin über­haupt nicht nichts Schar­fes. Aber ich komme nicht auf den Namen. Bleibe an Harissa hän­gen. Maghre­bi­ni­scher Hin­ter­grund jeden­falls. Cécile hat ihre Lip­pen knall­rot gefärbt. Ist das gerade modern? Und sagt, sie müßte immer rülp­sen. Und zwar auf Berüh­rung am rech­ten Hand­ge­lenk. Aha. Streicht sich über das rechte Hand­ge­lenk und rülpst ein Rülp­ser­chen. Sehr inter­es­sant. Und gleich noch eins. Ist die Frau eines Gynä­ko­lo­gen, der bis vor einem Jahr bei uns war. Sie hat lange nicht gear­bei­tet wegen Fibro­my­al­gie. Sagte der Gatte damals. Bestä­tigt meine Vor­ur­teile gegen Leute mit Fibro­my­al­gie. Das ist eine Not­dia­gnose für Leute mit Knall. Drei Frauen also, es könnte schlim­mer gekom­men sein. Kein Phil­ippe, kein Jérôme. Auch nicht Marie oder Séverine.

Ab ins Bett. Noch was lesen. Ich habe "Kapu­zi­ner­gruft" von Joseph Roth ange­fan­gen. Gibt es für null Euro auf den kindle. Die Fort­set­zung zu "Radetz­ky­marsch". Schöne Spra­che, Anfang letz­tes Jahr­hun­dert. Öster­reich unter Franz Josef. Der Groß­va­ter ret­tet dem Kai­ser das Leben, wird dafür geadelt. Der Vater ange­se­he­ner Bezirks­haupt­meis­ter, der Sohn ver­sagt beim Mili­tär, obwohl der Groß­va­ter dem Kai­ser das Leben geret­tet hat, fällt in den frü­hen Tagen des ers­ten Welt­kriegs. Frauen spie­len nur gele­gent­lich eine Rolle. Schwa­che Gesund­heit, ster­ben früh.

Glas Rot­wein, Licht aus um halb elf. Das Glas Rot­wein soll gegen den Voll­mond im Kopf hel­fen. Voll­mond war vor­ges­tern. Manch­mal füh­len sich Nächte wie Voll­mond­nächte an. Im Dienst sowieso. Auch ohne wirk­li­chen Voll­mond.

Halb eins Voll­mond. Wach irgend­wie, aber ver­mut­lich sogar für ein Sudoku zu blöde im Kopf. Geschweige denn Joseph Roth. Wie Harissa wirk­lich heißt, fällt mir immer noch nicht ein. Wach irgend­wie, kei­nes wirk­li­chen Gedan­kens fähig. Som­n­o­lenz im Dun­keln. Mein Zweit­ge­bo­re­ner hatte ges­tern sei­nen neun­zehn­ten Geburts­tag. Hatte keine Wün­sche. Außer viel­leicht ein paar Hosen. Für seine Mut­ter ist ein Geburts­tag ohne Geschenke kein rich­ti­ger Geburts­tag. Ein paar Hosen also. Ein schö­ner Kugel­schrei­ber. Und ein Wecker. Super-Sonic oder so. Weil er noch immer nicht alleine aus dem Bett kommt. Na ja, ein­mal von zwan­zig viel­leicht. Jetzt hat er eine Maschine, mit der er das ganze Haus wach kriegt. Und die Nach­bar­schaft dazu ver­mut­lich. Er hat sich selbst einen Sta­pel Mathe­bü­cher von Ama­zon geschenkt. Übun­gen. Weil er so schlecht ist in Mathe. 6,7 im ers­ten Semes­ter. Und sich nicht hel­fen las­sen will. Zu stolz, zu cool. Ich kann ihm nicht hel­fen. Mathe war ich noch nie gut. Schon gar nicht auf die­sem Niveau. Und er will meine Rat­schläge zu punkt­ge­nauer Nach­hilfe nicht. Logisch. Hätte ich Rat­schläge von mei­nem Vater gewollt? Ich hätte mei­nem Vater nicht ein­mal zuge­hört. Ver­mut­lich hört mir mein Sohn auch nicht zu. Ich sehe ihn unter­ge­hen in sei­ner Prépa und kann ihm nicht hel­fen. Voll­mond.

Bis 3:06 Uhr. Nacima! Harissa ist Nacima. Petite primi deman­de­use d’une péri­du­rale. Die petite primi ist taub. Der Mann dazu auch. Des­we­gen hat Nacima die CTG-Maschine ganz laut gestellt. Die Primi und ihr Mann hören aber trotz­dem nichts. Kön­nen von den Lip­pen lesen. Weiß ich. Ich habe die ganze Fami­lie in den Con­sul­ta­ti­ons gese­hen. Mut­ter, Toch­ter, Schwie­ger­sohn. Alle taub. Dafür hat Nacima kein EKG ange­schlos­sen und kei­nen Blut­druck. Fällt mir aber auch erst nach der Test­do­sis auf. Voll­mond im Kopf.

Danach will Cécile eine petite péri­du­rale für ihre Primi in Salle une. Die Lip­pen sind inzwi­schen nicht mehr so rot. Ich bin ver­sucht, sie zu pro­vo­zie­ren wegen ihrer blö­den Bäu­er­chen vor­hin. Wel­che Art vis­ze­ra­ler Reflexe denn tak­tile Reize ihres lin­ken Hand­ge­lenks aus­lö­sen wür­den, zum Bei­spiel. Aber Cécile inter­es­siert mich dann doch viel zu wenig. Petite péri und zurück ins Bett.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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