Dienstanweisung

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Sicher-das-dann-ja. Zwei oder drei Anmerkungen konnte man sich erlauben, maximal, dann war Schluß. Immerhin war Monika die Chefin. Und ihr Wort wie in Stein gemeißelte Weisheit. Monikas Sicher-das-dann-ja signalisierte das natürliche Ende eines Meinungsaustauschs bei steiler Hierarchie. Hieß soviel wie jaja, reden Sie mal.

Die Zeit der Schwestern-Narkosen ist ein für allemal vorbei, Herr Diehl. Stammt auch von der damaligen Chefin, im Provinzkrankenhaus des nordöstlichen Ruhrgebiets. Anästhesie ist in Deutschland ärztliche Aufgabe. Pflegepersonal hat die Rolle dienenden Beiwerks. Unumstößliche Wahrheit. Mußte ich mir immer anhören, wenn sie mich am Kaffee in der Kaffeeküche des OPs erwischte. Passierte mir öfter mal. Mich erwischen zu lassen. Manchmal mußte sie dann laut werden. Chefin eben. Alte Schule. Eine der ersten Chefinnen in der Anästhesie überhaupt. Monika und Doppelname. Mit einer Abmahnung beim nächsten Mal drohen. Und eine Dienstanweisung redigieren. Die Dienstanweisungen fingen meistens an mit den Worten “Aus gegebenem Anlaß…”. Herr Diehl war häufig der Anlaß. Den Dienstbeginn zum Beispiel betreffend. Visite Punkt 7:30 Uhr. Und nicht etwa erst 7:32 Uhr. Halb acht war mit Kindern nur ganz schwer zu schaffen damals. Kindergarten, Tagesmutter. Stau allenthalben. Eigentlich unmöglich. Oder die Dokumentation. “Aus gegebenem Anlaß” wurde die Abteilung für Anästhesiologie angehalten, die Lesbarkeit handschriftlich erstellter Dokumente sicherzustellen. Zukünftig. Gerne auch mal “ab sofort”. Dabei habe ich eine interessante Handschrift. Oder eben diese Geschichte mit der Schwestern-Narkose. Ein für allemal. Schwester Roswitha war alleine im OP-Saal an der Hüftoperation erwischt worden, Herr Diehl  beim Kaffee mit der Gynäkologin. Geht gar nicht, die Schwester alleine. Dienstanweisung. Gegebener Anlaß. Die Sekretärin, auch Monika, mußte die Dienstanweisungen gegen Unterschrift im Kollegium verteilen.

In Frankreich ist das anders. Im südfranzösischen Provinzkrankenhaus habe ich ein eigenes Büro im OP. Christine und Jean-Pierre – Infirmièrs Anesthésistes Diplômés d’État, IADEs – passen auf meine Narkosen in Saal eins und zwei auf. Ich kümmere mich um die postoperativen Anordnungen. Am Computer. Manchmal muß ich was unterschreiben. Anästhesie ist eine sitzende Tätigkeit. Der Chirurg im Saal hingegen muß häufig stehen. Und die Schwestern dazu. Die meisten tragen Stützstrümpfe. Prophylaktisch wegen drohender Krampfadern. Oder manifester Varikosis. Allein das könnte genügen als Grund, nicht Chirurg werden zu wollen. Stützstrümpfe! Im OP steht der Chirurg am Tisch, auf seiner Station läuft er herum und macht Visite. Der Chirurg sitzt selten. Nicht einmal der französische. Nur in der Mittagspause von zwölf bis zwei. Ich sitze meistens. Zur Einleitung einer Allgemeinanästhesie stehe ich auch. Mit Jean-Pierre am Kopfende des OP-Tischs. Rückenmarksnahe Anästhesieverfahren stechen sich nicht gut im Sitzen. Regionalanästhesien, Narkosen also nur für einen Arm zum Beispiel, oder Gefäßpunktionen, gehen wiederum besser im Sitzen. Weil man sich sonst, beim feinmotorischen Hantieren mit Sonograph und spitzer Nadel den Rücken verkrampft. Danach gehe ich in mein Büro. Papierkram. ZEIT ONLINE und so. Sitze. Warte auf den nächsten Patienten. Christine bleibt beim Patienten. Darf auch sitzen. Und hat Internet. Keine Social media zwar, aber immerhin. Der Anästhesist trägt die Verantwortung, die Schwester bleibt an der Narkose. Meistens alleine. Ich löse sie ab und zu für einen Kaffee ab. Oder Zigarette oder Pipi. Schwestern-Narkose. Meine damalige Chefin im nordöstlichen Ruhrgebiet konnte sich das nicht vorstellen. Ein für allemal.

Zu einer der letzten Weihnachtsfeiern des letzten Jahrtausends gab sie sich jovial. Die Sekretärin hatte sie diskret daran erinnert, daß der Herr Diehl zum 31. Dezember die Abteilung verlassen würde. Nette Worte zählten ebenso wenig zu ihren Stärken wie das souveräne Absolvieren von Betriebsfeierlichkeiten. Wie denn mein Alltag wohl aussähe in Frankreich, fragte Monika. Mußte ja wohl ein paar Wort wechseln mit mir. Mediterran vermutlich, sagte ich. Nicht vor halb neun schon mal. Und ich würde eher Kaffee trinken als auf Narkosen aufpassen. Gut ausbildete Fachpfleger würden meine Narkosen überwachen.

Sicher-das-dann-ja.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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