Castrop-Rauxel

15. Januar 2016 Von Alleinerzieher

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Bigaradier klein

Worte sind wie Laub, wo sie im Über­maß sind, fin­det man sel­ten Früchte dar­un­ter. Anton Kner

Für mei­nen Schwie­ger­vater stellt sein Fax­gerät das Maxi­mum an tele­kom­mu­ni­ka­tiver Hoch­tech­no­logie im Haus­halt dar. Es gibt kein Inter­net bei ihm. Kei­nen Com­puter. Von einem Handy ganz zu schwei­gen. Aus Über­zeu­gung. Und der Angst vor erra­ti­scher Dys­funk­tion und damit ver­bun­denen kryp­ti­schen Feh­ler­mel­dungen. Erra­tisch dys­funk­tio­nelle Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­logie kennt er nur aus sei­nem Umfeld. Du hast kein was? Kein Netz? Nimm doch das Tele­fon! Briefe schreibt er auf einer mecha­ni­schen Tri­umph-Adler aus den acht­ziger Jah­ren. Meine Frau wünschte, ihn nichts­des­to­trotz an mei­nen Tex­ten aus dem Blog teil­haben zu las­sen. Ein Online-Buch­dru­cker in Ber­lin gewährt ab 3 (drei) Exem­plaren 10 (zehn) Pro­zent Rabatt. Konnte der Schwabe in mir nicht wider­stehen. Nar­ko­se­pri­mat steht vorne drauf als Bezug auf einen Bei­trag aus 2015 und mein Name. Dazu das Bild einer Mimo­sen­blüte. Paßt zu Süd­frank­reich. Taschen­buch­for­mat. Mein Schwie­ger­va­ter bekam sein Exem­plar, meine Eltern eins und die Redak­teu­rin des Upper-Class-Maga­zins in Nizza. Die rest­li­chen bis auf ein Exem­plar gin­gen spä­ter auch nach Schles­wig-Hol­stein. Dort gibt es im Umfeld mei­nes Schwie­ger­va­ters noch mehr Senio­ren, die kein Inter­net haben.

Er liest jeden Tag darin. Sagt er. Meine Eltern auch. Sagen sie. Sie lesen das wohl so, wie man den Sinn­spruch aus einem Kalen­der liest.

Geseg­net seien jene, die nichts zu sagen haben und trotz­dem den Mund hal­ten. Oscar Wilde

Vor kur­zem emp­fahl mir ama­zon – warum auch immer – "How to be Ger­man in 50 easy steps" von Adam Flet­cher. Als Taschen­buch kom­pakte 144 Sei­ten. Das Ebook für 3,99 €. Deut­sche aus der Sicht eines ein­ge­wan­der­ten Eng­län­ders. Leip­zig oder Ber­lin, glaube ich. Fünf­zig Kapi­tel. Es fängt an mit Haus­schu­hen. Deut­sche haben Angst vor dem kal­ten Fuß­bo­den. Deut­sche ver­si­chern alles und blei­ben an roten Ampeln ste­hen. Auch drei Uhr nachts, ganz alleine. Deut­sche brin­gen immer Kar­tof­fel­sa­lat in Tup­per­do­sen mit und sehen "Tat­ort", ohne zu wis­sen, warum eigent­lich. Sie bezie­hen ihr Welt­bild aus SPIEGEL-ONLINE und ver­zich­ten auf diplo­ma­ti­sche Ver­brä­mung ihrer Wahr­hei­ten. Das kann man ganz ange­nehm über ein paar Kapi­tel lesen. Der Deut­sche ist im Tenor immer irgend­wie höl­zern, eher unchar­mant und vor­wie­gend psy­ch­o­ri­gide. Ab vier Kapi­teln wird das anstren­gend.

Wie ein Kalen­der mit Sinn­sprü­chen für jeden Tag. Ein Sinn­spruch pro Tag reicht. Oder der Nar­ko­se­pri­mat. Ein paar Kapi­tel pro Tag rei­chen.

Meine Eltern schlu­gen vor, die Ver­öf­fent­lich­tung über einen Ver­lag zu ver­su­chen. Warum auch immer. Weil man viel­leicht ein Buch gedruckt haben muß im Leben und einen Baum gepflanzt. Ich habe einen Oran­gen­baum. Das reicht. Mein Vater würde sich auch um das Mar­ke­ting küm­mern wol­len. Mußte ich dan­kend ableh­nen, bes­ser nicht. Nicht nur, aber auch wegen der Spaß­kom­po­nente, die ich mir erhal­ten möchte. Manch­mal gerate ich gefühlt schon unter Druck, wenn mir wie­der zwei Wochen nichts ein­ge­fal­len ist. Wenn ich mehr als eine Woche nichts schreibe, guckt außer mei­ner Frau kei­ner mehr. Die­ser Druck reicht mir schon. Die Spaß­kom­pen­tene lei­det dann. Ver­lage haben in ers­ter Linie Ansprü­che. Und den­ken zual­ler­letzt an mei­nen Spaß. Ein Schul­freund mei­ner Frau lebt vom Kri­misch­rei­ben. Nicht schlecht mut­maß­lich. Muß aber auch Lese­abende in irgend­wel­chen Gemein­de­zen­tren mit­ma­chen und Signier­stun­den in Buch­hand­lun­gen bestrei­ten. Lese­abende! Signier­stun­den! In Osna­brück. Zum Bei­spiel. Oder Oer-Erken­schwick. Das muß man wol­len, um es gut zu fin­den.

Nichts bewahrt uns so gründ­lich vor Illu­sio­nen wie jeden Mor­gen ein Blick in den Spie­gel. Aldous Hux­ley

Ich muß nicht davon leben. Es geht nicht um Geld. Eine Frage auch des Poten­ti­als. Des Poten­ti­als und der Illu­sio­nen wegen, die nicht gerecht­fer­tigt wären. Der Druck bei einem Ver­lag macht ein Buch nicht zum Best­sel­ler. Mar­ke­ting ist müh­se­lig. Wenn die "Zeit" mehr von mir wollte, würde ich auch für die "Zeit" schrei­ben. Meine Inhalte rei­chen nicht für die Zeit. Rei­chen auch nicht für eine auf­la­gen­starke Tri­lo­gie. Wenn ich den Mas­sen­ge­schmack so zu tref­fen wüßte wie Joanne K. Row­ling oder Suzanne Col­lins, würde ich sie­ben Bände Harry Pot­ter schrei­ben oder ein paar Tri­lo­gien. Mein Ver­lag würde sich um die Über­set­zun­gen ins Fin­ni­sche und Rumä­ni­sche küm­mern und die Film­rechte nach Hol­ly­wood ver­kau­fen. Zur Pre­mière würde meine Agen­tin ein paar Sui­tes in Can­nes buchen. Ein­schließ­lich Anreise für Fami­li­en­an­ge­hö­rige. Ich würde spä­ter Kapi­tel mei­ner Wahl lesen und Bücher signie­ren. Dann doch. In der Stadt­halle von Wal­den­buch mei­net­we­gen. Na ja, auch Schwä­bisch Hall. Viel­leicht sogar Cas­trop-Rau­xel.

Bis dahin mache ich eben noch Nar­ko­sen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr