Big Five

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Lauer Früh­som­mer-Abend. Ich sitze mit mei­nem Erst­ge­bo­re­nen auf der Ter­rasse bei einem Glas Wein. Der Rest der Fami­lie ist in der Küche beschäf­tigt. Dezente Geräusch­ku­lisse, die Toch­ter erzählt was aus der Reit­stunde. Das Leben fühlt sich gera­dezu ent­spannt an. Alles ist gut. Plötz­lich steht da ein Kol­lege aus dem Kran­ken­haus auf der Ter­rasse. Mit einem selbst­ge­mach­ten Kuchen in der Hand. Sieht ziem­lich impro­vi­siert aus der Kuchen. Gelb. Zitrone ver­mut­lich. Mit einer Zeich­nung im Gel­ben. Und einer Kerze drauf. Ich kann nicht erken­nen, was die Zeich­nung dar­stel­len soll.

Im SPIEGEL, des­sen Print­aus­gabe wir lange abon­niert hat­ten und der uns immer erst Diens­tag oder Mitt­woch, je nach zen­tral­eu­ro­päi­scher Fei­er­tags­kon­stel­la­tion auch erst mal Sams­tag erreichte statt damals eigent­lich Mon­tag, in einer der letz­ten Aus­ga­ben unse­res Abon­ne­ments, Heft 34 von 2012, ging es um den "Tri­umph der Unauf­fäl­li­gen – Warum Intro­ver­tierte zu oft unter­schätzt wer­den". Ich fühlte mich ange­spro­chen, obwohl ich mir bezüg­lich der Inhalts­schwere des Arti­kels keine beson­de­ren Hoff­nun­gen machte. Som­mer­loch­thema. Und: Wer hat mich schon mal unter­schätzt? Wann oder wo habe ich tri­um­phiert? Der Arti­kel fing an mit ande­ren Intro­ver­tier­ten. Ein­stein. Scho­pen­hauer. Immer­hin. Es gibt sogar Schau­spie­ler, die als intro­ver­tiert gel­ten. Ich bin in guter Gesell­schaft. Viel­leicht kommt das ja noch mit dem Tri­umph. Dazu gab es im SPIEGEL einen Test. Eigent­lich sehr ver­däch­tig. Psy­cho­tests sind mehr das Niveau von Fern­seh­zeit­schrif­ten, von Bri­gitte, Bunte und Stern. So weg­wei­send wie Horo­skope. Sagt ein Pro­fes­sor aus Ber­lin bei SPIEGEL ONLINE. Hätte ich aber auch so ver­mu­tet.

Wo kann ich das mal hin­stel­len? Gefällt mir nicht, dass der da steht mit sei­nem gel­ben Kuchen. Was will der hier? Hat den jemand ein­ge­la­den? War der nicht über­haupt krank­ge­schrie­ben? Und was soll das mit die­ser Kerze? Wie nur werde ich den wie­der los? Am bes­ten mit sei­nem Kuchen. Bloß nicht hin­stel­len! Mei­nem Sohn fällt auch nichts ein dazu. Grinst nur. Schul­ter­zu­cken. Er scheint das komisch zu fin­den.

Der Test des SPIEGEL bestand aus gut drei­ßig Aus­sa­gen, die man als für sich zutref­fend ankreu­zen konnte. Ich habe die­sen Test absol­viert. Das Ergeb­nis war ein­deu­tig. Aus­sage 3 zum Bei­spiel: "Meine Gedan­ken wer­den mir selbst leich­ter deut­lich, wenn ich sie ande­ren gegen­über äußere". Erst­mal los­re­den, viel­leicht ver­stehe ich dann, was ich da denke. Nein, ist nicht für mich. Ich kenne sol­che Leute. Und Leute, die manch­mal so sind. Sind oft die sel­ben wie die aus Aus­sage 7: "Men­schen, die schnell reden, stren­gen mich an". Stimmt. Wer kann Men­schen, die ohne Unter­lass reden und nicht eine Sekunde zuhö­ren kön­nen, schon lange aus­hal­ten? Oder Aus­sage 17: "Ich denke nicht viel dar­über nach, was in ande­ren vor­geht". Kann ich auch nicht ankreu­zen. Bei Men­schen, die mir nahe­ste­hen, ist mir schon wich­tig, wie es ihnen geht. Sogar bei Pati­en­ten pas­siert mir das hin und wie­der. – Ich habe ziel­si­cher alle fünf­zehn Ant­wor­ten für die Intro­ver­tier­ten als für mich zutref­fend emp­fun­den. Für die Autoren des Tests hätte eine Über­zahl von drei Aus­sa­gen für die Zuord­nung gereicht. Immer­hin konnte ich zwei Extro-Punkte ver­bu­chen, die mich ver­mut­lich vor einem Sta­tus als Autist bewah­ren. Aus­sage 5: "Ich handle lie­ber zügig und 'aus dem Bauch her­aus', als lange nach­zu­den­ken". Inter­nis­ten den­ken gerne mal lange nach und auch Psych­ia­ter geben sich eher bedäch­tig. In der Anäs­the­sie kann man sich lan­ges Nach­den­ken oft nicht erlau­ben. Und Aus­sage 19: "Neue Orte und Umge­bun­gen finde ich anre­gend". Ist auch zutref­fend, solange das nicht zu viele andere Men­schen auch fin­den, Aus­sage 9: "wenn ich kann, meide ich große Men­schen­men­gen".

Plötz­lich ist die ganz Ter­rasse voll mit Men­schen. Alle haben so einen gel­ben Kuchen in der Hand. Alle mit Kerze. Alle mit Zeich­nung in rot. Die Zeich­nun­gen sind Smi­leys, erkenne ich mit einem Mal. Rote Smi­leys auf gel­bem Grund. Wie wahn­sin­nig wit­zig! Und ich soll Humor bewei­sen, wo ich doch Smi­leys als uner­träg­lich über­flüs­sig emp­finde in ihrer All­ge­gen­wär­tig­keit. Bestimmt sind das alles Freunde, denke ich mir, die sich einen Scherz mit mir erlau­ben. Musik dazu, ziem­lich laut. Sie sin­gen "Joyeux anni­ver­saire". Und mei­nen mich. Über­ra­schungs­fete. Jetzt ver­stehe ich den Hin­weis mei­ner Frau: lass' dich doch ein­fach mal über­ra­schen. Sei­gneur Dieu! Bleibt mir denn nichts erspart? Ein Ticket auf die Äuße­ren Hebri­den wäre eine schöne Über­ra­schung gewe­sen.

Auch bei der ZEIT stößt man immer wie­der auf psy­cho­lo­gi­sche Inhalte. Psy­cho­lo­gie im all­ge­mei­nen ist jour­na­lis­tisch ergie­bige The­ma­tik. Extro­ver­sion gehört zu den Big Five im per­sön­lich­keits­psy­cho­lo­gi­schen Stan­dard­mo­dell. Anfang April schrieb ein Lars Fischer über die Resul­tate einer wis­sen­schaft­li­chen Arbeits­gruppe, die den Ein­fluss der Per­sön­lich­keits­struk­tur auf die Tole­ranz gegen­über man­gel­haf­ter Gram­ma­tik und Recht­schrei­bung unter­suchte. Men­schen, die sich an feh­ler­haf­ter oder "unkon­ven­tio­nel­ler" Recht­schrei­bung stö­ren, sind wahr­schein­lich eher intro­ver­tiert. Nicht, dass ich mir mei­ner ortho­gra­phi­schen Kennt­nisse fel­sen­fest sicher wäre, aber ich gebe mir Mühe. Mich stö­ren falsch geschrie­bene Worte. Unter "unkon­ven­tio­nell" ver­steht die Arbeits­gruppe ver­mut­lich sowas wie Emo­ti­cons. Mag ich nicht so. An Feh­lern in der Gram­ma­tik stö­ren sich eher Men­schen ten­den­zi­ell gerin­ge­rer Ver­träg­lich­keit. Die Ver­träg­lich­keit gehört auch zu den Big Five. So rich­tig gut finde ich fal­sche Sätze aller­dings auch nicht.

Es kommt noch schlim­mer, mit einem Mal habe ich ein Mikro­fon in der Hand. Ich soll was sin­gen. No me mirès màs. Ein Titel von Kendji, der seit Mona­ten zehn Mal am Tag im Radio läuft. Karaōke. Der Erd­bo­den soll mich ver­schlu­cken, bitte, jetzt! Das schaffst du, Papo­u­net, sagt die Toch­ter. Sagt sie immer­hin auf deutsch. Sonst spricht sie lie­ber fran­zö­sisch.

05:50 Uhr. Der Wecker. Es hätte wirk­lich schlimm kom­men kön­nen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Bonne journée

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04:51 Uhr am Mon­tag. Die Schwes­ter lässt über eine Hilfs­kraft aus­rich­ten, daß es Mon­sieur Z. in Zim­mer zwei nicht so gut ginge, ich möge doch bitte mal kom­men. Eigent­lich sollte ich da noch im Wochen­ende sein um 04:51 Uhr. Lan­ges Wochen­ende sogar nach dem Dienst am Don­ners­tag. Kaum aber saß ich am Frei­tag Mor­gen im Auto, die Schranke zum Park­platz gerade aus dem Rück­spie­gel ver­schwun­den, der Him­mel groß und blau über mir, ein gan­zer Tag für mich alleine, ein lan­ges Wochen­ende, über­mor­gen mit der Fami­lie an den Lac de Sainte Croix, kam der Anruf.

Mein Tele­fon kannte die Num­mer nicht, aber ich hätte die Num­mer erken­nen müs­sen. Bloß nicht ran­ge­hen. Bes­ser noch das Tele­fon im Kran­ken­haus ver­ges­sen. Ver­wal­tung, Affai­res médi­ca­les. Das kann nichts Gutes bedeu­ten. Madame P. teilte mir mit, daß der Kol­lege für den Sonn­tag krank sei. Schlag­ar­tig war meine Laune unter den Gefrier­punkt gefal­len. Klar, auf was das hin­aus­läuft. Ob ich nicht den Dienst über­neh­men könnte, fragte sie, sachant – wis­send! Woher soll ich das wis­sen? -, daß der eine Kol­lege, der in Frage käme, gerade einen Todes­fall in der Fami­lie gehabt hätte, die andere Kol­le­gin zur Fort­bil­dung in Paris weile. Und Pas­ca­line, die dritte Kol­le­gin? Nein, die hätte sie nicht gefragt und würde sie auch nicht fra­gen, die wäre ja ohne­hin so krank. Ich könne sie ja selbst fra­gen. Und appel­lierte an mei­nen Team­geist, esprit d'équipe, sagte sie. Ärgerte mich, die­ser Appell an mei­nen Team­geist, weil sie genau weiß, daß jeder in mei­ner Abtei­lung in ers­ter Linie an sich selbst denkt. Fran­zo­sen eben. Einer für alle, alle für einen gibt es nur in net­ten Legen­den von frü­her. Ich ärgerte mich auch, daß diese Kol­le­gin so geschont wer­den soll. Ist gut zehn Jahre jün­ger als ich, arbei­tet nur zu 80 Pro­zent, vier Tage pro Woche, macht einen ein­zi­gen Dienst pro Monat. Wenn über­haupt. Und so krank kann sie auch wie­der nicht sein, wenn man ihren Erzäh­lun­gen aus ihrer Frei­zeit Glau­ben schenkt. Kommt eben von einer Insel und hat die Süd­see-Men­ta­li­tät bei­be­hal­ten. Team­geist?

Warum sie das dann als Frage for­mu­liert hätte, ob ich den Dienst über­neh­men könne, mit der Andeu­tung von Optio­nen mei­ner­seits, die ich ja wohl nicht hätte, abge­se­hen von einer Wun­der­hei­lung des Kol­le­gen. Na ja, esprit d'équipe, wie­der­holte Madame P., Team­geist, als ob der Begriff an sich eine schlüs­sige Erklä­rung beinhalte. Sie müßte ande­rer­seits ver­ste­hen, daß die­ses Wochen­ende unser ein­zi­ges gemein­sa­mes wäre für den gan­zen Monat, für meine Frau und mich, und ich würde mir schon eine krea­ti­vere Lösung wün­schen, ob denn nicht jemand vom gro­ßen Kran­ken­haus nebenan ein­sprin­gen könnte, wo wir doch ohne­hin zusam­men­ar­bei­ten sol­len auf Wunsch des gemein­sa­men Direk­tors. Nein, nein, so ein­fach, von einem auf den ande­ren Tag, ginge das natür­lich nicht. Sie würde sich es ja schon ein biß­chen leicht machen, meinte ich und fühlte über­bor­dern­den Zorn auf­schäu­men, bei admi­nis­tra­ti­ven Fra­gen wäre es offen­bar nicht so weit her mit ihrem esprit d'équipe. Schade fände ich das, wo das Pro­jekt der Zusam­men­ar­beit mit dem gro­ßen Kran­ken­haus so neu nun auch nicht wie­der wäre. Ganz erstaunt inner­lich, daß meine Sätze trotz aller Wut immer noch funk­tio­nier­ten, daß ich, ohne ins Stot­tern zu gera­ten, immer noch pas­sende Worte fand in Madame P.s Spra­che, redete ich mich immer wei­ter in Rage. Ärger­lich sei, ergänzte ich, daß ich nun aus­ba­den solle, daß das Pro­jekt der Zusam­men­ar­beit auf admi­nis­tra­ti­vem Niveau offen­sicht­lich nicht voran käme, qu'on a laissé traî­ner depuis des mois, sagte ich wört­lich. Ich ärgerte mich wirk­lich, so oft wird es Akti­vi­tä­ten in der gan­zen Fami­lie nicht mehr geben, wenn der Große erst­mal in Neu­see­land ist. Viel­leicht könne sie ja doch noch mal ein biß­chen nach­den­ken, viel­leicht doch – bei allem Ver­ständ­nis für die Krank­heit – die arme Pas­ca­line fra­gen oder ihren Direc­teur. Schwei­gen am ande­ren Ende. Bin ich in ein Funk­loch gera­ten? – Âllo?Vous me voyez sans voix. Madame P., Affai­res médi­ca­les, gab sich ganz sprach­los ange­sichts so her­ber Kri­tik, wünschte mir einen schö­nen Tag und legte auf. Wow.

Diplo­ma­tie liegt mir nicht so. Egal. War ohne­hin nichts zu gewin­nen.

Am Ende konnte der kranke Kol­lege doch immer­hin den Tag über arbei­ten, bis halb sie­ben immer­hin. Und wir konn­ten an den See fah­ren. Pick­nick auf den Kies­bän­ken im Ver­don ober­halb des Stau­sees. Weit genug jen­seits einer Kette von Bojen mit Ver­bots­schil­dern an den Ufern, die vor ein paar Jah­ren instal­liert wur­den. Damit "nicht zuviele" Tou­ris­ten soweit den Fluß hin­auf­pad­deln, sagt der Boots­ver­lei­her. Pas trop. Ita­lie­ni­sche Tou­ris­ten, Hol­län­der, Deut­sche und Eng­län­der las­sen sich von sowas beein­dru­cken. Ein­hei­mi­sche natür­lich weni­ger. Wer soll das schon über­wa­chen? Zum Abschluß des Aus­flugs ein Bier für die Gro­ßen, Eis für die Klei­nen im Restau­rant eines Cam­ping­plat­zes hoch über dem See. Gehört auch dazu. Seit gut zwan­zig Jah­ren. Immer wie­der schön.

04:57 Uhr. Zim­mer zwei. Der Blut­druck ist in Ord­nung, die Puls­fre­quenz, der Sauer­stoff im Blut. Die Daten auf dem Moni­tor über Mon­sieur Z.s Bett geben kei­nen Anlaß zur Beun­ru­hi­gung. Ja, täte ihr irgend­wie leid, sagt Amé­lie, die Schwes­ter, jetzt wäre wie­der alles gut. – Na, muß dir ja nicht leid tun, ist doch schön, wenn wie­der alles gut ist!

Bonne jour­née!


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr