Bonne journée

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04:51 Uhr am Mon­tag. Die Schwes­ter lässt über eine Hilfs­kraft aus­rich­ten, daß es Mon­sieur Z. in Zim­mer zwei nicht so gut ginge, ich möge doch bitte mal kom­men. Eigent­lich sollte ich da noch im Wochen­ende sein um 04:51 Uhr. Lan­ges Wochen­ende sogar nach dem Dienst am Don­ners­tag. Kaum aber saß ich am Frei­tag Mor­gen im Auto, die Schranke zum Park­platz gerade aus dem Rück­spie­gel ver­schwun­den, der Him­mel groß und blau über mir, ein gan­zer Tag für mich alleine, ein lan­ges Wochen­ende, über­mor­gen mit der Fami­lie an den Lac de Sainte Croix, kam der Anruf.

Mein Tele­fon kannte die Num­mer nicht, aber ich hätte die Num­mer erken­nen müs­sen. Bloß nicht ran­ge­hen. Bes­ser noch das Tele­fon im Kran­ken­haus ver­ges­sen. Ver­wal­tung, Affai­res médi­ca­les. Das kann nichts Gutes bedeu­ten. Madame P. teilte mir mit, daß der Kol­lege für den Sonn­tag krank sei. Schlag­ar­tig war meine Laune unter den Gefrier­punkt gefal­len. Klar, auf was das hin­aus­läuft. Ob ich nicht den Dienst über­neh­men könnte, fragte sie, sachant – wis­send! Woher soll ich das wis­sen? -, daß der eine Kol­lege, der in Frage käme, gerade einen Todes­fall in der Fami­lie gehabt hätte, die andere Kol­le­gin zur Fort­bil­dung in Paris weile. Und Pas­ca­line, die dritte Kol­le­gin? Nein, die hätte sie nicht gefragt und würde sie auch nicht fra­gen, die wäre ja ohne­hin so krank. Ich könne sie ja selbst fra­gen. Und appel­lierte an mei­nen Team­geist, esprit d'équipe, sagte sie. Ärgerte mich, die­ser Appell an mei­nen Team­geist, weil sie genau weiß, daß jeder in mei­ner Abtei­lung in ers­ter Linie an sich selbst denkt. Fran­zo­sen eben. Einer für alle, alle für einen gibt es nur in net­ten Legen­den von frü­her. Ich ärgerte mich auch, daß diese Kol­le­gin so geschont wer­den soll. Ist gut zehn Jahre jün­ger als ich, arbei­tet nur zu 80 Pro­zent, vier Tage pro Woche, macht einen ein­zi­gen Dienst pro Monat. Wenn über­haupt. Und so krank kann sie auch wie­der nicht sein, wenn man ihren Erzäh­lun­gen aus ihrer Frei­zeit Glau­ben schenkt. Kommt eben von einer Insel und hat die Süd­see-Men­ta­li­tät bei­be­hal­ten. Team­geist?

Warum sie das dann als Frage for­mu­liert hätte, ob ich den Dienst über­neh­men könne, mit der Andeu­tung von Optio­nen mei­ner­seits, die ich ja wohl nicht hätte, abge­se­hen von einer Wun­der­hei­lung des Kol­le­gen. Na ja, esprit d'équipe, wie­der­holte Madame P., Team­geist, als ob der Begriff an sich eine schlüs­sige Erklä­rung beinhalte. Sie müßte ande­rer­seits ver­ste­hen, daß die­ses Wochen­ende unser ein­zi­ges gemein­sa­mes wäre für den gan­zen Monat, für meine Frau und mich, und ich würde mir schon eine krea­ti­vere Lösung wün­schen, ob denn nicht jemand vom gro­ßen Kran­ken­haus nebenan ein­sprin­gen könnte, wo wir doch ohne­hin zusam­men­ar­bei­ten sol­len auf Wunsch des gemein­sa­men Direk­tors. Nein, nein, so ein­fach, von einem auf den ande­ren Tag, ginge das natür­lich nicht. Sie würde sich es ja schon ein biß­chen leicht machen, meinte ich und fühlte über­bor­dern­den Zorn auf­schäu­men, bei admi­nis­tra­ti­ven Fra­gen wäre es offen­bar nicht so weit her mit ihrem esprit d'équipe. Schade fände ich das, wo das Pro­jekt der Zusam­men­ar­beit mit dem gro­ßen Kran­ken­haus so neu nun auch nicht wie­der wäre. Ganz erstaunt inner­lich, daß meine Sätze trotz aller Wut immer noch funk­tio­nier­ten, daß ich, ohne ins Stot­tern zu gera­ten, immer noch pas­sende Worte fand in Madame P.s Spra­che, redete ich mich immer wei­ter in Rage. Ärger­lich sei, ergänzte ich, daß ich nun aus­ba­den solle, daß das Pro­jekt der Zusam­men­ar­beit auf admi­nis­tra­ti­vem Niveau offen­sicht­lich nicht voran käme, qu'on a laissé traî­ner depuis des mois, sagte ich wört­lich. Ich ärgerte mich wirk­lich, so oft wird es Akti­vi­tä­ten in der gan­zen Fami­lie nicht mehr geben, wenn der Große erst­mal in Neu­see­land ist. Viel­leicht könne sie ja doch noch mal ein biß­chen nach­den­ken, viel­leicht doch – bei allem Ver­ständ­nis für die Krank­heit – die arme Pas­ca­line fra­gen oder ihren Direc­teur. Schwei­gen am ande­ren Ende. Bin ich in ein Funk­loch gera­ten? – Âllo?Vous me voyez sans voix. Madame P., Affai­res médi­ca­les, gab sich ganz sprach­los ange­sichts so her­ber Kri­tik, wünschte mir einen schö­nen Tag und legte auf. Wow.

Diplo­ma­tie liegt mir nicht so. Egal. War ohne­hin nichts zu gewin­nen.

Am Ende konnte der kranke Kol­lege doch immer­hin den Tag über arbei­ten, bis halb sie­ben immer­hin. Und wir konn­ten an den See fah­ren. Pick­nick auf den Kies­bän­ken im Ver­don ober­halb des Stau­sees. Weit genug jen­seits einer Kette von Bojen mit Ver­bots­schil­dern an den Ufern, die vor ein paar Jah­ren instal­liert wur­den. Damit "nicht zuviele" Tou­ris­ten soweit den Fluß hin­auf­pad­deln, sagt der Boots­ver­lei­her. Pas trop. Ita­lie­ni­sche Tou­ris­ten, Hol­län­der, Deut­sche und Eng­län­der las­sen sich von sowas beein­dru­cken. Ein­hei­mi­sche natür­lich weni­ger. Wer soll das schon über­wa­chen? Zum Abschluß des Aus­flugs ein Bier für die Gro­ßen, Eis für die Klei­nen im Restau­rant eines Cam­ping­plat­zes hoch über dem See. Gehört auch dazu. Seit gut zwan­zig Jah­ren. Immer wie­der schön.

04:57 Uhr. Zim­mer zwei. Der Blut­druck ist in Ord­nung, die Puls­fre­quenz, der Sauer­stoff im Blut. Die Daten auf dem Moni­tor über Mon­sieur Z.s Bett geben kei­nen Anlaß zur Beun­ru­hi­gung. Ja, täte ihr irgend­wie leid, sagt Amé­lie, die Schwes­ter, jetzt wäre wie­der alles gut. – Na, muß dir ja nicht leid tun, ist doch schön, wenn wie­der alles gut ist!

Bonne jour­née!


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

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