Zwiefalten

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Ich geh' jetzt. Ich unter­schreibe euch, was ihr wollt, aber ich geh' jetzt.

Ein Uhr fünf­und­drei­ßig. Nachts. Tumult auf mei­ner Sta­tion für mit­tel­schwer Kranke, Inter­me­diate Care. Not­ruf der Schwes­ter. Ein Psy­cho­path, ich nenne ihn mal Bryce, 23, manisch-depres­siv in bis­lang eher depres­si­ver Ver­fas­sung. Lag eigent­lich nur noch da, Zim­mer drei, weil er am kaput­ten Ellen­bo­gen ope­riert wor­den war am Vor­tag. Hatte nach fast einer Woche auf die­ser Sta­tion wegen einer zusätz­li­chen Stoff­wech­sel­stö­rung genug von uns. Der meint das Ernst, sagt die Schwes­ter am Tele­fon. Und wenn der erst­mal aus sei­nem Zim­mer kommt, hal­ten wir ihn bestimmt nicht auf.

Vor einem Jahr wurde unsere Inten­siv­sta­tion in eine Unité des soins con­ti­nus umge­wan­delt, Sta­tion für Inter­me­diate Care. Das ist die Abtei­lung für Pati­en­ten, die zu krank sind für eine Nor­mal­sta­tion und nicht krank genug für eine Inten­siv­sta­tion. Bei uns gab es plötz­lich zu wenig Inten­siv­me­di­zi­ner. Kein Fran­zose will das machen. Noch weni­ger als Anäs­the­sie. Schon gar nicht so tief in der Pro­vinz, Sonne und Meer hin oder her. Des­we­gen wurde die Inten­siv­sta­tion umge­wan­delt in eine Sta­tion für Inter­me­diate Care. Und wir von der Anäs­the­sie müs­sen uns darum küm­mern. Anäs­the­sis­ten haben ja auch mal Inten­siv­me­di­zin gelernt. Auf die­ser Sta­tion wer­den vor­wie­gend Men­schen mit inter­nis­ti­schen Krank­heits­bil­dern ver­sorgt. Men­schen eher am Ende ihres Lebens, häu­fig mit schwe­ren, aus­the­ra­pier­ten Erkran­kun­gen der Lunge. Gele­gent­lich ein ent­gleis­ter Dia­be­tes, manch­mal ein miß­glück­ter Selbst­mord­ver­such. Meist krie­gen wir sol­che Kan­di­da­ten aus den gro­ßen Kran­ken­häu­sern nebenan. Kein Platz behaup­ten die Kol­le­gen dort. Sie mei­nen kein Platz für sowas. Damit geben wir uns nicht ab. Bryce kam auch von dort. Wegen Über­be­le­gung.

Ich geh' jetzt. Ich unter­schreib' dir, was du willst, aber ich geh' jetzt.

Bryce steht in der Tür zu Zim­mer drei. Bryce ist einen Meter neun­zig groß, geschätzte 120 Kilo­gramm schwer. Ein Schrank. Nur der Infu­si­ons­schlauch in sei­nem Arm mit der Fla­sche am ande­ren Ende hält ihn vom Auf­bruch ab. Und viel­leicht sollte er auch noch was anzie­hen. Daß er mich duzt, gefällt mir nicht so. Sie soll­ten sich viel­leicht noch was anzie­hen, ich komme gleich zu Ihnen.

Die Schwes­tern auf dem Sta­ti­ons­flur wie ein Hau­fen kopf­lo­ser Hüh­ner, empört, weil er wüste Dro­hun­gen mit obszö­nen Ten­den­zen aus­stößt. Muß ich da jetzt rein? Du bist der Arzt, sagen sie, wir gehen da nicht rein, du hörst doch, was er sagt. Bryce steht neben sei­nen Bett und ver­sucht sich anzu­zie­hen. Nicht ganz ein­fach mit dem Infu­si­ons­schlauch in sei­ner Ellen­beuge und den Dräh­ten vom EKG. Hätte er ja auch ein­fach abrei­ßen kön­nen. Deli­rante Alko­ho­li­ker sind da weni­ger ein­sich­tig. Die zie­hen sich auch mal einen Bla­sen­ka­the­ter. Ich kann Bryce zum Blei­ben bis mor­gen über­re­den und einer Tablette Valium. Er wünscht sich zwei davon, weil er das kennt. Zwan­zig Mil­li­gramm. Den unge­üb­ten Nor­mal­men­schen würde diese Dosis für 24 Stun­den im Koma hal­ten. Mei­nem Pati­en­ten reicht das als Basis zum Über­den­ken sei­ner Ent­schei­dung in aller Ruhe. Eine Stunde spä­ter steht er auf dem Sta­ti­ons­flur. Ohne Hose. Auch ohne Unter­wä­sche. Mit T-Shirt aller­dings. Demente Senio­ren kann man manch­mal auf dem Park­platz in die­ser Auf­ma­chung ein­fan­gen. Er hat den Schlauch sei­ner Infu­sion durch­ge­schnit­ten. Aus dem Schlau­chende tropft reich­lich Blut. Woher nur hatte er die Schere dazu? Hat er die Schere noch? Ist Bryce als bewaff­net ein­zu­schät­zen? Würde er von sei­ner Waffe Gebrauch machen?

Ich unter­schreibe euch, was ihr wollt, aber ich gehe jetzt, brüllt Bryce.

Frü­her, im nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biet, gab es für sol­che Fälle Ket­amin in den Schub­la­den. Ket­amin, intra­mus­ku­lär appli­ziert, wirkt inner­halb von drei­ßig Sekun­den. Wild­hü­ter zäh­men damit pfle­ge­be­dürf­ti­ges Groß­wild. Aus siche­rem Abstand. Wer aber würde sich Bryce zur intra­mus­ku­lä­ren Appli­ka­tion nähern, geschweige denn sich ihm in den Weg stel­len wol­len? Die Schwes­tern ver­schan­zen sich hin­ter Tischen und Stüh­len. Auch ich ten­diere da eher zur Feig­heit. Die Schwes­tern wis­sen ande­rer­seits von einem Pfle­ger im Haus, sogar anwe­send, spe­zia­li­siert auf sowas. Serge rollt auf Anruf aus der Not­auf­nahme an. Inner­halb von Minu­ten. Als ob sie dort stän­dig mit so Leu­ten wie Bryce zu tun hät­ten. Warum nicht gleich? Zwei-Mil­li­me­ter-Fri­sur, phy­sisch ein ähn­li­ches Kali­ber wie Bryce. Zwei Hel­fe­rin­nen. Er stellt sich als Pfle­ger des CAP vor – ich weiß nicht genau, wofür das steht. C für Centre, glaube ich, A keine Ahnung, Action viel­leicht, P jeden­falls für Psych­ia­trie. Fran­zo­sen lie­ben Abkür­zun­gen. Sie haben einen Kof­fer dabei, grün. So könnte man sich ein Sado-Maso-Ein­stei­ger­köf­fer­chen vor­stel­len. Mit aller­lei Zube­hör für Fes­sel­spiele in mas­si­ver Aus­füh­rung, abwasch­bar. Du legst dich jetzt in dein Bett, sagt Serge. Serge duzt Bryce ein­fach, viel­leicht ist das der Trick. Okay, sagt Bryce. Und dann schnalle ich dich an, weil das bes­ser für dich ist. Okay. Bryce legt sich in sein Bett. Ganz zahm. Und wird an den Füßen und dem nicht ope­rier­ten Arm fixiert. Weil das bes­ser für uns alle ist. Okay, merci. Als ob er nur dar­auf gewar­tet hätte. Und nach dem Früh­stück brin­gen wir dich nach Pier­refeu. Okay. Serge kann das ganz ohne Ket­amin. Ein­fach so. Wow.

In Pier­refeu haben sie die große Irren­an­stalt der Region, des Dépar­te­ments Var zumin­dest. Die Irren­an­stalt mei­ner Jugend liegt auf der Schwä­bi­schen Alb zur Donau hin. In einer ehe­ma­li­gen Bene­dik­ti­ner-Abtei. Öffent­lich zugäng­lich ist dort das Müns­ter, ein bedeu­ten­des Bau­werk deut­schen Spät­ba­rocks. Frü­her, also in mei­ner Jugend, hieß es gerne mal, bestimmt nur im Scherz: wenn du so wei­ter­machst, kommst du in die Geschlos­sene nach Zwie­fal­ten.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Gekürzt ver­öf­fent­lich in der März-Aus­gabe der Riviera-Zeit.

Muttertag

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Gar­ten, wenn da einer ist ums Haus, ist natür­lich schön, auch weil er die Nach­barn auf Distanz hält, so wie der Pool, auch schön. Die Arbeit daran, an Gar­ten und Pool, damit sie auch so schön blei­ben, würde ich aller­dings gerne dele­gie­ren kön­nen. Für Per­so­nal aber reicht das Bud­get defi­ni­tiv nicht.

Wir hat­ten mal einen Gärt­ner, Fabien, der nur die Pal­men beschnei­den sollte. Die wach­sen hier wie Unkraut und brei­ten sich offen­bar über ihre Wur­zeln aus. Wo sie sich mal einen Weg gebahnt haben, kriegt man sie nicht wie­der weg. Wenn sie mal groß sind und in Grup­pen ste­hen, sieht es nett aus. Man muß aller­dings alle Jahre wie­der die alten Blät­ter unten abschnei­den, damit es nett und wie Pal­men aus­sieht. Ist ein unan­ge­neh­mer Job, weil die Blatt­stiele dor­nen­be­wehrt sind. Fabien sollte sams­tags kom­men, gerne regel­mä­ßig, für 12 Euro die Stunde. Oder 15, weiß ich nicht mehr genau. Kam mit einer Art Jeep und einem klei­nem Anhän­ger dran. Den Anhän­ger brau­chen Sie nicht, sagte ich ihm gleich, das Grün­zeug kann da wei­ter hin­ten zum Ver­bren­nen im Herbst abge­legt wer­den. Hat ihm gar nicht gefal­len, am liebs­ten wäre er wohl direkt wie­der ver­schwun­den, konnte man ihm anse­hen. Er ver­suchte dann noch, mich dar­auf­hin­zu­wei­sen, daß das Ver­bren­nen von Grün­ab­fäl­len seit 2011 ver­bo­ten wäre – nor­ma­le­ment. Weiß ich, erwi­derte ich, ich hatte davon gele­sen in der Wochen­schrift der Gemeinde, wenn ich aber alle meine Grün­ab­fälle ein­mal durch die Stadt fah­ren wollte, wäre ich Wochen damit beschäf­tigt. Ums Ver­bren­nen würde ich mich dann schon selbst küm­mern, da könne er beru­higt sein.

Und, wozu sind wir denn in Frank­reich? Nor­ma­le­ment fin­det immer Anwen­dung, wenn es eine Regel gibt oder ein Gesetz und man auch davon weiß. Oder wis­sen könnte. Wenn das Gesetz oder die Regel aber wirk­lich unan­ge­nehme Kon­se­quen­zen in der Umset­zung hat, hält man sich erst mal nicht daran, so wenig wie alle ande­ren eben, und stellt sich dumm, wenn man doch erwischt wird. Nor­ma­le­ment beschreibt die Option auf die indi­vi­du­elle Aus­nahme. Das funk­tio­niert meis­tens, weil die Ein­hal­tung von Regeln und Geset­zen mit wirk­lich unan­ge­neh­men Kon­se­quen­zen nur spo­ra­disch kon­trol­liert wird. In Deutsch­land gibt es auch viele Regeln und Gesetze. Viel­leicht noch mehr als in Frank­reich. Wie die zum Baum umsä­gen viel­leicht, um im Gar­ten zu blei­ben. Ver­bo­ten von Februar bis Okto­ber. Ansons­ten geneh­mi­gungs- und mel­de­pflich­tig. In Deutsch­land aber gibt es mei­nes Wis­sens kein nor­ma­le­ment. Oder ganz wenig. Wenn Sie einen Baum über 15 Meter ohne Geneh­mi­gung umsä­gen, und zudem viel­leicht auch noch im April, krie­gen Sie Ärger. Und das ganz sicher. In Frank­reich ist das Nor­ma­le­ment all­ge­gen­wär­tig. Und gilt ganz klar auch für das herbst­li­che Ver­bren­nen von Grün­zeug.

Zu Mit­tag fuhr Fabien nach Hause, kam um zwei wie­der, ohne Anhän­ger dann und ließ sich einen Scheck für drei Stun­den geben. Für den Nach­mit­tag hatte er lei­der, ganz über­ra­schend, andere Ver­pflich­tun­gen. Mut­ter­tag mit maman oder so. Mut­ter­tag! Den Sams­tag dar­auf hatte er einen gärt­ne­ri­schen Not­fall! Was auch immer das sein mag. Dann lag er arbeits­un­fä­hig dar­nie­der. Lum­bago. Fabien hatte sich wohl vor­ge­stellt, sein Anhän­ger­chen mit dem Grün­zeug von einer oder zwei Pal­men voll­zu­pa­cken und damit zur kom­mu­na­len Déchet­te­rie – Wert­stoff­hof – zu fah­ren. Sams­tag Vor­mit­tag! Sams­tag Vor­mit­tag sind sie alle dort mit ihren Anhän­ger­chen. Bug­sie­ren sie im Rück­wärts­gang an den Con­tai­ner, machen sie sonst nicht so oft, sieht man, fin­den ihre Arbeits­hand­schuhe, lösen die Spann­gurte und lee­ren den Anhän­ger Zweig um Zweig. Grün­zeug-Schlange bis weit auf die Straße. Sehe ich manch­mal. Die Hob­by­gärt­ner in Grup­pen plau­dernd zwi­schen ihren Fahr­zeu­gen. Coo­ler Job.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Claire

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Die Kas­sie­re­rin wünscht mir einen schö­nen Tag. Danke, Ihnen auch, Méla­nie. Méla­nie ist Kasse 3 bei Déc­a­th­lon. Kas­sie­re­rin­nen mögen das, wenn man sie auch mal als Mensch wahr­nimmt. Wahr­schein­lich sind sie des­we­gen auch meist beschrif­tet. Méla­nie ent­lockt das ein Lächeln. Immer­hin. Mein Tag würde bestimmt schö­ner wer­den als ihrer, sagt sie. Klar, es ist Fei­er­tag und Méla­nie hat ihren lan­gen Tag heute. Sie muß blei­ben bis 16:15 Uhr. Zu spät für Strand. Muß ich sie jetzt bedau­ern? Ich könnte sie pro­blem­los über­trump­fen. Mein Tag ist erst mor­gen früh gegen neun zu Ende. Will sie aber ver­mut­lich nicht wis­sen. Bön cou­rage, Méla­nie.

Viel frü­her schon hatte ich Clau­dia am Tele­fon, Vier­tel vor acht. Das mag ich nicht so gerne, mein Dienst fängt erst um halb neun an. Clau­dia ist Heb­amme. Und Elsäs­se­rin. Aus einem Dorf nicht weit von Col­mar. Das Elsaß ist eine Region, die im Laufe der letz­ten Jahr­hun­derte den ver­schie­dens­ten natio­nalen Ein­flüs­sen unter­wor­fen war. Schweiz, Deutsch­land, Frank­reich. Alle woll­ten was von ihnen und scho­ben sie hin und her. Das zeich­net so einen Men­schen­schlag bis in die Gene­tik. Sie tra­gen die Ver­an­la­gun­gen dreier Natio­nen in sich. Im Schlech­ten und ver­mut­lich auch im Guten. Clau­dia lächelt sel­ten. Sie ist gene­tisch mehr auf der unan­ge­neh­men Seite gelan­det. Auf der dunk­len Seite. Der mit der Gründ­lich­keit der Deut­schen, der Uner­bitt­lich­keit der Schwei­zer und der Anma­ßung der Fran­zo­sen. Clau­dia will mich zum Stand der Dinge im Kreiß­saal infor­mie­ren. Als ob mich das inter­es­sie­ren würde. Schon gleich gar nicht um Vier­tel vor acht. Clau­dia lässt sich in ihren Aus­füh­run­gen nur schwer unter­bre­chen. Da kommt die Uner­bitt­lich­keit so ein biß­chen durch. Okay, ich mag Clau­dia nicht so gerne. Viel­leicht ein­fach nur per­sön­li­che Vor­be­halte. Isa­belle oder Lae­ti­tia wären mir lie­ber gewe­sen. Als Heb­am­men für den Tag.

Eine Stunde spä­ter, Vier­tel vor neun. Der Ortho­päde hat einen kaput­ten Ober­schen­kel zu ope­rie­ren. Teil­pro­these. Doc­teur B. zieht die Kom­mu­ni­ka­tion per sms dem per­sön­li­chen Gespräch vor. Finde ich etwas merk­wür­dig. Wann er ope­rie­ren könne. Zehn Uhr, schreibe ich ihm. Das passt zum Fei­er­tag und läßt mir noch ein paar kleine Spiel­räume. Déc­a­th­lon eben. Die haben auch kei­nen Fei­er­tag. Frü­her, im Kran­ken­haus des nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biets, war eine Zeit­an­gabe der Zeit­punkt für den Beginn des Ein­griffs. Zehn Uhr hieß "Schnitt" um zehn Uhr. Alles fer­tig für den Auf­tritt des Chir­ur­gen. Schla­fen­der Pati­ent, ver­klei­dete Schwes­tern und Assis­ten­ten, das OP-Feld ste­ril. Das erfor­dert einen Vor­lauf von einer guten hal­ben Stunde. In Süd­frank­reich heißt zehn Uhr, man sollte es gegen zehn Uhr nicht mehr weit bis zum Park­platz haben. Nach einer Runde Kaf­fee der Anruf auf der Sta­tion: bringt uns doch mal bitte die Teil­pro­these. Schnitt gegen elf. Bis Frau C. aus dem Auf­wach­raum wie­der auf dem Weg in ihre Sta­tion ist, wird es pro­blem­los halb zwei Uhr nach­mit­tags. Dann könnte ich noch­mal ver­schwin­den.

Zuhause gibt es mas­sen­weise Bau­stel­len, die auf mich war­ten. Ganz aktu­ell der Pool. Pool? Alle haben hier einen Pool. Viel­leicht nicht alle hier, aber die meis­ten aus dem Kran­ken­haus­um­feld. Ver­mut­lich sogar der Bran­car­dier – der Prit­schen­schie­ber, der die Pati­en­ten in ihren Bet­ten von Sta­tion in den OP und wie­der zurück schiebt. Weil der jeman­den kennt, der Bag­ger und Last­wa­gen fährt, weiß, wo man den Aus­hub unauf­fäl­lig depo­nie­ren kann und sich das Becken eben selbst mau­ert, pas de pro­blème. Das Grund­stück mit dem Haus drauf aus der Fami­lie und sowieso deut­lich grö­ßer als die Hand­tuch­par­zel­len in Deutsch­land. Das Was­ser im Pool ganz legal und kos­ten­güns­tig direkt aus dem Canal de Pro­vence. Ein biß­chen Rich­tung Saint-Anto­nin-du-Var viel­leicht, tiefs­tes Hin­ter­land, aber egal. Auch dort gibt es schöne Anwe­sen mit Aus­sicht. Natür­lich ahnt auch der Prit­schen­schie­ber nicht von Anfang an, wie­viel Auf­wand so ein Pool wirk­lich mit sich bringt.

Ich hatte vori­gen Sams­tag Syl­vain da. Syl­vain ist der Spe­zia­list für alles, was die piscine betrifft, den Pool. Syl­vain ist der pisci­niste. Er hat mir nicht nur ein paar Rohre neu geklebt, son­dern auch den Fil­ter mit neuem Sand befüllt. Den alten Sand hat er, neben­bei bemerkt, nicht, wie ich mir das gewünscht hätte, mit­ge­nom­men und irgendwo unauf­fäl­lig ent­sorgt, son­dern nicht wirk­lich dis­kret im Umfeld des Pools ver­teilt. Mit Abstri­chen muß man auch beim Spe­zia­lis­ten leben. Ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Mit vier­hun­dert Euro recht güns­tig ande­rer­seits. Sonst zahle ich jedem Hand­wer­ker Son­der­ta­rife. Auf­schläge. Aus­län­der-Auf­schlag, Dok­tor-Auf­schlag, wenn sie das durch indirs­kre­tes Fra­gen her­aus­fin­den. Und Alt­bau-Auf­schlag. Der Auf­schlag für das Haus eben. Es gibt eine Post­karte davon, frü­hes zwan­zigs­tes Jahr­hun­dert ver­mute ich, "Châ­teau Mon­fleury". Das sage ich kei­nem Hand­wer­ker, sonst gäbe es sofort einen signi­fi­kan­ten Post­kar­ten-Auf­schlag. Und wenn Hand­wer­ker zum Kos­ten­vor­anschlag schon vor dem Bau ste­hen und sagen, Sie haben's aber schön hier, weiß ich, daß sich dafür bereits der Grund­preis ver­dop­peln wird. Allein für das Sie haben's aber schön hier. Da kann ich mir den Mund fus­se­lig reden davon, daß wir gekauft hät­ten vor der Explo­sion der Preise hier in der Gegend, daß wir trotz­dem noch die nächs­ten zehn Jahre daran zu zah­len hät­ten, und nein, das ist nicht unser Zweit­wohn­sitz, wir leben und arbei­ten hier dafür und ja, bringt vor allem Arbeit. Und Kos­ten. Will er gar nicht wis­sen, der Hand­wer­ker, die Tarife ste­hen. Schließ­lich wird noch die Mehr­wert­steuer auf­ge­schla­gen zu den Zuschlä­gen, obwohl, lei­der, das mit der Rech­nung dazu ein biß­chen dau­ern wird, ganz bestimmt aber, nur wäre die Sekre­tä­rin gerade krank oder der Com­pu­ter kaputt. Und Bezah­lung in bar wäre auch schön. Man kann's ja mal ver­su­chen, viel­leicht bin ich dop­pel­ten Aus­län­der­zu­schlag wert.

Zu allem Über­fluß stehe ich schließ­lich doch selbst im Tech­nik­häus­chen an Fil­ter und Pumpe und muß noch was nach­ar­bei­ten. Syl­va­ins Rohre trop­fen, am Fei­er­tag gibt es keine Hand­wer­ker, aber was glau­ben Sie denn. Samedi peut-être, Sams­tag viel­leicht. Genau das, was es eigent­lich zu ver­mei­den galt. Wie gesagt, ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Okay, ich weiß, das ist Jam­mern auf hohem Niveau, ich weiß. Wie das Jam­mern des Lam­bor­ghini-Fah­rers über alberne 110-Schil­der und die Brems­schwel­len allent­hal­ben. Geht eigent­lich nicht, kommt nicht gut an. Außer­dem ist hier Frank­reich, Süd­frank­reich, Côte d'Azur fast, das ganze Jahr Som­mer, Laven­del, Meer, Strand, fri­scher Fisch direkt vor der Tür, all die Kli­schees in echt und jeden Tag von Neuem, was wol­len Sie denn, das ist der Traum eines jeden Deut­schen, da will man sich doch wohl nicht ernst­haft bekla­gen!

Wahr­schein­lich bin ich unter all die­sen Diens­ten und nächt­li­chen Péri­du­ra­les, dem Alt­bau und trop­fen­den Roh­ren gereift für die Insel. Oder für's Klos­ter. Oder eine Hütte ganz weit oben. Ein paar Tage wür­den wohl schon rei­chen. Sieht momen­tan lei­der nicht danach aus. Jedes zweite Wochen­ende im Kran­ken­haus. Der Mai wird schlimm und das ist erst der Anfang vom Som­mer. Jeder der Kol­le­gen wird mal Urlaub haben, ich selbst ab Mitte August. Mitte August! Das ist noch lange hin. Wenn man zu denen gehört, die kei­nen Urlaub haben, zahlt man mit Sub­stanz an Kör­per, Seele und Geist. Und wenn ich mich nach ein paar Tagen Insel, Klos­ter oder Hütte frage, was mache ich hier eigent­lich den gan­zen Tag, kann's wei­ter­ge­hen.

Mit einer Péri­du­rale zum Bei­spiel. Jetzt, 21:54 Uhr. Das geht noch. Für Clai­res Erst­ge­bä­rende. Claire ist eine der Heb­am­men heute Nacht. Stammt aus Mar­seille. Lächelt deut­lich leich­ter mal als Clau­dia.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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