"Otherwise explodes a bomb!"

Hallo Boris, cher ami,

vor vie­len Jah­ren, zu Beginn einer Tür­kei­reise mit mei­nem Schwie­ger­va­ter, hatte ich mir einen Leih­wa­gen zum Hotel bestellt. An einem Mon­tag Mor­gen, acht Uhr. Bereits eine Minute nach acht Uhr konnte mein Schwie­ger­va­ter, immer­hin der Bedeu­tendste Lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins Und Angren­zen­der Ter­ri­to­rien, seine Unge­duld kaum ver­heh­len. Er fuhr einen der Pagen, die gelang­weilt unsere Kof­fer bewach­ten, an, er solle doch mal in der Agen­tur nach­fra­gen. Jetzt. Sofort. Call the agency! Imme­dia­tely! Der Page, ganz ver­dutzt, was sollte er denn mit die­sem blö­den Leih­wa­gen zu tun haben, ver­schwand eilig im Hotel. Wäh­rend­des­sen kul­ti­vierte mein Schwie­ger­va­ter seine Unge­duld. Kri­tik wurde auch mir zuteil. Was das denn für eine win­dige Firma wäre, mit Hertz oder Avis wäre mir das nicht pas­siert, ob ich denn sicher wäre, dass ich wirk­lich eine Reser­vie­rung getä­tigt hätte, das hätte man nun von mei­ner schwä­bi­schen Spar­sam­keit. Keine zehn Minu­ten spä­ter kam der Page zurück. Fand ich erstaun­lich. Ich meine, dass er über­haupt zurück­kam. Aber er kannte eben mei­nen Schwie­ger­va­ter nicht. Musste zudem zuge­ben, nie­man­den erreicht zu haben. Maybe too early, ergänzte er noch. War ehr­lich, aber stra­te­gisch unklug. Too early! Das ging nun gar nicht. Nicht mit mei­nem Schwie­ger­va­ter. Too early gibt es nicht! Mein Schwie­ger­va­ter konnte sei­nen Zorn nicht mehr unter Kon­trolle hal­ten. Zehn Minu­ten über der Zeit immer­hin schon. Wenn jetzt nicht sofort die­ser Wagen käme, brüllte er, dann…, dann… – OTHERWISE EXPLODES A BOMB! Könnte man heut­zu­tage, d'ailleurs, auch nicht mehr ein­fach unge­straft raus­las­sen.

Dein Brief, cher ami, an Orange (frü­her France Télé­com, außer dem Namen hat sich aber nicht viel geän­dert, Anmer­kung der Redak­tion) erin­nert mich so ein biss­chen an den Auf­tritt mei­nes Schwie­ger­va­ters damals.

Nous som­mes très con­tra­riés! Finde ich sti­lis­tisch sehr schön, Eure Ver­är­ge­rung im Klar­text zu beto­nen. Obwohl Deine Ent­rüs­tung und auch Deine Ent­täu­schung, bis auf Klei­nig­kei­ten ortho­gra­phisch weit­ge­hend feh­ler­frei übri­gens, dem Adres­sa­ten eigent­lich nicht ver­bor­gen blei­ben kön­nen. Ich teile jedoch Deine Befürch­tung, die Sach­be­ar­bei­ter bei Orange könn­ten nur wenig Sinn für die seman­ti­schen Fein­hei­ten Dei­ner wohl­ge­schlif­fe­nen Sätze auf­brin­gen wol­len. Des­we­gen Klar­text: Nous som­mes très con­tra­riés! Ande­rer­seits möchte ich jedoch die prin­zi­pi­ell zwei­fel­hafte Moti­va­tion der Mit­ar­bei­ter die­ser quasi-staat­li­chen Struk­tur zu beden­ken geben: Was hat denn irgend­ein Mon­sieur oder irgend­eine Madame von Orange mit dem Tele­fon eines Aus­län­ders in des­sen Zweit­re­si­denz am Ende eines stau­bi­gen Feld­wegs zwi­schen Laven­del­plan­ta­gen im Lub­é­ron zu tun? Kün­di­gen wol­len Sie? Nur zu. Dann blei­ben Sie eben ganz ohne Tele­fon. Am Ende Ihres stau­bi­gen Feld­wegs gibt es höchst­wahr­schein­lich nicht ein­mal Spu­ren eines Mobil­funk­netz­tes. Wir kön­nen Ihnen dann auch nicht mehr hel­fen. Wol­len wir auch gar nicht. Denn, wis­sen Sie, wir sind eine quasi-staat­li­che Struk­tur. Eine quasi-staat­li­che Struk­tur en France! Wir fol­gen unse­ren eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Und Druck machen las­sen wir uns schon mal gar nicht. Außer­dem haben wir gerade Som­mer­fe­rien. Und dann la ren­trée, Schul­an­fang. In Frank­reich, soll­ten Sie mitt­ler­weile doch wis­sen, ist der Schul­an­fang so hei­lig wie Ascen­sion oder Weih­nach­ten. Vor Mitte Sep­tem­ber bewegt sich bei uns gar nichts. Kom­men Sie also bloß nicht auf die Idee, uns Ulti­ma­ten stel­len zu wol­len!

Dein Pro­test­schrei­ben wurde, ver­mut­lich nicht vor Ende Juli, zur all­ge­mei­nen Erhei­te­rung der gesam­ten Beleg­schaft anläss­lich einer Bespre­chung zur Pla­nung der Weih­nachts­fe­rien ver­le­sen. Bestimmt haben sie da einen Jean-Bap­tiste oder eine Marie-Jeanne, die jeden Text aus Deutsch­land mit der grau­si­gen Ton­lage eines Sturm­bann­füh­rers vor­tra­gen kön­nen. Oder der Karl Lager­felds. Fran­zo­sen ste­hen auf sowas, beschert ihnen regel­mä­ßig eine bei­nahe woh­lige Gän­se­haut. Viel­fach kopiert ver­gilbt Dein Pam­phlet seit­dem an den Innen­sei­ten diver­ser Klo­tü­ren und wurde sogar auf hei­mi­sche Kühl­schränke gepinnt. Nous som­mes très con­tra­riés ist bei Orange zum geflü­gel­ten Wort gewor­den. Kann man zu fast jeder Gele­gen­heit anbrin­gen. Zu den mal wie­der mat­schi­gen Pom­mes in der Kan­tine ebenso wie der all­ge­mei­nen Über­las­tung. Ich hatte schon drei Anrufe heute! Drei! Nous som­mes très con­tra­riés! Hahaha.

Ver­mut­lich, cher ami, weißt Du das alles. Oder kannst Dir das als Frank­reich-Vete­ran bes­tens vor­stel­len.

Ande­rer­seits sind meine Erfah­run­gen mit der 3900-Hot­line gar nicht so schlecht. Wenn man erst­mal an der Reihe ist, das kann natür­lich dau­ern, geben sie sich freund­lich und zuge­wandt, zuver­sicht­lich und gera­dezu kom­pe­tent. Kön­nen erstaun­lich prä­zise Fern­dia­gnos­tik betrei­ben und geben über­aus prä­zise Details zu ergrei­fen­den Maß­nah­men zum Bes­ten. Ver­spre­chen Repa­ra­tur inner­halb von zwei, drei Tagen und hal­ten sich sogar meis­tens daran. Im Rah­men der orts­üb­li­chen Gege­ben­hei­ten eben. Ich rufe bei nächs­ter Gele­gen­heit mal an bei der 3900. Und halte Dich auf dem Lau­fen­den.

Bis Mitte Sep­tem­ber wird alles gut sein. Bestimmt.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Ehrenwort

"Assuran­ces Orange, Cindy, bon­jour, que puis-je pour vous?"

Mein Sohn kommt abends mit zer­stör­tem Smart­phone nach Hause. Der Bild­schirm ist gesprun­gen, die Rück­seite hat einen Riß. Harte Lan­dung auf der Ecke oben links. Es kann noch vibrie­ren, sonst aber nichts mehr. Zum Glück habe ich in wei­ser Vor­aus­sicht eine Ver­si­che­rung abge­schlos­sen vor ein paar Mona­ten. 15,99 € pro Monat. Die Rundum-Sorg­los-Ver­si­che­rung von Orange. Mein Sohn neigt dazu, sein Handy alle drei bis sechs Monate im Rah­men eines Total­scha­dens zu wech­seln. Mal fällt er damit in den Pool, mal neh­men ihm Kapu­zen­trä­ger sein Iphone ab. Dies­mal harte Lan­dung auf Asphalt. Ver­mut­lich selbst­ver­schul­det. Für 15,99 Euro ist sämt­li­che bei Orange gekaufte und betrie­bene Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gie des Haus­halts gegen jeden erdenk­li­chen Scha­den ver­si­chert.

Am nächs­ten Mor­gen erzähle ich Cindy von dem Unglück mei­nes Sohns. Ist Ihr Sohn voll­jäh­rig? Mein Sohn ist 19. Voll­jäh­rig. Ich war nicht auf diese Falle vor­be­rei­tet. Das Handy hat einen Ver­trag auf mei­nen Namen. Ich bin der Eigen­tü­mer. Mein Sohn wohnt bei mir im Haus. Die Ver­si­che­rung gilt für alle Mit­glie­der mei­nes Haus­halts. Alle Schä­den. Würde ich denn bei Tele­fon­ver­lust im Rah­men eines Über­falls zum Bei­spiel erst ein ent­spre­chen­des Pro­to­koll in einer Poli­zei­dienst­stelle holen müs­sen? Ist nicht weg gleich weg und kaputt gleich kaputt? Cindy gibt sich unnach­gie­big. Wenn mein Sohn voll­jäh­rig wäre, müßte er per­sön­lich den Scha­den mel­den. Auch wenn er bis 19 Uhr in der Schule wäre? Dann solle er eben anru­fen, sobald er nach Hause käme. Bis 20 Uhr wäre die Hot­line besetzt. Na dann, ich werde mich nicht mit Cindy anle­gen. Sie sitzt sicher am län­ge­ren Hebel. Schnell hat man da einen Ver­merk: "reni­ten­ter Kunde" oder so.

Um 19 Uhr kommt mein Sohn nach Hause und muß die Ver­si­che­rung anru­fen. Natür­lich War­te­schleife. Wahr­schein­lich sind noch andere Eltern an der ers­ten Hürde geschei­tert. Um 19 Uhr war­ten alle Söhne und Töch­ter auf ein Gespräch mit der Ver­si­che­rung. Nach zwan­zig Minu­ten ist mein Sohn an der Reihe. Cindy ist nicht mehr da. Céd­ric hat über­nom­men. Mein Sohn berich­tet, er sei beim Aus­stei­gen aus dem Bus gestol­pert, das Handy hart auf dem Bür­ger­steig gelan­det. Inkom­pa­ti­bel mit einem High­tech-Gerät von Sony. Céd­ric läßt sich den ent­stan­de­nen Scha­den beschrei­ben und erfaßt Marke, Modell sowie IMEI des High­tech-Geräts. Man werde das über­prü­fen und ihm eine Mail schi­cken für das wei­tere Vor­ge­hen. Höchs­tens 48 Stun­den. Man fragt sich natür­lich schon, was da 48 Stun­den geprüft wer­den soll. Gehört ver­mut­lich zur Stra­te­gie. Die Leute sol­len ja abge­schreckt wer­den und nicht alle drei Monate ihr Handy wech­seln wol­len.

"Assuran­ces Orange, bon­jour, Éve­lyne à votre écoute."

48 Stun­den lang war nichts pas­siert. Keine Mail von Céd­ric. Auch Éve­lyne gibt sich ver­wun­dert und betrof­fen. Wahr­schein­lich machen sie Schu­lun­gen bei Assuran­ces Orange zur glaub­haf­ten Ver­mitt­lung eines Betrof­fen­heits­ge­fühls. Und daß Cindy vor­ges­tern offen­bar die zu über­prü­fende Tele­fon­num­mer falsch notiert hat, fin­det Éve­lyne ärger­lich. Glaub­haft. Nimmt mei­nem auf­kei­men­den Ärger den Wind aus den Segeln. Sie sichert mir eine schnelle Über­prü­fung zu, höchs­tens 48 Stun­den, und wünscht im Namen von Assuran­ces Orange einen sehr ange­neh­men Tag.

Assuran­ces Orange, bon­jour, Mar­vin à l'appareil, que puis-je pour vous?"

Diens­tag. Ich habe das Wochen­ende groß­zü­gig ver­strei­chen las­sen. Mon­tag noch immer keine Mail. Auch bis Diens­tag Mit­tag nicht. 24 Stun­den nor­ma­ler­weise, bis 48 Stun­den maxi­mal, habe ich noch im Ohr. Mar­vin fin­det das Pro­blem ganz schnell. Nicht Cindy ist schuld, die sich schon irgend­wie als Schul­dige im Sys­tem zu kris­tal­li­sie­ren schien, son­dern Éve­lyne, die Dame nach Cindy. Mau­vaise mani­pu­la­tion, sagt Mar­vin. Irgend­was hat Éve­lyne wohl falsch gemacht. Fal­scher Klick. Oder kein Klick. Ich könnte ihm nun nicht ver­ber­gen, lasse ich ein­flie­ßen, daß ich mir Sor­gen machen würde um die wei­tere Ent­wick­lung unse­res Dos­siers. Immer­hin schon der zweite Feh­ler. Nein, nein, alles kein Pro­blem, die Unter­su­chung würde jetzt sofort anlau­fen, spä­tes­tens mor­gen die wei­ter­füh­rende Mail. Geschulte Betrof­fen­heit dazu, aus­führ­li­che Ent­schul­di­gung für die ent­stan­dene Ver­zö­ge­rung. Und einen exzel­len­ten Nach­mit­tag!

"Assuran­ces Orange, bon­jour, Hugo à votre écoute."

Sams­tag Abend. Mehr als 48 Stun­den und keine Mail von Mar­vin. Das wun­dert Hugo eigent­lich nicht. Wenn er den Nach­na­men mei­nes Soh­nes sähe, würde er doch ver­mu­ten, daß da ein i feh­len könnte in des­sen gmail-Adresse. Die Unter­su­chun­gen wären abge­schlos­sen, fehlt also tat­säch­lich nur noch die Mail aus dem Sys­tem. Nun ist wie­der Cindy schuld. Abge­fälschte Email-Adresse. Intern, das wür­den sie aber nie zuge­ben bei Orange, hat Cindy ganze Arbeit geleis­tet. Viel mehr ist nicht mög­lich. Schließ­lich sind wir, mein Sohn und ich, ja noch Erst­tä­ter. Der Trick des feh­len­den Buch­sta­ben ist wahr­schein­lich Teil des Basis­re­per­toires der Zer­mür­bungs­stra­te­gie. Zehn Pro­zent der Kun­den geben nach dem Voll­jäh­rig­keitstrick auf. Céd­ric bringt den einen oder ande­ren Sohn zur Stre­cke mit Klau­seln aus den Geschäfts­be­din­gun­gen. Wenn der Sohn zum Bei­spiel zugibt, ein Kum­pel hätte ihn im Bus geschubst. Lei­der, lei­der könnte man in die­sem Fall nun gar nicht hel­fen, das wäre ja ein­deu­tig ein Fall für die Haft­pflicht­ver­si­che­rung des Kum­pels. Fal­sche Tele­fon­num­mer, fal­sche Email-Adresse: wenn das Dos­sier nicht inner­halb von zehn Tagen voll­stän­dig ein­ge­reicht sei, würde die Ver­si­che­rung auch nicht mehr voll grei­fen kön­nen. Kann man nach­le­sen in den Rah­men­be­din­gun­gen.

Hugo hat nun keine Wahl mehr. Er prä­sen­tiert auch wie­der sehr über­zeu­gende Betrof­fen­heit und kün­digt an, nun die rich­tige Adresse "ins Sys­tem schi­cken" zu wol­len. In höchs­tens einer hal­ben Stunde sollte ich die Mail mit den Anlei­tun­gen zum wei­te­ren Vor­ge­hen erhal­ten.

Sonn­tag, zehn Uhr mor­gens. Die Mail ist da. Seit 3:46 Uhr bereits. Das Sys­tem hatte offen­bar noch ordent­lich zu fei­len daran. Läßt mir aber doch den gan­zen Vater­tag, eine hüb­sche Samm­lung aller erfor­der­li­chen oder mut­maß­lich erfor­der­li­chen Doku­mente zusam­men­zu­stel­len. Rech­nung, Lie­fer­schein, Abrech­nun­gen, Bank­ver­bin­dung. Hand­schrift­lich ehren­wört­li­che Dar­stel­lung des Unfall­her­gangs. Das ist die Haus­auf­gabe für mei­nen Sohn. Den Kum­pel in kei­nem Fall erwäh­nen! Wenn ich nichts von einem Kum­pel weiß, muß Cindy auch nichts vom Kum­pel wis­sen. Und ich muß bewei­sen, daß mein Sohn mein Sohn ist und meine Frau, die Ver­si­che­rungs­neh­me­rin, meine Frau. Geburts­ur­kunde, Hei­rats­ur­kunde. Das Ganze schon mal als Mail. Und mor­gen noch ein­ge­schrie­ben.

Nächs­tes Mal wird meine Nokia-Anti­qui­tät ins Was­ser fal­len. Ohne Fremd­ein­wir­kung. Ohne Alko­hol­ein­fluß. Ohne nach­weis­ba­ren Alko­hol­ein­fluß. Mein Ehren­wort.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


12. August

Ganz ähn­lich abge­druckt in der Mai-Aus­gabe der Riviera Zei­tung. Gekürzt natür­lich.