"Otherwise explodes a bomb!"

6. September 2018 Von Bertram Diehl

Hallo Boris, cher ami,

vor vie­len Jah­ren, zu Beginn einer Tür­kei­reise mit mei­nem Schwie­ger­va­ter, hatte ich mir einen Leih­wa­gen zum Hotel bestellt. An einem Mon­tag Mor­gen, acht Uhr. Bereits eine Minute nach acht Uhr konnte mein Schwie­ger­va­ter, immer­hin der Bedeu­tendste Lebende Bild­hauer Schles­wig-Hol­steins Und Angren­zen­der Ter­ri­to­rien, seine Unge­duld kaum ver­heh­len. Er fuhr einen der Pagen, die gelang­weilt unsere Kof­fer bewach­ten, an, er solle doch mal in der Agen­tur nach­fra­gen. Jetzt. Sofort. Call the agency! Imme­dia­tely! Der Page, ganz ver­dutzt, was sollte er denn mit die­sem blö­den Leih­wa­gen zu tun haben, ver­schwand eilig im Hotel. Wäh­rend­des­sen kul­ti­vierte mein Schwie­ger­va­ter seine Unge­duld. Kri­tik wurde auch mir zuteil. Was das denn für eine win­dige Firma wäre, mit Hertz oder Avis wäre mir das nicht pas­siert, ob ich denn sicher wäre, dass ich wirk­lich eine Reser­vie­rung getä­tigt hätte, das hätte man nun von mei­ner schwä­bi­schen Spar­sam­keit. Keine zehn Minu­ten spä­ter kam der Page zurück. Fand ich erstaun­lich. Ich meine, dass er über­haupt zurück­kam. Aber er kannte eben mei­nen Schwie­ger­va­ter nicht. Musste zudem zuge­ben, nie­man­den erreicht zu haben. Maybe too early, ergänzte er noch. War ehr­lich, aber stra­te­gisch unklug. Too early! Das ging nun gar nicht. Nicht mit mei­nem Schwie­ger­va­ter. Too early gibt es nicht! Mein Schwie­ger­va­ter konnte sei­nen Zorn nicht mehr unter Kon­trolle hal­ten. Zehn Minu­ten über der Zeit immer­hin schon. Wenn jetzt nicht sofort die­ser Wagen käme, brüllte er, dann…, dann… – OTHERWISE EXPLODES A BOMB! Könnte man heut­zu­tage, d'ailleurs, auch nicht mehr ein­fach unge­straft raus­las­sen.

Dein Brief, cher ami, an Orange (frü­her France Télé­com, außer dem Namen hat sich aber nicht viel geän­dert, Anmer­kung der Redak­tion) erin­nert mich so ein biss­chen an den Auf­tritt mei­nes Schwie­ger­va­ters damals.

Nous som­mes très con­tra­riés! Finde ich sti­lis­tisch sehr schön, Eure Ver­är­ge­rung im Klar­text zu beto­nen. Obwohl Deine Ent­rüs­tung und auch Deine Ent­täu­schung, bis auf Klei­nig­kei­ten ortho­gra­phisch weit­ge­hend feh­ler­frei übri­gens, dem Adres­sa­ten eigent­lich nicht ver­bor­gen blei­ben kön­nen. Ich teile jedoch Deine Befürch­tung, die Sach­be­ar­bei­ter bei Orange könn­ten nur wenig Sinn für die seman­ti­schen Fein­hei­ten Dei­ner wohl­ge­schlif­fe­nen Sätze auf­brin­gen wol­len. Des­we­gen Klar­text: Nous som­mes très con­tra­riés! Ande­rer­seits möchte ich jedoch die prin­zi­pi­ell zwei­fel­hafte Moti­va­tion der Mit­ar­bei­ter die­ser quasi-staat­li­chen Struk­tur zu beden­ken geben: Was hat denn irgend­ein Mon­sieur oder irgend­eine Madame von Orange mit dem Tele­fon eines Aus­län­ders in des­sen Zweit­re­si­denz am Ende eines stau­bi­gen Feld­wegs zwi­schen Laven­del­plan­ta­gen im Lub­é­ron zu tun? Kün­di­gen wol­len Sie? Nur zu. Dann blei­ben Sie eben ganz ohne Tele­fon. Am Ende Ihres stau­bi­gen Feld­wegs gibt es höchst­wahr­schein­lich nicht ein­mal Spu­ren eines Mobil­funk­netz­tes. Wir kön­nen Ihnen dann auch nicht mehr hel­fen. Wol­len wir auch gar nicht. Denn, wis­sen Sie, wir sind eine quasi-staat­li­che Struk­tur. Eine quasi-staat­li­che Struk­tur en France! Wir fol­gen unse­ren eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten. Und Druck machen las­sen wir uns schon mal gar nicht. Außer­dem haben wir gerade Som­mer­fe­rien. Und dann la ren­trée, Schul­an­fang. In Frank­reich, soll­ten Sie mitt­ler­weile doch wis­sen, ist der Schul­an­fang so hei­lig wie Ascen­sion oder Weih­nach­ten. Vor Mitte Sep­tem­ber bewegt sich bei uns gar nichts. Kom­men Sie also bloß nicht auf die Idee, uns Ulti­ma­ten stel­len zu wol­len!

Dein Pro­test­schrei­ben wurde, ver­mut­lich nicht vor Ende Juli, zur all­ge­mei­nen Erhei­te­rung der gesam­ten Beleg­schaft anläss­lich einer Bespre­chung zur Pla­nung der Weih­nachts­fe­rien ver­le­sen. Bestimmt haben sie da einen Jean-Bap­tiste oder eine Marie-Jeanne, die jeden Text aus Deutsch­land mit der grau­si­gen Ton­lage eines Sturm­bann­füh­rers vor­tra­gen kön­nen. Oder der Karl Lager­felds. Fran­zo­sen ste­hen auf sowas, beschert ihnen regel­mä­ßig eine bei­nahe woh­lige Gän­se­haut. Viel­fach kopiert ver­gilbt Dein Pam­phlet seit­dem an den Innen­sei­ten diver­ser Klo­tü­ren und wurde sogar auf hei­mi­sche Kühl­schränke gepinnt. Nous som­mes très con­tra­riés ist bei Orange zum geflü­gel­ten Wort gewor­den. Kann man zu fast jeder Gele­gen­heit anbrin­gen. Zu den mal wie­der mat­schi­gen Pom­mes in der Kan­tine ebenso wie der all­ge­mei­nen Über­las­tung. Ich hatte schon drei Anrufe heute! Drei! Nous som­mes très con­tra­riés! Hahaha.

Ver­mut­lich, cher ami, weißt Du das alles. Oder kannst Dir das als Frank­reich-Vete­ran bes­tens vor­stel­len.

Ande­rer­seits sind meine Erfah­run­gen mit der 3900-Hot­line gar nicht so schlecht. Wenn man erst­mal an der Reihe ist, das kann natür­lich dau­ern, geben sie sich freund­lich und zuge­wandt, zuver­sicht­lich und gera­dezu kom­pe­tent. Kön­nen erstaun­lich prä­zise Fern­dia­gnos­tik betrei­ben und geben über­aus prä­zise Details zu ergrei­fen­den Maß­nah­men zum Bes­ten. Ver­spre­chen Repa­ra­tur inner­halb von zwei, drei Tagen und hal­ten sich sogar meis­tens daran. Im Rah­men der orts­üb­li­chen Gege­ben­hei­ten eben. Ich rufe bei nächs­ter Gele­gen­heit mal an bei der 3900. Und halte Dich auf dem Lau­fen­den.

Bis Mitte Sep­tem­ber wird alles gut sein. Bestimmt.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.