Schweinehunde

Über den Win­ter hat sich ein gan­zes Rudel inne­rer Schwei­ne­hunde gegen mein Fahr­rad ange­sam­melt. Der Wind an sich, der Wind aus der fal­schen Rich­tung, die Kälte, die Nässe, die Wol­ken, die Regen­wahr­schein­lich­keit. Dazu die übli­chen Schwei­ne­hunde, die immer funk­tio­nie­ren. Der leere Kühl­schrank, zu wenig Kat­zen­fut­ter, der fast ver­stopfte Ablauf der Bade­wanne. Sowas. Wenn es ein Argu­ment gegen ein, zwei Stun­den Rad­fah­ren zu fin­den galt, fand sich auch eins.

Zur Not Stella.

2:16 Uhr das Tele­fon. Stella. Stella, la sage-femme, die Heb­amme. Braucht eine Péri­du­rale für eine Dritt­ge­bä­rende bei fünf Zen­ti­me­tern. Stella bezeich­net sich selbst als chat noir, als jeman­den, der Unglück irgend­wie anzu­zie­hen scheint. Wenn Stella im Kreiss­saal ist, geht immer, na ja, oft was schief. Okay, keine beun­ru­hi­gen­den Ein­zel­hei­ten an die­ser Stelle. Auch im Kreiss­saal kann eben immer wie­der mal was schief­ge­hen. Orga­ni­sa­to­risch, mensch­lich, medi­zi­nisch. Acht Minu­ten spä­ter schon, 2:24 Uhr, finde ich Stella in Saal 4. Der Mut­ter­mund mitt­ler­weile voll­stän­dig eröff­net. Typisch Stella. Eigent­lich zu spät für eine Péri­du­rale. Wie lange es wohl noch dau­ern würde, bis das Kind da sei? Na ja, eine halbe Stunde bestimmt viel­leicht schon noch. Bis die Péri­du­rale fer­tig ist und zu wir­ken beginnt, dau­ert es etwa zwan­zig Minu­ten.

Cap Garonne ist eine Wohn­lage wie Cap Fer­rat in Nizza, Pam­pe­lonne bei Saint-Tro­pez oder Cap Bénat bei Le Lavan­dou. Das Meer in Sicht­weite, Aus­sicht bis Kor­sika, woh­nen Leute – oder kom­men übers Wochen­ende – in Anwe­sen deut­lich jen­seits der Mil­lio­nen­grenze. Bei­la­gen von Hoch­glanz­ma­ga­zi­nen bie­ten sowas an. Drei Mil­lio­nen auf­wärts. Video­über­wa­chung, Pfört­ner, Zugangs­kon­trolle. Rie­sige Ter­ras­sen, Pools, deren blauer Hori­zont mit dem Him­mel ver­schmilzt. Im Fuhr­park eli­täre Roads­ter ohne Dach und rie­sige All­rad­schiffe, viel zu groß für die schma­len Stra­ßen. Am einem Don­ners­tag­mor­gen nach Stella mit­ten in der Nacht sind hier nur weiße Kas­ten­wa­gen unter­wegs, Klemp­ner, Gla­ser, Schlüs­sel­dienste. Auch in der Hoch­glan­z­im­mo­bi­lie geht mal eine Scheibe kaputt, ist mal ein Klo ver­stopft, hat der Nach­wuchs den Code der Alarm­an­lage ver­stellt. Sans faire exprès natür­lich. Warum sollte hier irgend­et­was anders sein als bei nor­ma­len Leu­ten?

Ob sie wirk­lich all die Risi­ken in Kauf neh­men möchte? Für zehn Minu­ten weni­ger Schmerz viel­leicht? – Wel­che Risi­ken? – Na ja, auch eine Péri­du­rale kann töd­li­che Kom­pli­ka­tio­nen mit sich brin­gen. Für Sie oder ihr Baby. So ist das eben in der Medi­zin. Oder Sie in den Roll­stuhl brin­gen. Das war ein biss­chen unfair, ich weiß. Das Glei­che sage ich den wer­den­den Müt­tern in der nor­ma­len Sprech­stunde zwar auch, gehört zur Risi­ko­auf­klä­rung, aber rela­ti­viere diese Risi­ken im glei­chen Atem­zug als heut­zu­tage eher theo­re­tisch.

Vor ein paar Jah­ren, ich kann mich noch prä­zise an den Abschnitt erin­nern, wurde ich von der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin über­holt. In einer Stei­gung. Mor­gens um zehn nach acht. Sie hatte ihr Töch­ter­chen dabei, blond gelockt und in Rosa. Im Anhän­ger. Wahr­schein­lich auf dem Weg in die École mater­nelle. Beide lächel­ten und nick­ten mir auf­mun­ternd zu. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, auch nur dran zu blei­ben. Spä­ter fragte ich mich, ob das Fahr­rad der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin nicht doch mit Bat­te­rie und Motor getunt war.

Die Dritt­ge­bä­rende will es nachts um halb drei unter der Vor­stel­lung nicht uner­heb­li­cher Risi­ken doch lie­ber mit ange­pass­ter Atem­tech­nik zu Ende brin­gen. Muss sich eben Stella mehr bemü­hen. Und kann nicht mehr als Schwei­ne­hund her­hal­ten.

Auf mei­ner Stre­cke über Cap Garonne, gemä­ßigt berg­auf und bergab, gesperrt außer für Anlie­ger und Rad­fah­rer, zwi­schen Pinien, Fel­sen, Man­del­bäu­men, Oli­ven und Fei­gen, gele­gent­lich eilige Kas­ten­wa­gen von vorne oder hin­ten, gibt es, abseits der abge­rie­gel­ten Wohn­be­zirke, zwi­schen ver­wil­der­ten Wein­stö­cken und ein­ge­fal­le­nen Gewächs­häu­sern, noch ursprüng­li­che Häus­chen in Bruch­stein. Man­che mit erheb­li­chem Reno­vie­rungs­be­darf. Aber mit vue mer. Spä­ter, wenn ich mal älter bin, wenn die Kin­der mal nicht mehr zuhause woh­nen und nur alle halbe Jahre für ein Wochen­ende zu Besuch kom­men, reicht mir auch sowas. Von mei­ner Ter­rasse aus kann man das Meer hören, sehen und rie­chen. Am Hori­zont die Fäh­ren nach Kor­sika, Sar­di­nien und Rom, manch­mal die Charles-de-Gaulle. Im Kühl­schrank immer ein Vor­rat von ein paar Fla­schen Rosé. Für die Enkel ein Matrat­zen­la­ger unter dem Dach, zur Abküh­lung reicht der Brun­nen im Gar­ten.

Für mich ein Fahr­rad mit Elek­tro­un­ter­stüt­zung.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Claire

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Die Kas­sie­re­rin wünscht mir einen schö­nen Tag. Danke, Ihnen auch, Méla­nie. Méla­nie ist Kasse 3 bei Déc­a­th­lon. Kas­sie­re­rin­nen mögen das, wenn man sie auch mal als Mensch wahr­nimmt. Wahr­schein­lich sind sie des­we­gen auch meist beschrif­tet. Méla­nie ent­lockt das ein Lächeln. Immer­hin. Mein Tag würde bestimmt schö­ner wer­den als ihrer, sagt sie. Klar, es ist Fei­er­tag und Méla­nie hat ihren lan­gen Tag heute. Sie muß blei­ben bis 16:15 Uhr. Zu spät für Strand. Muß ich sie jetzt bedau­ern? Ich könnte sie pro­blem­los über­trump­fen. Mein Tag ist erst mor­gen früh gegen neun zu Ende. Will sie aber ver­mut­lich nicht wis­sen. Bön cou­rage, Méla­nie.

Viel frü­her schon hatte ich Clau­dia am Tele­fon, Vier­tel vor acht. Das mag ich nicht so gerne, mein Dienst fängt erst um halb neun an. Clau­dia ist Heb­amme. Und Elsäs­se­rin. Aus einem Dorf nicht weit von Col­mar. Das Elsaß ist eine Region, die im Laufe der letz­ten Jahr­hun­derte den ver­schie­dens­ten natio­nalen Ein­flüs­sen unter­wor­fen war. Schweiz, Deutsch­land, Frank­reich. Alle woll­ten was von ihnen und scho­ben sie hin und her. Das zeich­net so einen Men­schen­schlag bis in die Gene­tik. Sie tra­gen die Ver­an­la­gun­gen dreier Natio­nen in sich. Im Schlech­ten und ver­mut­lich auch im Guten. Clau­dia lächelt sel­ten. Sie ist gene­tisch mehr auf der unan­ge­neh­men Seite gelan­det. Auf der dunk­len Seite. Der mit der Gründ­lich­keit der Deut­schen, der Uner­bitt­lich­keit der Schwei­zer und der Anma­ßung der Fran­zo­sen. Clau­dia will mich zum Stand der Dinge im Kreiß­saal infor­mie­ren. Als ob mich das inter­es­sie­ren würde. Schon gleich gar nicht um Vier­tel vor acht. Clau­dia lässt sich in ihren Aus­füh­run­gen nur schwer unter­bre­chen. Da kommt die Uner­bitt­lich­keit so ein biß­chen durch. Okay, ich mag Clau­dia nicht so gerne. Viel­leicht ein­fach nur per­sön­li­che Vor­be­halte. Isa­belle oder Lae­ti­tia wären mir lie­ber gewe­sen. Als Heb­am­men für den Tag.

Eine Stunde spä­ter, Vier­tel vor neun. Der Ortho­päde hat einen kaput­ten Ober­schen­kel zu ope­rie­ren. Teil­pro­these. Doc­teur B. zieht die Kom­mu­ni­ka­tion per sms dem per­sön­li­chen Gespräch vor. Finde ich etwas merk­wür­dig. Wann er ope­rie­ren könne. Zehn Uhr, schreibe ich ihm. Das passt zum Fei­er­tag und läßt mir noch ein paar kleine Spiel­räume. Déc­a­th­lon eben. Die haben auch kei­nen Fei­er­tag. Frü­her, im Kran­ken­haus des nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biets, war eine Zeit­an­gabe der Zeit­punkt für den Beginn des Ein­griffs. Zehn Uhr hieß "Schnitt" um zehn Uhr. Alles fer­tig für den Auf­tritt des Chir­ur­gen. Schla­fen­der Pati­ent, ver­klei­dete Schwes­tern und Assis­ten­ten, das OP-Feld ste­ril. Das erfor­dert einen Vor­lauf von einer guten hal­ben Stunde. In Süd­frank­reich heißt zehn Uhr, man sollte es gegen zehn Uhr nicht mehr weit bis zum Park­platz haben. Nach einer Runde Kaf­fee der Anruf auf der Sta­tion: bringt uns doch mal bitte die Teil­pro­these. Schnitt gegen elf. Bis Frau C. aus dem Auf­wach­raum wie­der auf dem Weg in ihre Sta­tion ist, wird es pro­blem­los halb zwei Uhr nach­mit­tags. Dann könnte ich noch­mal ver­schwin­den.

Zuhause gibt es mas­sen­weise Bau­stel­len, die auf mich war­ten. Ganz aktu­ell der Pool. Pool? Alle haben hier einen Pool. Viel­leicht nicht alle hier, aber die meis­ten aus dem Kran­ken­haus­um­feld. Ver­mut­lich sogar der Bran­car­dier – der Prit­schen­schie­ber, der die Pati­en­ten in ihren Bet­ten von Sta­tion in den OP und wie­der zurück schiebt. Weil der jeman­den kennt, der Bag­ger und Last­wa­gen fährt, weiß, wo man den Aus­hub unauf­fäl­lig depo­nie­ren kann und sich das Becken eben selbst mau­ert, pas de pro­blème. Das Grund­stück mit dem Haus drauf aus der Fami­lie und sowieso deut­lich grö­ßer als die Hand­tuch­par­zel­len in Deutsch­land. Das Was­ser im Pool ganz legal und kos­ten­güns­tig direkt aus dem Canal de Pro­vence. Ein biß­chen Rich­tung Saint-Anto­nin-du-Var viel­leicht, tiefs­tes Hin­ter­land, aber egal. Auch dort gibt es schöne Anwe­sen mit Aus­sicht. Natür­lich ahnt auch der Prit­schen­schie­ber nicht von Anfang an, wie­viel Auf­wand so ein Pool wirk­lich mit sich bringt.

Ich hatte vori­gen Sams­tag Syl­vain da. Syl­vain ist der Spe­zia­list für alles, was die piscine betrifft, den Pool. Syl­vain ist der pisci­niste. Er hat mir nicht nur ein paar Rohre neu geklebt, son­dern auch den Fil­ter mit neuem Sand befüllt. Den alten Sand hat er, neben­bei bemerkt, nicht, wie ich mir das gewünscht hätte, mit­ge­nom­men und irgendwo unauf­fäl­lig ent­sorgt, son­dern nicht wirk­lich dis­kret im Umfeld des Pools ver­teilt. Mit Abstri­chen muß man auch beim Spe­zia­lis­ten leben. Ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Mit vier­hun­dert Euro recht güns­tig ande­rer­seits. Sonst zahle ich jedem Hand­wer­ker Son­der­ta­rife. Auf­schläge. Aus­län­der-Auf­schlag, Dok­tor-Auf­schlag, wenn sie das durch indirs­kre­tes Fra­gen her­aus­fin­den. Und Alt­bau-Auf­schlag. Der Auf­schlag für das Haus eben. Es gibt eine Post­karte davon, frü­hes zwan­zigs­tes Jahr­hun­dert ver­mute ich, "Châ­teau Mon­fleury". Das sage ich kei­nem Hand­wer­ker, sonst gäbe es sofort einen signi­fi­kan­ten Post­kar­ten-Auf­schlag. Und wenn Hand­wer­ker zum Kos­ten­vor­anschlag schon vor dem Bau ste­hen und sagen, Sie haben's aber schön hier, weiß ich, daß sich dafür bereits der Grund­preis ver­dop­peln wird. Allein für das Sie haben's aber schön hier. Da kann ich mir den Mund fus­se­lig reden davon, daß wir gekauft hät­ten vor der Explo­sion der Preise hier in der Gegend, daß wir trotz­dem noch die nächs­ten zehn Jahre daran zu zah­len hät­ten, und nein, das ist nicht unser Zweit­wohn­sitz, wir leben und arbei­ten hier dafür und ja, bringt vor allem Arbeit. Und Kos­ten. Will er gar nicht wis­sen, der Hand­wer­ker, die Tarife ste­hen. Schließ­lich wird noch die Mehr­wert­steuer auf­ge­schla­gen zu den Zuschlä­gen, obwohl, lei­der, das mit der Rech­nung dazu ein biß­chen dau­ern wird, ganz bestimmt aber, nur wäre die Sekre­tä­rin gerade krank oder der Com­pu­ter kaputt. Und Bezah­lung in bar wäre auch schön. Man kann's ja mal ver­su­chen, viel­leicht bin ich dop­pel­ten Aus­län­der­zu­schlag wert.

Zu allem Über­fluß stehe ich schließ­lich doch selbst im Tech­nik­häus­chen an Fil­ter und Pumpe und muß noch was nach­ar­bei­ten. Syl­va­ins Rohre trop­fen, am Fei­er­tag gibt es keine Hand­wer­ker, aber was glau­ben Sie denn. Samedi peut-être, Sams­tag viel­leicht. Genau das, was es eigent­lich zu ver­mei­den galt. Wie gesagt, ich habe noch kei­nen Hand­wer­ker ohne Abstri­che erlebt. Okay, ich weiß, das ist Jam­mern auf hohem Niveau, ich weiß. Wie das Jam­mern des Lam­bor­ghini-Fah­rers über alberne 110-Schil­der und die Brems­schwel­len allent­hal­ben. Geht eigent­lich nicht, kommt nicht gut an. Außer­dem ist hier Frank­reich, Süd­frank­reich, Côte d'Azur fast, das ganze Jahr Som­mer, Laven­del, Meer, Strand, fri­scher Fisch direkt vor der Tür, all die Kli­schees in echt und jeden Tag von Neuem, was wol­len Sie denn, das ist der Traum eines jeden Deut­schen, da will man sich doch wohl nicht ernst­haft bekla­gen!

Wahr­schein­lich bin ich unter all die­sen Diens­ten und nächt­li­chen Péri­du­ra­les, dem Alt­bau und trop­fen­den Roh­ren gereift für die Insel. Oder für's Klos­ter. Oder eine Hütte ganz weit oben. Ein paar Tage wür­den wohl schon rei­chen. Sieht momen­tan lei­der nicht danach aus. Jedes zweite Wochen­ende im Kran­ken­haus. Der Mai wird schlimm und das ist erst der Anfang vom Som­mer. Jeder der Kol­le­gen wird mal Urlaub haben, ich selbst ab Mitte August. Mitte August! Das ist noch lange hin. Wenn man zu denen gehört, die kei­nen Urlaub haben, zahlt man mit Sub­stanz an Kör­per, Seele und Geist. Und wenn ich mich nach ein paar Tagen Insel, Klos­ter oder Hütte frage, was mache ich hier eigent­lich den gan­zen Tag, kann's wei­ter­ge­hen.

Mit einer Péri­du­rale zum Bei­spiel. Jetzt, 21:54 Uhr. Das geht noch. Für Clai­res Erst­ge­bä­rende. Claire ist eine der Heb­am­men heute Nacht. Stammt aus Mar­seille. Lächelt deut­lich leich­ter mal als Clau­dia.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Dienst

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Du woll­test doch immer schon mal mein Kran­ken­haus sehen und was ich so mache den gan­zen Tag. Heute, Sams­tag, habe ich Dienst. Du kommst ein­fach mal mit und guckst mir bei der Arbeit zu.

Sie­ben Uhr muß ich auf­ste­hen. Kaf­fee, Dusche.

Acht Uhr der Anruf bei der Heb­amme im Kreiß­saal. Habt ihr was für mich, eine Péri­du­rale am Lau­fen? Wenn eine Péri­du­rale aktiv ist, muß ich auf halb neun dort sein. Ablö­sung des Kol­le­gen. Die Ablö­sung um spä­tes­tens halb neun an den Wochen­end­ta­gen neh­men alle Kol­le­gen sehr genau. Sonst kommt es fünf oder zehn Minu­ten mehr oder weni­ger nicht an, am Wochen­ende aber zählt jede Minute. Halb neun. Wenn nichts zu tun ist, geht der Kol­lege ein­fach und ich kann zuhause war­ten, bis die Heb­amme doch was hat für mich oder einer der Chir­ur­gen. Meis­tens steht eine kaputte Hüfte auf dem Pro­gramm oder zumin­dest ein Hand­ge­lenk. Das ist aber nor­ma­ler­weise nicht eilig. Die Chir­ur­gen kom­men erst gegen halb zehn ins Kran­ken­haus. Man darf ja nicht ver­ges­sen, wo wir hier sind. Süd­frank­reich. Keine Péri­du­rale im Moment. Lege ich mich noch­mal ins Bett und höre dem Regen zu. Seit wir das Dach neu gedeckt haben vor ein paar Jah­ren und ich nicht mehr mit Eimern und Schüs­seln die gröbs­ten Lecks abfan­gen muß, kann ich den Regen drau­ßen genie­ßen. Es gibt kaum was Schö­ne­res.

Kann ich auch noch mit den Kin­dern früh­stü­cken. Auch schön. Meine Frau früh­stückt nicht. Bekommt Ihre Zei­tung ans Bett und einen klei­nen Kaf­fee. Es ist Sams­tag, immer­hin.

Bis der Anruf kommt. 09:47 Uhr. Logisch. Es war eine Frage der Zeit. Boris­lav, der Bul­gare. Die eine Pati­en­tin, die er eigent­lich heute Mor­gen ope­rie­ren wollte, hat fälsch­li­cher­weise ein Früh­stück bekom­men um halb acht, aber er hat noch eine andere auf Lager. Ist heute Nacht gekom­men, auch der Ober­schen­kel. Die ihrer­seits ist nüch­tern. Wir ver­ab­re­den uns auf halb elf. Erst die zweite, danach die andere, die eigent­lich erste. Bis zum frü­hen Nach­mit­tag gilt die wie­der als nüch­tern und damit als nar­ko­se­fä­hig.

Um zehn Uhr müs­sen wir los. Das Kran­ken­haus ist über die Auto­bahn zwölf Minu­ten von zuhause ent­fernt, über die Natio­nal­straße sieb­zehn. Meis­tens nehme ich die Auto­bahn. Die letzte Aus­fahrt vor Hyè­res. Man sieht das Gebäude links hin­ter einer Bam­bus­he­cke, umge­ben von neuen Sied­lun­gen. Es wirkt trotz sei­ner vier Eta­gen eher geduckt. Oliv­grüne Fas­sade oben und ein rie­si­ger Funk­mast auf dem Dach.

Mein Kran­ken­haus hat nichts zum Vor­zei­gen. Alles ist ganz klein und eher schä­big. Die dop­pelte Schie­be­tür am Haupt­ein­gang ist die ein­zige auto­ma­ti­sche Tür im gan­zen Haus. Es gibt kein Kran­ken­haus-Café, nicht mal eine reprä­sen­ta­tive Ein­gangs­halle. Kein Gra­nit auf dem Boden, nur Lin­oleum-Imi­tat mit Löchern an den Näh­ten. Keine Kunst an den Wän­den. Ein paar immer­grüne Plas­tik­pflan­zen. Die Tele­fon­zen­trale sitzt hin­ter einer Glas­scheibe links neben dem Ein­gang. Bon­jour Patri­cia! Patri­cia ist immer über­aus feund­lich und hat immer Zeit zum Plau­dern. Manch­mal dau­ert es Stun­den, bis sie end­lich ans Tele­fon geht. Ein Stück wei­ter der Kiosk. Ein Schau­fens­ter mit Spiel­zeug, ein paar Zei­tun­gen. Hier bekom­men die Pati­en­ten die Fern­steue­rung für die Glotze in ihrem Zim­mer. Von neun bis zwölf und von vier­zehn bis neun­zehn Uhr. Am Wochen­ende nur vor­mit­tags. Ansons­ten eben Pech gehabt.

Es gibt zwei Auf­züge bis in die vierte Etage, Päd­ia­trie, und ein Trep­pen­haus. Das Trep­pen­haus ist hin­ter einer der blaß­grü­nen Sperr­holz­tü­ren rechts der Auf­züge ver­steckt. Manch­mal wird die Tür genau in dem Moment auf­ge­sto­ßen, in dem man die Hand zum Griff aus­streckt. Das kann schmerz­haft sein. In der ers­ten Etage gelangt man durch wei­tere Sperr­holz­tü­ren, alle im glei­chen Blaß­grün auf den Flur zu den Urgen­ces und zum OP. Meine Tür ist die zweite links. Bloc opé­ra­toire steht drauf und Endo­scopies. Auch Sperr­holz. Die Plas­tik­plat­ten zum Stoß­fang sind an den Rän­dern abge­split­tert. Dar­un­ter tre­ten braune Kleb­stoff­stri­che zutage. Ja, tut mir leid, es wirkt alles ein biß­chen wie Dritte Welt. Stammt aus den acht­zi­ger Jah­ren. Dem Kran­ken­haus geht es wirt­schaft­lich nicht so gut. Drei Mil­lio­nen Defi­zit. Für ernst­hafte Reno­vie­rung reicht es eben nicht. Das Schloss hakt ein biß­chen und die bei­den Flü­gel rei­ben sich anein­an­der. Dahin­ter ist noch alles dun­kel. Wir sind die Ers­ten.

Ja, und das ist mein Büro. Nein, kein Fens­ter. Und nein, ich habe mir die­ses Hell­grau an den Wän­den nicht aus­ge­sucht. Man dachte wohl, das würde gut zum Grau der Stahl­schränke pas­sen. Keine Bil­der. Doch, die Prin­zes­sin da. Ist von mei­ner Toch­ter. Ich habe direkt nach dem Umbau vor ein paar Jah­ren ein paar Hand­tü­cher in den Aus­lass der Kli­ma­an­lage gestopft, sonst wäre es nicht nur grau hier, son­dern auch noch sibi­risch kalt und zugig. Hier kannst du dich in OP-Grün ver­klei­den und dir einen wei­ßen Kit­tel über­wer­fen. Ich muß der Pati­en­tin für die Pro­these noch Hallo sagen. Ich habe meine Arzt­kit­tel aus Deutsch­land mit­ge­bracht, so Kit­tel, wie sie in Deutsch­land eben üblich sind. Hier gibt es nur "blou­ses", eine Art Hem­den mit Druck­knöp­fen. Ursprüng­lich weiß, neh­men sie nach ein paar Durch­gän­gen Wäsche­rei einen dezen­ten Gelb­ton an. Und haben vor allem nur ein klei­nes Täsch­chen rechts. Nicht genug Platz für Ste­tho­skop, Kugel­schrei­ber und Tele­fon. Wenn das Tele­fon klin­gelt, bekommt man es nor­ma­ler­weise nicht frei, bevor die Mess­a­ge­rie anspricht. Blö­des, uncoo­les Gezerre. Meist fällt außer­dem der Kuli. Wenn man das Ste­tho­skop braucht, kommt das Tele­fon gleich mit und geht zu Boden. Auch läs­tig. Meine Kit­tel aus Deutsch­land haben rich­tige Taschen. Eine für das Ste­tho­skop, eine für das Tele­fon, eine für den Kuli.

Bon­jour Madame. – Häh? – BONJOUR MADAME! Madame S. ist über neun­zig Jahre alt. Und schwer­hö­rig. Sie müs­sen ein biß­chen näher kom­men, weil ich schwer­hö­rig bin. Sie ist mit Ope­ra­tion und Nar­kose ein­ver­stan­den. Tout va bien se pas­ser. Das wird schon gut­ge­hen. – Häh? – TOUT VA BIEN SE PASSER!

Vier­tel nach zehn ist Chris­tine auch schon da. Chris­tine ist die Anäs­the­sie­schwes­ter für das ganze Wochen­ende. Sie hatte einen sehr ange­neh­men Frei­tag Abend – sehr ange­nehm – und lächelt noch, immer noch. Wenn ich sie heute Nacht um halb drei zum Kai­ser­schnitt kom­men las­sen muß, wird sie nicht mehr lächeln. Wir hof­fen das Beste, so schlimm wird es schon nicht kom­men. Die zwei OP-Schwes­tern und die Putz­frau las­sen auch nicht mehr lange auf sich war­ten. Nur Boris­lav ist noch nicht da. Mit oder ohne Zucker den Kaf­fee?

Und dann wird es ein biß­chen lang­wei­lig. Nach der ers­ten Hüfte Imbiß für alle. Ist ja schon halb eins inzwi­schen. Fran­zo­sen essen zwi­schen zwölf und zwei. Immer. Auch wenn ihnen der Him­mel auf den Kopf zu fal­len droht. Dann der andere kaputte Ober­schen­kel. Die Pati­en­tin ist inzwi­schen wie­der nüch­tern. Zwi­schen­durch ein Kai­ser­schnitt, Code rouge. Rot heißt, es muß ganz schnell gehen, weil es dem Kind mut­maß­lich ganz schlecht geht. Bei Soraya, der Gynä­ko­lo­gin sind alle Kai­ser­schnitte rote Kai­ser­schnitte, glü­hend rot. Das macht sie ein biß­chen unglaub­wür­dig. Auch heute hätte orange gereicht.

Wenn du dich lang­weilst, kannst du übri­gens den ande­ren Com­pu­ter haben in mei­nem Büro. Gibt aller­dings kein Face­book oder you­tube bei uns. Ist gesperrt, weil die Leute sonst angeb­lich nicht zum Arbei­ten kämen. Glaubt die Direk­tion. Ebay funk­tio­niert.

Ab dem frü­hen Nach­mit­tag bin ich für unsere Sta­tion für Inter­me­diate Care zustän­dig. Der Kol­lege dort hat sich den Vor­mit­tag über um die Kran­ken geküm­mert, ist bis Mit­ter­nacht in Ruf­be­reit­schaft. Inter­me­diate Care ist die Sta­tion für ziem­lich kranke Pati­en­ten. Zu krank für eine Nor­mal­sta­tion, nicht krank genug aber für eine Inten­siv­sta­tion. Für die Inten­siv­sta­tion müß­ten sie in eines der gro­ßen Kran­ken­häu­ser nebenan ver­legt wer­den. Wich­tig ist, daß vor Mit­ter­nacht alle Bet­ten belegt sind. Nichts ist anstren­gen­der als eine Auf­nahme nach Mit­ter­nacht. Mei­nen – hof­fent­lich – abschlie­ßen­den Auf­tritt auf der Sta­tion habe ich da gegen halb zwölf. Letzte Abspra­chen mit dem Pfle­ge­per­so­nal, was in wel­chen Fäl­len zu tun sei. Was gegen Schmer­zen und vor allem was gegen Unruhe. Die Schwes­tern von Inter­me­diate Care essen gegen Mit­ter­nacht. Da wol­len sie nicht gestört wer­den.

Du willst ohne­hin nicht über Nacht blei­ben? Jetzt nach Hause? Stimmt, ist schon spät. Ich sage den Heb­am­men noch gute Nacht und ver­schwinde dann auch in mei­nem Dienst­zim­mer.

Schade, daß es nicht mehr reg­net.

p.s.:

habe ich ver­linkt bei "WMDEDGT", steht für Was Machst Du Eigent­lich Den Ganzen Tag. Immer zum Fünf­ten des Monats. Würde "traf­fic" auf die eigene Seite brin­gen, dachte ich mir. Und Ein­sicht in den einen oder ande­ren inter­es­san­ten Blog. Stimmt bei­des. Traf­fic und Ein­sicht.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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Meilleurs vœux

Frei­tag

Hier­zu­lande, wo sich die Men­schen etwas extro­ver­tier­ter geben, medi­ter­ra­ner eben, wünscht man sich zum Jah­res­wech­sel nicht nur pau­schal alles Gute oder ein Schö­nes Neues. Die bes­ten Wün­sche – meilleurs vœux – wer­den gerne noch in aller­lei Details prä­zi­siert: Glück, Zufrie­den­heit, Geld, Kin­der­se­gen zum Bei­spiel. Erst die Wün­sche, dann die Küsse. Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, Schwes­tern, Pfle­ger, Heb­am­men, die Tele­fo­nis­tin, Hilfs­pfle­ge­rin­nen, alle. Sogar die Ober­schwes­ter und Damen aus der Ver­wal­tung. Damen, die mir völ­lig unbe­kannt sind, die sich sonst ver­mut­lich hin­ter Türen der Tep­pich­bo­den­flure ver­ste­cken. Sieht man ganz sel­ten. Ver­wal­tung eben. Sagen mir wegen mei­nes Kit­tels Bon­jour. Und, des kürz­li­chen Jah­res­wechs­les wegen, bonne année. Den­ken sich, das muß einer der Dok­to­ren sein, den sie ver­wal­ten. Wer­den umge­hend geküßt. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Ser­mon zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jah­ren, noch nicht wirk­lich dahin­ter gekom­men, ob die­ses Ritual bestimm­ten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesund­heit enden. Man kann den Lot­to­ge­winn anbrin­gen, ein neues Auto, Erfül­lung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Sur­tout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuver­sicht und Herz in die Augen gucken. Mit man­chen Schwes­tern und Heb­am­men ist das nett. Das Wün­schen und die ter­mi­na­len Küß­chen links, rechts, mit dezen­tem Anfas­sen. Ober­arm, Unter­arm, Taille. Wo's gerade paßt. Nett, ins­be­son­dere, wenn die Augen nett gucken. Ganz dicht ran, Wange an Wange, ein­at­men, riecht oft gut, Küß­chen.

Kol­la­te­ral muß man auch man­che Män­ner küs­sen. Ber­nard. Chef der Vis­ze­ral­chir­ur­gen. Noch-Chef. Geht die­ses Jahr in Rente. Ber­nard ist lei­der meist unra­siert. Unge­wa­schen. Sein Bad zu Weih­nach­ten ist auch schon einen guten Monat alt. Okay, ich über­treibe etwas. Mas­si­ver Zahn­stein aber, Essen­reste. Olfak­ti­ves Feu­er­werk. Um es mal posi­tiv aus­zu­drü­cken. Ich habe mir für die­ses Jahr eine posi­tive Aus­strah­lung vor­ge­nom­men, übri­gens. Aktive Posi­ti­vie­rung. Am liebs­ten begrüße ich ihn nor­ma­ler­weise von einem zum ande­ren Flu­rende. Nur zum Geburts­tag und wenn es sich durch unglück­li­che zeit­lich-räum­li­che Kon­stel­la­tio­nen gar nicht ver­mei­den läßt, geben wir uns die Hand, seine ist so eine kraft­los-schwam­mig-wei­che. Die sich zudem noch irgend­wie klamm anfühlt. Manch­mal erwischt er mich in mei­nem Büro, um mir weit­schwei­fig von irgend­wel­chen unglaub­lich inter­es­san­ten Fäl­len auf sei­ner Sta­tion zu erzäh­len und meine Mei­nung dazu zu hören. Ver­steckte Blin­därme, ent­zün­dete Diver­ti­kel, ver­sof­fene Bauch­spei­chel­drü­sen. Meine Mei­nung ent­spricht meis­tens sei­ner, ein­fach weil er so aus dem Mund und über­haupt nicht gut riecht. Schwie­rig nur, wenn er mir meh­rere Mei­nun­gen anbie­tet und jede ein­zelne hin­sicht­lich ihrer anäs­the­sio­lo­gi­schen Rele­vanz dis­ku­tiert haben möchte. Aber er ist eben der Chef. Vor Jah­ren mußte er mich zudem als Chef der Com­mis­sion médi­cale d'Établissement zum Beam­ten wäh­len. Hat er trotz anfäng­li­cher Beden­ken gemacht. Dafür bin ich ihm dank­bar. Und er ist älter als ich. Alter wird respek­tiert. Er duzt mich, ich sieze ihn.

An sei­nem ers­ten Arbeits­tag im neuen Jahr erwischt er mich kalt. Auf dem Flur sei­ner Sta­tion laufe ich ihm gera­de­wegs in die Arme. Er nimmt die Brille ab. Das ist das Zei­chen. Wenn ich die Brille abnehme, weiß auch die Tele­fo­nis­tin, daß sie jetzt geküßt wer­den wird. Und gerät ins Stot­tern. Sowas! Wird sogar ein biß­chen rot. Nehme ich auch per­sön­lich. Posi­tiv per­sön­lich. Ber­nard hat also die Brille abge­nom­men. Muß ich also durch mit den Küs­sen. Defi­ni­tiv. Es gibt außer Küs­sen kei­nen Grund, mit­ten auf dem Sta­ti­ons­flur die Brille abzu­neh­men. Küß­chen mit Ber­nard trei­ben mir die Trä­nen in die Augen. Das olfak­tive Feu­er­werk. Aus unmit­tel­ba­rer Nähe ein Poten­tial wie Ammo­niak. Meine Trä­nen nimmt er sicher per­sön­lich. Posi­tiv per­sön­lich offen­bar. Dafür gleich noch­mal. Ich habe ihn schon letz­tes Jahr geküßt. Und das vor­vor­letzte. In all den Jah­ren vor und nach mei­ner Wahl zum Beam­ten. Wahr­schein­lich erin­nert er sich daran. Die­ses wird das letzte Mal gewe­sen sein.

Céline, die Sta­ti­ons­schwes­ter, macht den Neues-Jahr-Zau­ber mit Ber­nard trotz bekann­ter Letzt­ma­lig­keit ohne Anfas­sen und ohne Küs­sen. Das ist mutig. Geht eigent­lich nicht. Ber­nard ist immer­hin der Chef. Und hat die Brille abge­nom­men, mit­ten auf dem Flur, sich leicht vor­ge­beugt. Die Lip­pen zum Küß­chen gespitzt. Mutig von Céline, aber ver­ständ­lich. Ver­mut­lich der Essens­reste wegen. Oder sie hat von sei­ner Ammo­kinak-Aura schon bei der Über­gabe gehört. Läßt sogar die Gesund­heit aus. Hat zufäl­lig gerade beide Hände voll. Ganz zufäl­lig. 28 Fens­ter geht's nicht so gut, nuschelt sie schnell. Und der arme Ber­nard bleibt ohne Brille kurz­sich­tig ste­hen. Tut er mir fast leid.

Mon­tag. Dienst.

Meine Runde über die Sta­tio­nen habe ich hin­ter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereif­ter Blind­darm von Ber­nard in der Not­auf­nahme. Ich lang­weile mich. Abste­cher in den Kreiß­saal. Keine Erst­ge­bä­rende im Kreiß­saal, die nach einem Peri­du­ral­ka­the­ter schreit. Nadja, Lae­ti­tia und Phil­ippe lang­wei­len sich auch. Phil­ippe? Wir haben ziem­lich viele Män­ner bei den Heb­am­men. Phil­ippe, Sébas­tien, Wil­fried und Jérôme. Beruf: Maïeu­ti­cien. Der Begriff für die männ­li­che Heb­amme. Seit ein paar Jah­ren Teil mei­nes akti­ven Wort­schat­zes. Ich habe zusätz­lich bei wiki­pe­dia nach­ge­le­sen. Ent­bin­dungs­pfle­ger hei­ßen sie in Deutsch­land. Heb­amme in Öster­reich auch die männ­li­chen Ver­tre­ter. 2013 keine männ­li­che Heb­amme in Öster­reich. Drei in ganz Deutsch­land. Wir haben vier. An mei­ner Pro­vinz­klit­sche! Dar­un­ter Phil­ippe. Dick­li­cher Gesichts­haar­trä­ger. Voll­bart. Kopf­tuch­frauen sol­len sich mal nicht so anstel­len. Wird ihnen und ihren Män­nern gleich bei der Auf­nahme ver­kün­det. Wahr­schein­lich ein Aus­druck von Liberté und Éga­lité. Viel­leicht paßt das sogar zur Fra­ter­nité. Finde ich per­sön­lich auch ziem­lich grenz­wer­tig. Wäh­rend mei­ner Kar­riere damals, Ende des letz­ten Jahr­tau­sends in katho­li­schen Kran­ken­häu­sern im öst­li­chen West­fa­len, waren männ­li­che Heb­am­men kate­go­risch undenk­bar. Phil­ippe jeden­falls mag ich nicht so. Nicht wegen des Über­ge­wichts oder der Gesichts­be­haa­rung. Viel­leicht ein Vor­ur­teil. Phil­ippe war mal in Indien für ein paar Monate Aus­zeit. Ich hatte gehofft, er würde ein­fach dort blei­ben und in lang­fris­ti­ger Suche nach Erleuch­tung ver­har­ren. Und dann war er doch wie­der da. Ohne Erleuch­tung, wie mir scheint. Wird nicht geküßt. Es gibt Gren­zen. Dafür Lae­ti­tia. Lae­ti­tia sieht aus, als wäre sie mal Model gewe­sen. Guckt auch sehr nett. Ich nehme das per­sön­lich. Obwohl sie ver­mut­lich jeden nett anguckt. Trägt etwas zuviel von zu bil­li­gem Par­fum auf. Sie hat ein Haus gekauft mit ihrem Mann letz­tes Jahr, nicht weit vom Meer, Weih­nach­ten war dies­mal etwas knap­per im Bud­get wohl. Egal. Ein gutes neues Jahr! Die bes­ten Wün­sche! Und – vor allem – Gesund­heit! Santé!

Und Serge. Serge lasse auch ich aus mit dem Küs­sen. Schö­nes Neues, beste Wün­sche, gute Gesund­heit. Die Kurz­fas­sung. Serge ist Prit­schen­schie­ber. Hat nur Ficken im Kopf. Ficken ist nicht meine Wort­wahl, ist Bestand­teil sei­nes akti­ven Sprach­wort­schat­zes in Deutsch. Serge war vor Jah­ren mit sei­ner Col­lège-Klasse auf Aus­tausch in Mann­heim. Isch­libbe­disch hat er außer­dem gelernt und wills­dum­im­mirschlaf­fän. Das ist Serge pur. Aller­dings kann Serge dazu auch Poli­tik. Fragt mich immer, wann ich Angela zum letz­ten Mal so rich­tig ran­ge­nom­men hätte. Fin­det er rasend ori­gi­nell. Ein Joke, der mit zuneh­men­dem Alter an Würze zu gewin­nen scheint. Basal­fran­zose. Tut so, als hätte er schon alle gehabt im Centre hos­pi­ta­lier und in der Stadt dazu. Und ich nur Angela. Ver­mut­lich. Aber immer­hin. Er dafür alle ande­ren, die halb­wegs was her­ma­chen. Angela und ich las­sen uns ande­rer­seits nicht erwi­schen, sage ich dann. Nicht so, wie Ser­ges blö­der Prä­si­dent. Der sich mit einer Schau­spie­le­rin auf dem Mofa foto­gra­fie­ren läßt. Abends. Crois­sants vom Body­guard zum Früh­stück. Wie­der Fotos. Serge fin­det das cool.

Bonne année!

Modi­fi­zier­ter Vor­schlag von für die Januar-Aus­gabe 2016 des Riviera-Maga­zins. Um im Rah­men von 3.500 Zei­chen zu blei­ben:

Hier­zu­lande, wo sich die Men­schen etwas extro­ver­tier­ter geben, medi­ter­ra­ner eben, wünscht man sich zum Jah­res­wech­sel nicht nur pau­schal alles Gute oder ein Schö­nes Neues. Die bes­ten Wün­sche – meilleurs vœux – wer­den gerne noch in aller­lei Details prä­zi­siert: Glück, Zufrie­den­heit, Geld, Kin­der­se­gen zum Bei­spiel. Wün­sche und Küsse. Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, Schwes­tern, Pfle­ger, Heb­am­men, die Tele­fo­nis­tin, Hilfs­pfle­ge­rin­nen, alle wer­den bewünscht und geküsst. Sogar die Ober­schwes­ter und Damen aus der Ver­wal­tung. Damen, die ich nur vom Sehen kenne, die sich sonst hin­ter Türen der Tep­pich­bo­den­flure ver­ste­cken. Sieht man ganz sel­ten. Ver­wal­tung eben. Sagen mir wegen mei­nes Kit­tels Bon­jour. Den­ken sich, das muß einer der Dok­to­ren sein, den sie ver­wal­ten. In Zivil­klei­dung wür­den sie mich maxi­mal für einen Pati­en­ten hal­ten. Wün­schen mir auch, des kürz­li­chen Jah­res­wechs­les wegen, bonne année. Wer­den umge­hend geküsst. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Text zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jah­ren, noch nicht wirk­lich dahin­ter gekom­men, ob die­ses Ritual bestimm­ten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesund­heit enden. Man kann den Lot­to­ge­winn anbrin­gen, ein neues Auto, Erfül­lung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Sur­tout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuver­sicht und Herz in die Augen gucken. Mit man­chen Schwes­tern und Heb­am­men ist das nett. Das Wün­schen und die Küß­chen links, rechts. Vor allem, wenn sie nett gucken. Zum neuen Jahr gucken sie fast alle nett. Spä­ter gibt sich das wie­der. Ganz dicht ran, Wange an Wange, riecht oft gut, Küß­chen.

Kol­la­te­ral muß man auch man­che Män­ner küs­sen. Xavier. Chef der Bauch­chir­ur­gie. Noch-Chef. Xavier geht bald in Rente. Ist lei­der meist unra­siert. Oft unge­duscht. Sein Bad zu Weih­nach­ten ist auch schon einen knap­pen Monat alt. Okay, ich über­treibe etwas. Seine Aura gleicht einem olfak­ti­ven Feu­er­werk. Am liebs­ten begrüße ich ihn nor­ma­ler­weise von einem zum ande­ren Flu­rende. Nur zu Geburts­tag und Jah­res­wech­sel ris­kiere ich Kör­per­kon­takt.

Mon­tag. Dienst.

Meine Runde über die Sta­tio­nen habe ich hin­ter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereif­ter Blind­darm von Xavier in der Not­auf­nahme. Abste­cher in den Kreiß­saal. Keine Erst­ge­bä­rende im Kreiß­saal, die nach einem Peri­du­ral­ka­the­ter schreit. Nadja, Lae­ti­tia und Phil­ippe lang­wei­len sich auch. Phil­ippe? Wir haben ziem­lich viele Män­ner bei den Heb­am­men. Phil­ippe, Sébas­tien, Wil­fried und Jérôme. Beruf: Maïeu­ti­cien. Ent­bin­dungs­pfle­ger hei­ßen sie in Deutsch­land. Heb­amme in Öster­reich auch die männ­li­chen Ver­tre­ter. 2013 kei­ner in Öster­reich, drei in ganz Deutsch­land. Wir haben vier! Und das in tiefs­ter Pro­vinz! Dar­un­ter Phil­ippe. Voll­bart. Über­ge­wicht. Kopf­tuch­frauen sol­len sich mal nicht so anstel­len. Wird ihnen und ihren Män­nern gleich bei der Auf­nahme ver­kün­det. Wahr­schein­lich ein Aus­druck von Liberté und Éga­lité. Viel­leicht paßt das sogar zur Fra­ter­nité. Finde ich per­sön­lich auch eher gewöh­nungs­be­dürf­tig. Würde mir als wer­den­dem Vater auch nicht gefal­len. Aber viel­leicht bin ich in die­ser Hin­sicht etwas kon­ser­va­tiv. Phil­ippe jeden­falls mag ich nicht so. Ihm man­gelt ein biß­chen an pro­fes­sio­nel­ler Dyna­mik. Phil­ippe war mal in Indien für ein paar Monate Aus­zeit. Ich hatte gehofft, er würde ein­fach dort blei­ben und in lang­fris­ti­ger Suche nach Erleuch­tung ver­har­ren. Und dann war er doch wie­der da. Ohne Erleuch­tung, wie mir scheint. Er war­tet immer noch. Wird nicht geküßt. Es gibt Gren­zen.

Dafür Lae­tita. Lae­ti­tia sieht so aus, als wäre sie mal Model gewe­sen. Hat ein zau­ber­haf­tes Lächeln. Ich nehme das per­sön­lich. Obwohl sie ver­mut­lich jeden nett anguckt. Egal. Meilleurs vœux, bonne santé, Küß­chen. Lae­tita ist meine Lieb­lings­heb­amme. Nicht nur wegen ihres Lächelns. Nicht nur, aber auch. Lae­ti­tias Lächeln ist auch um 02:39 Uhr noch zau­ber­haft. Immer. Zum neuen Jahr viel­leicht noch ein Spur zau­ber­haf­ter. Auch um 02:39 Uhr. Wenn sie mich braucht für eine Péri­du­rale oder Césa­ri­enne.

Bonne santé.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr