Dienst
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Du wolltest doch immer schon mal mein Krankenhaus sehen und was ich so mache den ganzen Tag. Heute, Samstag, habe ich Dienst. Du kommst einfach mal mit und guckst mir bei der Arbeit zu.
Sieben Uhr muß ich aufstehen. Kaffee, Dusche.
Acht Uhr der Anruf bei der Hebamme im Kreißsaal. Habt ihr was für mich, eine Péridurale am Laufen? Wenn eine Péridurale aktiv ist, muß ich auf halb neun dort sein. Ablösung des Kollegen. Die Ablösung um spätestens halb neun an den Wochenendtagen nehmen alle Kollegen sehr genau. Sonst kommt es fünf oder zehn Minuten mehr oder weniger nicht an, am Wochenende aber zählt jede Minute. Halb neun. Wenn nichts zu tun ist, geht der Kollege einfach und ich kann zuhause warten, bis die Hebamme doch was hat für mich oder einer der Chirurgen. Meistens steht eine kaputte Hüfte auf dem Programm oder zumindest ein Handgelenk. Das ist aber normalerweise nicht eilig. Die Chirurgen kommen erst gegen halb zehn ins Krankenhaus. Man darf ja nicht vergessen, wo wir hier sind. Südfrankreich. Keine Péridurale im Moment. Lege ich mich nochmal ins Bett und höre dem Regen zu. Seit wir das Dach neu gedeckt haben vor ein paar Jahren und ich nicht mehr mit Eimern und Schüsseln die gröbsten Lecks abfangen muß, kann ich den Regen draußen genießen. Es gibt kaum was Schöneres.
Kann ich auch noch mit den Kindern frühstücken. Auch schön. Meine Frau frühstückt nicht. Bekommt Ihre Zeitung ans Bett und einen kleinen Kaffee. Es ist Samstag, immerhin.
Bis der Anruf kommt. 09:47 Uhr. Logisch. Es war eine Frage der Zeit. Borislav, der Bulgare. Die eine Patientin, die er eigentlich heute Morgen operieren wollte, hat fälschlicherweise ein Frühstück bekommen um halb acht, aber er hat noch eine andere auf Lager. Ist heute Nacht gekommen, auch der Oberschenkel. Die ihrerseits ist nüchtern. Wir verabreden uns auf halb elf. Erst die zweite, danach die andere, die eigentlich erste. Bis zum frühen Nachmittag gilt die wieder als nüchtern und damit als narkosefähig.
Um zehn Uhr müssen wir los. Das Krankenhaus ist über die Autobahn zwölf Minuten von zuhause entfernt, über die Nationalstraße siebzehn. Meistens nehme ich die Autobahn. Die letzte Ausfahrt vor Hyères. Man sieht das Gebäude links hinter einer Bambushecke, umgeben von neuen Siedlungen. Es wirkt trotz seiner vier Etagen eher geduckt. Olivgrüne Fassade oben und ein riesiger Funkmast auf dem Dach.
Mein Krankenhaus hat nichts zum Vorzeigen. Alles ist ganz klein und eher schäbig. Die doppelte Schiebetür am Haupteingang ist die einzige automatische Tür im ganzen Haus. Es gibt kein Krankenhaus-Café, nicht mal eine repräsentative Eingangshalle. Kein Granit auf dem Boden, nur Linoleum-Imitat mit Löchern an den Nähten. Keine Kunst an den Wänden. Ein paar immergrüne Plastikpflanzen. Die Telefonzentrale sitzt hinter einer Glasscheibe links neben dem Eingang. Bonjour Patricia! Patricia ist immer überaus feundlich und hat immer Zeit zum Plaudern. Manchmal dauert es Stunden, bis sie endlich ans Telefon geht. Ein Stück weiter der Kiosk. Ein Schaufenster mit Spielzeug, ein paar Zeitungen. Hier bekommen die Patienten die Fernsteuerung für die Glotze in ihrem Zimmer. Von neun bis zwölf und von vierzehn bis neunzehn Uhr. Am Wochenende nur vormittags. Ansonsten eben Pech gehabt.
Es gibt zwei Aufzüge bis in die vierte Etage, Pädiatrie, und ein Treppenhaus. Das Treppenhaus ist hinter einer der blaßgrünen Sperrholztüren rechts der Aufzüge versteckt. Manchmal wird die Tür genau in dem Moment aufgestoßen, in dem man die Hand zum Griff ausstreckt. Das kann schmerzhaft sein. In der ersten Etage gelangt man durch weitere Sperrholztüren, alle im gleichen Blaßgrün auf den Flur zu den Urgences und zum OP. Meine Tür ist die zweite links. Bloc opératoire steht drauf und Endoscopies. Auch Sperrholz. Die Plastikplatten zum Stoßfang sind an den Rändern abgesplittert. Darunter treten braune Klebstoffstriche zutage. Ja, tut mir leid, es wirkt alles ein bißchen wie Dritte Welt. Stammt aus den achtziger Jahren. Dem Krankenhaus geht es wirtschaftlich nicht so gut. Drei Millionen Defizit. Für ernsthafte Renovierung reicht es eben nicht. Das Schloss hakt ein bißchen und die beiden Flügel reiben sich aneinander. Dahinter ist noch alles dunkel. Wir sind die Ersten.
Ja, und das ist mein Büro. Nein, kein Fenster. Und nein, ich habe mir dieses Hellgrau an den Wänden nicht ausgesucht. Man dachte wohl, das würde gut zum Grau der Stahlschränke passen. Keine Bilder. Doch, die Prinzessin da. Ist von meiner Tochter. Ich habe direkt nach dem Umbau vor ein paar Jahren ein paar Handtücher in den Auslass der Klimaanlage gestopft, sonst wäre es nicht nur grau hier, sondern auch noch sibirisch kalt und zugig. Hier kannst du dich in OP-Grün verkleiden und dir einen weißen Kittel überwerfen. Ich muß der Patientin für die Prothese noch Hallo sagen. Ich habe meine Arztkittel aus Deutschland mitgebracht, so Kittel, wie sie in Deutschland eben üblich sind. Hier gibt es nur “blouses“, eine Art Hemden mit Druckknöpfen. Ursprünglich weiß, nehmen sie nach ein paar Durchgängen Wäscherei einen dezenten Gelbton an. Und haben vor allem nur ein kleines Täschchen rechts. Nicht genug Platz für Stethoskop, Kugelschreiber und Telefon. Wenn das Telefon klingelt, bekommt man es normalerweise nicht frei, bevor die Messagerie anspricht. Blödes, uncooles Gezerre. Meist fällt außerdem der Kuli. Wenn man das Stethoskop braucht, kommt das Telefon gleich mit und geht zu Boden. Auch lästig. Meine Kittel aus Deutschland haben richtige Taschen. Eine für das Stethoskop, eine für das Telefon, eine für den Kuli.
Bonjour Madame. – Häh? – BONJOUR MADAME! Madame S. ist über neunzig Jahre alt. Und schwerhörig. Sie müssen ein bißchen näher kommen, weil ich schwerhörig bin. Sie ist mit Operation und Narkose einverstanden. Tout va bien se passer. Das wird schon gutgehen. – Häh? – TOUT VA BIEN SE PASSER!
Viertel nach zehn ist Christine auch schon da. Christine ist die Anästhesieschwester für das ganze Wochenende. Sie hatte einen sehr angenehmen Freitag Abend – sehr angenehm – und lächelt noch, immer noch. Wenn ich sie heute Nacht um halb drei zum Kaiserschnitt kommen lassen muß, wird sie nicht mehr lächeln. Wir hoffen das Beste, so schlimm wird es schon nicht kommen. Die zwei OP-Schwestern und die Putzfrau lassen auch nicht mehr lange auf sich warten. Nur Borislav ist noch nicht da. Mit oder ohne Zucker den Kaffee?
Und dann wird es ein bißchen langweilig. Nach der ersten Hüfte Imbiß für alle. Ist ja schon halb eins inzwischen. Franzosen essen zwischen zwölf und zwei. Immer. Auch wenn ihnen der Himmel auf den Kopf zu fallen droht. Dann der andere kaputte Oberschenkel. Die Patientin ist inzwischen wieder nüchtern. Zwischendurch ein Kaiserschnitt, Code rouge. Rot heißt, es muß ganz schnell gehen, weil es dem Kind mutmaßlich ganz schlecht geht. Bei Soraya, der Gynäkologin sind alle Kaiserschnitte rote Kaiserschnitte, glühend rot. Das macht sie ein bißchen unglaubwürdig. Auch heute hätte orange gereicht.
Wenn du dich langweilst, kannst du übrigens den anderen Computer haben in meinem Büro. Gibt allerdings kein Facebook oder youtube bei uns. Ist gesperrt, weil die Leute sonst angeblich nicht zum Arbeiten kämen. Glaubt die Direktion. Ebay funktioniert.
Ab dem frühen Nachmittag bin ich für unsere Station für Intermediate Care zuständig. Der Kollege dort hat sich den Vormittag über um die Kranken gekümmert, ist bis Mitternacht in Rufbereitschaft. Intermediate Care ist die Station für ziemlich kranke Patienten. Zu krank für eine Normalstation, nicht krank genug aber für eine Intensivstation. Für die Intensivstation müßten sie in eines der großen Krankenhäuser nebenan verlegt werden. Wichtig ist, daß vor Mitternacht alle Betten belegt sind. Nichts ist anstrengender als eine Aufnahme nach Mitternacht. Meinen – hoffentlich – abschließenden Auftritt auf der Station habe ich da gegen halb zwölf. Letzte Absprachen mit dem Pflegepersonal, was in welchen Fällen zu tun sei. Was gegen Schmerzen und vor allem was gegen Unruhe. Die Schwestern von Intermediate Care essen gegen Mitternacht. Da wollen sie nicht gestört werden.
Du willst ohnehin nicht über Nacht bleiben? Jetzt nach Hause? Stimmt, ist schon spät. Ich sage den Hebammen noch gute Nacht und verschwinde dann auch in meinem Dienstzimmer.
Schade, daß es nicht mehr regnet.
p.s.:
habe ich verlinkt bei “WMDEDGT“, steht für Was Machst Du Eigentlich Den Ganzen Tag. Immer zum Fünften des Monats. Würde “traffic” auf die eigene Seite bringen, dachte ich mir. Und Einsicht in den einen oder anderen interessanten Blog. Stimmt beides. Traffic und Einsicht.
© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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