Claire

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Die Kassiererin wünscht mir einen schönen Tag. Danke, Ihnen auch, Mélanie. Mélanie ist Kasse 3 bei Décathlon. Kassiererinnen mögen das, wenn man sie auch mal als Mensch wahrnimmt. Wahrscheinlich sind sie deswegen auch meist beschriftet. Mélanie entlockt das ein Lächeln. Immerhin. Mein Tag würde bestimmt schöner werden als ihrer, sagt sie. Klar, es ist Feiertag und Mélanie hat ihren langen Tag heute. Sie muß bleiben bis 16:15 Uhr. Zu spät für Strand. Muß ich sie jetzt bedauern? Ich könnte sie problemlos übertrumpfen. Mein Tag ist erst morgen früh gegen neun zu Ende. Will sie aber vermutlich nicht wissen. Bon courage, Mélanie.

Viel früher schon hatte ich Claudia am Telefon, Viertel vor acht. Das mag ich nicht so gerne, mein Dienst fängt erst um halb neun an. Claudia ist Hebamme. Und Elsässerin. Aus einem Dorf nicht weit von Colmar. Das Elsaß ist eine Region, die im Laufe der letzten Jahr­hun­derte den verschiedensten natio­nalen Einflüssen unterworfen war. Schweiz, Deutsch­land, Frank­reich. Alle wollten was von ihnen und schoben sie hin und her. Das zeichnet so einen Menschenschlag bis in die Genetik. Sie tragen die Veranlagungen dreier Nationen in sich. Im Schlechten und vermutlich auch im Guten. Claudia lächelt selten. Sie ist genetisch mehr auf der unangenehmen Seite gelandet. Auf der dunklen Seite. Der mit der Gründlichkeit der Deutschen, der Unerbittlichkeit der Schweizer und der Anmaßung der Franzosen. Claudia will mich zum Stand der Dinge im Kreißsaal informieren. Als ob mich das interessieren würde. Schon gleich gar nicht um Viertel vor acht. Claudia lässt sich in ihren Ausführungen nur schwer unterbrechen. Da kommt die Unerbittlichkeit so ein bißchen durch. Okay, ich mag Claudia nicht so gerne. Vielleicht einfach nur persönliche Vorbehalte. Isabelle oder Laetitia wären mir lieber gewesen. Als Hebammen für den Tag.

Eine Stunde später, Viertel vor neun. Der Orthopäde hat einen kaputten Oberschenkel zu operieren. Teilprothese. Docteur B. zieht die Kommunikation per sms dem persönlichen Gespräch vor. Finde ich etwas merkwürdig. Wann er operieren könne. Zehn Uhr, schreibe ich ihm. Das passt zum Feiertag und läßt mir noch ein paar kleine Spielräume. Décathlon eben. Die haben auch keinen Feiertag. Früher, im Krankenhaus des nordöstlichen Ruhrgebiets, war eine Zeitangabe der Zeitpunkt für den Beginn des Eingriffs. Zehn Uhr hieß “Schnitt” um zehn Uhr. Alles fertig für den Auftritt des Chirurgen. Schlafender Patient, verkleidete Schwestern und Assistenten, das OP-Feld steril. Das erfordert einen Vorlauf von einer guten halben Stunde. In Südfrankreich heißt zehn Uhr, man sollte es gegen zehn Uhr nicht mehr weit bis zum Parkplatz haben. Nach einer Runde Kaffee der Anruf auf der Station: bringt uns doch mal bitte die Teilprothese. Schnitt gegen elf. Bis Frau C. aus dem Aufwachraum wieder auf dem Weg in ihre Station ist, wird es problemlos halb zwei Uhr nachmittags. Dann könnte ich nochmal verschwinden.

Zuhause gibt es massenweise Baustellen, die auf mich warten. Ganz aktuell der Pool. Pool? Alle haben hier einen Pool. Vielleicht nicht alle hier, aber die meisten aus dem Krankenhausumfeld. Vermutlich sogar der Brancardier – der Pritschenschieber, der die Patienten in ihren Betten von Station in den OP und wieder zurück schiebt. Weil der jemanden kennt, der Bagger und Lastwagen fährt, weiß, wo man den Aushub unauffällig deponieren kann und sich das Becken eben selbst mauert, pas de problème. Das Grundstück mit dem Haus drauf aus der Familie und sowieso deutlich größer als die Handtuchparzellen in Deutschland. Das Wasser im Pool ganz legal und kostengünstig direkt aus dem Canal de Provence. Ein bißchen Richtung Saint-Antonin-du-Var vielleicht, tiefstes Hinterland, aber egal. Auch dort gibt es schöne Anwesen mit Aussicht. Natürlich ahnt auch der Pritschenschieber nicht von Anfang an, wieviel Aufwand so ein Pool wirklich mit sich bringt.

Ich hatte vorigen Samstag Sylvain da. Sylvain ist der Spezialist für alles, was die piscine betrifft, den Pool. Sylvain ist der pisciniste. Er hat mir nicht nur ein paar Rohre neu geklebt, sondern auch den Filter mit neuem Sand befüllt. Den alten Sand hat er, nebenbei bemerkt, nicht, wie ich mir das gewünscht hätte, mitgenommen und irgendwo unauffällig entsorgt, sondern nicht wirklich diskret im Umfeld des Pools verteilt. Mit Abstrichen muß man auch beim Spezialisten leben. Ich habe noch keinen Handwerker ohne Abstriche erlebt. Mit vierhundert Euro recht günstig andererseits. Sonst zahle ich jedem Handwerker Sondertarife. Aufschläge. Ausländer-Aufschlag, Doktor-Aufschlag, wenn sie das durch indirskretes Fragen herausfinden. Und Altbau-Aufschlag. Der Aufschlag für das Haus eben. Es gibt eine Postkarte davon, frühes zwanzigstes Jahrhundert vermute ich, “Château Monfleury”. Das sage ich keinem Handwerker, sonst gäbe es sofort einen signifikanten Postkarten-Aufschlag. Und wenn Handwerker zum Kostenvoranschlag schon vor dem Bau stehen und sagen, Sie haben’s aber schön hier, weiß ich, daß sich dafür bereits der Grundpreis verdoppeln wird. Allein für das Sie haben’s aber schön hier. Da kann ich mir den Mund fusselig reden davon, daß wir gekauft hätten vor der Explosion der Preise hier in der Gegend, daß wir trotzdem noch die nächsten zehn Jahre daran zu zahlen hätten, und nein, das ist nicht unser Zweitwohnsitz, wir leben und arbeiten hier dafür und ja, bringt vor allem Arbeit. Und Kosten. Will er gar nicht wissen, der Handwerker, die Tarife stehen. Schließlich wird  noch die Mehrwertsteuer  aufgeschlagen zu den Zuschlägen, obwohl, leider, das mit der Rechnung dazu ein bißchen dauern wird,  ganz bestimmt aber, nur wäre die Sekretärin gerade krank oder der Computer kaputt. Und Bezahlung in bar wäre auch schön. Man kann’s ja mal versuchen, vielleicht bin ich doppelten Ausländerzuschlag wert.

Zu allem Überfluß stehe ich schließlich doch selbst im Technikhäuschen an Filter und Pumpe und muß noch was nacharbeiten. Sylvains Rohre tropfen, am Feiertag gibt es keine Handwerker, aber was glauben Sie denn. Samedi peut-être, Samstag vielleicht. Genau das, was es eigentlich zu vermeiden galt. Wie gesagt, ich habe noch keinen Handwerker ohne Abstriche erlebt. Okay, ich weiß, das ist Jammern auf hohem Niveau, ich weiß. Wie das Jammern des Lamborghini-Fahrers über alberne 110-Schilder und die Bremsschwellen allenthalben. Geht eigentlich nicht, kommt nicht gut an. Außerdem ist hier Frankreich, Südfrankreich, Côte d’Azur fast, das ganze Jahr Sommer, Lavendel, Meer, Strand, frischer Fisch direkt vor der Tür, all die Klischees in echt und jeden Tag von Neuem, was wollen Sie denn, das ist der Traum eines jeden Deutschen, da will man sich doch wohl nicht ernsthaft beklagen!

Wahrscheinlich bin ich unter all diesen Diensten und nächtlichen Péridurales, dem Altbau und tropfenden Rohren gereift für die Insel. Oder für’s Kloster. Oder eine Hütte ganz weit oben. Ein paar Tage würden wohl schon reichen. Sieht momentan leider nicht danach aus. Jedes zweite Wochenende im Krankenhaus. Der Mai wird schlimm und das ist erst der Anfang vom Sommer. Jeder der Kollegen wird mal Urlaub haben, ich selbst ab Mitte August. Mitte August! Das ist noch lange hin. Wenn man zu denen gehört, die keinen Urlaub haben, zahlt man mit Substanz an Körper, Seele und Geist. Und wenn ich mich nach ein paar Tagen Insel, Kloster oder Hütte frage, was mache ich hier eigentlich den ganzen Tag, kann’s weitergehen.

Mit einer Péridurale zum Beispiel. Jetzt, 21:54 Uhr. Das geht noch. Für Claires Erstgebärende. Claire ist eine der Hebammen heute Nacht. Stammt aus Marseille. Lächelt deutlich leichter mal als Claudia.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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