Ignoranz

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Ob ich schon wüßte, daß da, wo frü­her die Citroën-Werk­statt war, in der Nähe des Bahn­hofs, daß da jetzt irgendwo eine Moschee sein müßte, natür­lich nicht in den Räum­lich­kei­ten der Garage selbst, son­dern so ein biß­chen ver­steckt dahin­ter wohl, sie wüßte ja nicht, was auf dem Gelände sonst noch so alles wäre. Sie senkt die Stimme, zu einem Flüs­tern fast, als ob sie mir ein Geheim­nis anver­trauen würde, obwohl da nie­mand ist außer ihr, ihrem Mann und mir, auf mei­ner Ter­rasse. Als ob eine Moschee eine kon­spi­ra­tive Ein­rich­tung wäre.

Isa­belle und Fran­cis haben ein paar Bie­nen­stö­cke bei uns auf­ge­stellt. Seit Jah­ren. Sie leben davon, haben acht­zig Bie­nen­stö­cke über das ganze Dépar­te­ment ver­teilt, bis in die Alpen, wahr­schein­lich ein müh­sa­mes Tun. Zum Sai­son­ende brin­gen sie ein Sor­ti­ment aus ihrer Pro­duk­tion, "mei­nen" Anteil als Gegen­leis­tung für die Über­las­sung der Stand­plätze für die Bie­nen­stö­cke. Zehn Sor­ten haben sie inzwi­schen. Unter ande­rem Laven­del­ho­nig, den ich selbst ein biß­chen zu süß finde, Miel des Alpes, Alpen­ho­nig, Sal­bei- und Wie­sen­ho­nig. Miel de Pro­vence natür­lich auch. Das kau­fen die Tou­ris­ten so gerne. Auf meine Ver­mitt­lung konn­ten sie im Früh­som­mer ein paar Stö­cke im Kas­ta­ni­en­wald um Col­lo­briè­res, einer loka­len Hoch­burg der Ess­kas­ta­ni­en­in­dus­trie, plat­zie­ren.

Sie hätte bis­lang nicht gewußt, daß es, sogar bei uns auf dem Dorf, zuge­ge­ben, ein gro­ßes Dorf, schon Moscheen gäbe, wäre sie nicht letz­ten Frei­tag zufäl­lig an der ehe­ma­li­gen Citroën-Werk­statt vor­bei­ge­kom­men wäre. Das muß nach dem Gebet gewe­sen sein, der ganze Hof der Garage voll, bis auf den Bür­ger­steig, voll mit die­sen Män­nern, bär­tig, im Nacht­hemd, ja, sie sagte Nacht­hemd, che­mise de nuit, in grö­ße­ren und klei­ne­ren Grup­pen. Rich­tig erschro­cken wäre sie ange­sichts so vie­ler Män­ner, die da in aller Öffent­lich­keit ihrem Glau­ben folg­ten, und das bei uns im Dorf! Soweit ist es schon gekom­men. Der Gatte dazu, Fran­cis, sonst ein Mus­ter an Elo­quenz in fach­kun­di­ger Aus­kunft zur Imke­rei, hörte nur zu und war­tete ab. Isa­belle, ver­suchte ich sie zu unter­be­chen, ist doch nichts ein­zu­wen­den, wenn…, gar nicht so ein­fach, zu Wort zu kom­men, Isa­belle hatte sich in Fahrt gere­det. Weil man sie, die Män­ner in ihren Nacht­hem­den, den Kopf­be­de­ckun­gen und den Bär­ten über­haupt nicht ver­ste­hen würde, wer weiß schon, was die da reden, wer weiß schon, was denen am Frei­tag erzählt wird. Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Aber diese Regie­rung unter die­sem Prä­si­den­ten wäre ja viel zu schwach, wohin soll das nur füh­ren mit Frank­reich, wenn die jetzt schon Moscheen haben dürf­ten. – Isa­belle, neuer Ver­such in einer ihrer knap­pen Atem­pau­sen, Got­tes­dienst in aller Öffent­lich­keit ist doch in Ord­nung, das ist also von der Gemeinde abge­seg­net. Das wird schon seine Rich­tig­keit haben, wenn sogar Mon­sieur le Maire (poli­tisch dem Gedan­ken­gut der Le-Pen-Dynas­tie nicht abge­neigt) das nicht ver­hin­dert hat… – Jaja, aber das wäre ja sicher nur die Spitze des Eis­bergs. Woher will man denn wis­sen, was es da noch alles gibt außer Moscheen. Und wer weiß schon, was die da reden, wer weiß schon, was denen am Frei­tag erzählt wird.

Miel de châ­tai­gnier, Kas­ta­ni­en­blü­ten­ho­nig, ist mein ein­deu­ti­ger Favo­rit, kräf­ti­ges Blü­ten­aroma, durch den rela­tiv gerin­gen Glu­ko­se­an­teil eher herb, leicht bit­ter. Erin­nert geschmack­lich an Hus­ten­saft, sagen Igno­ran­ten. Kas­ta­ni­en­ho­nig mit aus­ge­präg­tem Aroma ist schwer zu fin­den. Ist wun­der­bar im Tee, in hei­ßer Zitrone, auf fri­schem Baguette mit But­ter. Meine Frau macht Salat­so­ßen damit. Lässt sich aber auch ein­fach so löf­feln wie Nutella. Fran­cis' und Isa­bel­les Ernte Kas­ta­ni­en­blü­ten­ho­nig fiel wider Erwar­ten üppig aus. Fand gro­ßen Anklang auf den umlie­gen­den Märk­ten. Mit viel Mühe konnte ich mir zwei Kar­tons à zwölf 500-Gramm-Glä­sern reser­vie­ren. Das muß rei­chen bis nächs­tes Jahr. Freund­schafts­preis. Ein Kaf­fee viel­leicht? Non, merci, kei­nen Kaf­fee, wir haben gleich noch ein Ren­dez­vous. Ein Glas Was­ser viel­leicht.

Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Das wer­den ja von ganz alleine immer mehr. Und jetzt auch noch diese Flücht­linge, man weiß ja gar nicht, wo die genau her­kom­men und wer da so kommt. Und ob die wirk­lich alle in Gefahr wären, wagte sie zu bezwei­feln, die meis­ten woll­ten wohl doch nur vom fran­zö­si­schen Sozi­al­sys­tem pro­fi­tie­ren, wenn die mit vier, sechs oder mehr Kin­dern kämen. Kom­men zu uns, essen unser Brot. Und zum Dank dafür brin­gen sie uns auch noch um. Fran­cis, der Imker, ver­suchte nun auch, den Rede­schwall sei­ner Frau zu unter­bre­chen, so schlimm wäre es ja nun auch nicht, nicht mal Frank­reich ging es so schlecht, daß wir nicht zurecht­kom­men könn­ten mit den paar Flücht­lin­gen. In Deutsch­land, Fran­cis spielt mir gegen­über gerne auf Deutsch­land an, mit Angela Mer­köhl, wür­den sie ja mit weit­aus mehr Flücht­lin­gen zurecht­kom­men. Und außer­dem müß­ten sie jetzt mal los zu ihrem Ren­de­vous – Jaja, on y va, aber die Deut­schen wür­den schon noch sehen, was sie davon hät­ten. Noch ginge es ihnen, den Deut­schen also, ja viel bes­ser als uns, aber mit die­sen gan­zen Migran­ten würde sich das nicht mehr lange hal­ten. Wer soll denn das bezah­len? Und die wüß­ten ja auch nicht, Angela Mer­köhl und ihre Regie­rung wüßte ja auch nicht, wen sie da alles ins Land lie­ßen. Und was denen so erzählt wird in den Moscheen. Und was die über­haupt unter­ein­an­der reden. Ver­steht ja kei­ner. Natür­lich gäbe es da ver­mut­lich schwarze Schafe, gelang mir ein­zu­wer­fen, und Fran­cis nickte dazu, aber wohl auch nicht mehr als in der nor­ma­len Bevöl­ke­rung. Natür­lich gäbe es da ein Risiko, aber Men­schen in Not müßte man doch hel­fen, es wären ja auch Kin­der dabei. Die könnte man ja nicht alle im Mit­tel­meer absau­fen las­sen. – Ja, genau, Kin­der, das ist auch so ein Pro­blem, einer kommt, man wüßte gar nicht genau woher und warum und wenn er erst­mal hier ist, kommt die ganze Sipp­schaft nach. Und kei­ner von denen arbei­tet. Alles auf unsere Kos­ten. Die meis­ten wären ohne­hin keine Flücht­linge, die aus Marokko und Alge­rien wären ja nicht im Krieg, die wol­len es nur ein­fach bes­ser haben. – Genau, Isa­belle, so wie ich auch, ich wollte es auch nur ein­fach bes­ser haben, ich bin auch nur wegen der Arbeit hier und der Sonne.

Und des Miel de châ­tai­gnier wegen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


Für Aila, Novem­ber-Aus­gabe des Riviera-Maga­zins, gekürzt auf 4.580 Zei­chen:

Ob ich schon wüßte, daß in der Nähe des Bahn­hofs jetzt irgendwo eine Moschee sein müßte, wohl irgendwo auf dem Gelände der ehe­ma­li­gen Citroën-Werk­statt. Sie senkt die Stimme, zu einem Flüs­tern fast, als ob sie mir ein Geheim­nis anver­trauen würde, obwohl da nie­mand ist außer ihr, ihrem Mann und mir, auf mei­ner Ter­rasse. Als ob eine Moschee eine kon­spi­ra­tive Ein­rich­tung wäre.

Isa­belle und Fran­cis haben ein paar Bie­nen­stö­cke bei uns auf­ge­stellt. Seit Jah­ren. Zum Sai­son­ende brin­gen sie ein Sor­ti­ment aus ihrer Pro­duk­tion, als Gegen­leis­tung für die Stand­plätze. Zehn Sor­ten haben sie inzwi­schen. Natür­lich auch Miel de Pro­vence. Das kau­fen die Tou­ris­ten so gerne. Auf meine Ver­mitt­lung konn­ten sie im Früh­som­mer ein paar Stö­cke bei Col­lo­briè­res plat­zie­ren, einer loka­len Hoch­burg der Maro­nenindus­trie.

Sie hätte bis­lang nicht gewußt, daß es sogar bei uns schon Moscheen gäbe, wäre sie nicht letz­ten Frei­tag zufäl­lig da vor­bei­ge­kom­men. Das muß nach dem Gebet gewe­sen sein, der ganze Hof der Werk­statt voll, bis auf den Bür­ger­steig, voll mit die­sen Män­nern, bär­tig, im Nacht­hemd, ja, sie sagte Nacht­hemd, che­mise de nuit, in Grup­pen. Rich­tig erschro­cken wäre sie ange­sichts so vie­ler Män­ner, die da in aller Öffent­lich­keit ihrem Glau­ben folg­ten, und das bei uns im Dorf! Soweit ist es schon gekom­men. Der Gatte dazu, Fran­cis, sonst ein Mus­ter an Elo­quenz in fach­kun­di­ger Aus­kunft zur Imke­rei, hörte schwei­gend zu. Isa­belle, ver­suchte ich sie zu unter­be­chen, ist doch nichts ein­zu­wen­den, wenn…, ver­geb­lich, Isa­belle hatte sich in Fahrt gere­det. Weil man die Män­ner in Nacht­hem­den, mit Kopf­be­de­ckun­gen und Bär­ten über­haupt nicht ver­stünde, wer weiß schon, was die da reden und was denen am Frei­tag erzählt wird. Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Aber diese Regie­rung unter die­sem Prä­si­den­ten wäre ja viel zu schwach, wohin soll das nur füh­ren mit Frank­reich, wenn die jetzt schon Moscheen haben dürf­ten! – Isa­belle, neuer Ver­such mei­ner­seits, das ist doch wohl von der Gemeinde abge­seg­net. Das wird schon seine Rich­tig­keit haben, wenn sogar Mon­sieur le Maire (poli­tisch dem Gedan­ken­gut der Le-Pen-Dynas­tie nahe) das nicht ver­hin­dert hat. – Jaja, aber das wäre ja sicher nur die Spitze des Eis­bergs.

Miel de châ­tai­gnier, Kas­ta­ni­en­blü­ten­ho­nig, ist mein ein­deu­ti­ger Favo­rit, kräf­ti­ges Blü­ten­aroma, durch den rela­tiv gerin­gen Glu­ko­se­an­teil eher herb, leicht bit­ter. Erin­nert geschmack­lich an Hus­ten­saft, sagen Igno­ran­ten. Mit sei­nem aus­ge­präg­tem Aroma ist Kas­ta­nienblü­tenhonig wun­der­bar im Tee, in hei­ßer Zitrone, auf fri­schem Baguette mit But­ter. Meine Frau macht Salat­so­ßen damit. Lässt sich aber auch ein­fach so löf­feln wie Nutella.

Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Und jetzt auch noch diese Flücht­linge, man weiß ja gar nicht genau, wo die her­kom­men und wer das ist. Und ob die wirk­lich alle in Gefahr wären, bliebe zu bezwei­feln, die meis­ten woll­ten wohl doch nur vom fran­zö­si­schen Sozi­al­sys­tem pro­fi­tie­ren, wenn die mit vier, sechs oder mehr Kin­dern kämen. Kom­men zu uns, essen unser Brot. Und zum Dank dafür brin­gen sie uns auch noch um. Fran­cis, der Imker, ver­suchte nun auch, den Rede­schwall sei­ner Frau zu unter­bre­chen, so schlimm wäre es ja nun auch nicht, nicht mal Frank­reich ginge es so schlecht, daß man nicht zurecht­käme mit den paar Flücht­lin­gen. In Deutsch­land, Fran­cis spielt mir gegen­über gerne auf Deutsch­land an, wür­den sie ja mit weit­aus mehr zurecht­kom­men. Jaja, die wür­den schon noch sehen, was sie davon hät­ten. Noch ginge es denen ja viel bes­ser als uns, aber das würde sich wohl nicht mehr lange hal­ten. Wer soll denn das bezah­len? Angela Mer­köhl wüßte ja auch nicht, wen sie da alles ins Land ließe. Und was denen so erzählt wird in den Moscheen. Und was die über­haupt unter­ein­an­der reden. Ver­steht ja kei­ner. Natür­lich gäbe es da ver­mut­lich schwarze Schafe, gelang mir ein­zu­wer­fen, und Fran­cis nickte dazu, und natür­lich gäbe es da ein Risiko, aber Men­schen in Not müßte man doch hel­fen, es wären ja auch Kin­der dabei. Die könnte man ja nicht alle im Mit­tel­meer absau­fen las­sen. – Ja, genau, Kin­der, das ist auch so ein Pro­blem, einer kommt und wenn er erst­mal hier ist, kommt die ganze Sipp­schaft nach. Und kei­ner von denen arbei­tet. Alles auf unsere Kos­ten. Die meis­ten wären ohne­hin keine Flücht­linge, viele wären ja nicht im Krieg, die wol­len es nur ein­fach bes­ser haben. – Genau, Isa­belle, so wie ich auch, ich wollte es auch nur ein­fach bes­ser haben, ich bin auch nur wegen der Arbeit hier und der Sonne.

Und des Miel de châ­tai­gnier wegen.

Und noch wei­ter gekürzt. Ohne Honig. 3.690 Zei­chen. Fände ich schade.

Ob ich schon wüßte, daß in der Nähe des Bahn­hofs jetzt irgendwo eine Moschee sein müßte, wohl irgendwo auf dem Gelände der ehe­ma­li­gen Citroën-Werk­statt. Sie senkt die Stimme, zu einem Flüs­tern fast, als ob sie mir ein Geheim­nis anver­trauen würde, obwohl da nie­mand ist außer ihr, ihrem Mann und mir, auf mei­ner Ter­rasse. Als ob eine Moschee eine kon­spi­ra­tive Ein­rich­tung wäre.

Sie hätte bis­lang nicht gewußt, daß es sogar bei uns schon Moscheen gäbe, wäre sie nicht letz­ten Frei­tag zufäl­lig da vor­bei­ge­kom­men. Das muß nach dem Gebet gewe­sen sein, der ganze Hof der Werk­statt voll, bis auf den Bür­ger­steig, voll mit die­sen Män­nern, bär­tig, im Nacht­hemd, ja, sie sagte Nacht­hemd, che­mise de nuit, in Grup­pen. Rich­tig erschro­cken wäre sie ange­sichts so vie­ler Män­ner, die da in aller Öffent­lich­keit ihrem Glau­ben folg­ten, und das bei uns im Dorf! Soweit ist es schon gekom­men. Der Gatte dazu, Fran­cis, sonst ein Mus­ter an Elo­quenz in fach­kun­di­ger Aus­kunft zur Imke­rei, hörte schwei­gend zu. Isa­belle, ver­suchte ich sie zu unter­be­chen, ist doch nichts ein­zu­wen­den, wenn…, ver­geb­lich, Isa­belle hatte sich in Fahrt gere­det. Weil man die Män­ner in Nacht­hem­den, mit Kopf­be­de­ckun­gen und Bär­ten über­haupt nicht ver­stünde, wer weiß schon, was die da reden und was denen am Frei­tag erzählt wird. Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Aber diese Regie­rung unter die­sem Prä­si­den­ten wäre ja viel zu schwach, wohin soll das nur füh­ren mit Frank­reich, wenn die jetzt schon Moscheen haben dürf­ten! – Isa­belle, neuer Ver­such mei­ner­seits, das ist doch wohl von der Gemeinde abge­seg­net. Das wird schon seine Rich­tig­keit haben, wenn sogar Mon­sieur le Maire (poli­tisch dem Gedan­ken­gut der Le-Pen-Dynas­tie nahe) das nicht ver­hin­dert hat. – Jaja, aber das wäre ja sicher nur die Spitze des Eis­bergs.

Man müßte das kon­trol­lie­ren, über­wa­chen, sonst könnte alles ja noch viel schlim­mer kom­men. Und jetzt auch noch diese Flücht­linge, man weiß ja gar nicht genau, wo die her­kom­men und wer das ist. Und ob die wirk­lich alle in Gefahr wären, bliebe zu bezwei­feln, die meis­ten woll­ten wohl doch nur vom fran­zö­si­schen Sozi­al­sys­tem pro­fi­tie­ren, wenn die mit vier, sechs oder mehr Kin­dern kämen. Kom­men zu uns, essen unser Brot. Und zum Dank dafür brin­gen sie uns auch noch um. Fran­cis, der Imker, ver­suchte nun auch, den Rede­schwall sei­ner Frau zu unter­bre­chen, so schlimm wäre es ja nun auch nicht, nicht mal Frank­reich ginge es so schlecht, daß man nicht zurechtkäme mit den paar Flücht­lin­gen. In Deutsch­land, Fran­cis spielt mir gegen­über gerne auf Deutsch­land an, wür­den sie ja mit weit­aus mehr zurecht­kom­men. Jaja, die wür­den schon noch sehen, was sie davon hät­ten. Noch ginge es denen ja viel bes­ser als uns, aber das würde sich wohl nicht mehr lange hal­ten. Wer soll denn das bezah­len? Angela Mer­köhl wüßte ja auch nicht, wen sie da alles ins Land ließe. Und was denen so erzählt wird in den Moscheen. Und was die über­haupt unter­ein­an­der reden. Ver­steht ja kei­ner. Natür­lich gäbe es da ver­mut­lich schwarze Schafe, gelang mir ein­zu­wer­fen, und Fran­cis nickte dazu, und natür­lich gäbe es da ein Risiko, aber Men­schen in Not müßte man doch hel­fen, es wären ja auch Kin­der dabei. Die könnte man ja nicht alle im Mit­tel­meer absau­fen las­sen. – Ja, genau, Kin­der, das ist auch so ein Pro­blem, einer kommt und wenn er erst­mal hier ist, kommt die ganze Sipp­schaft nach. Und kei­ner von denen arbei­tet. Alles auf unsere Kos­ten. Die meis­ten wären ohne­hin keine Flücht­linge, viele wären ja nicht im Krieg, die wol­len es nur ein­fach bes­ser haben. – Genau, Isa­belle, so wie ich auch, ich wollte es auch nur ein­fach bes­ser haben, ich bin auch nur wegen der Arbeit hier und der Sonne.

Ameisenscheiße

Erwar­tungs­druck, tat­säch­li­cher oder ein­ge­bil­de­ter, weiß man das schon genau? Dem­nächst ver­mut­lich Abend­essen, die essen ja so früh in Deutsch­land. Bestimmt war­ten sie unten schon, dabei hätte ich gerne mal ein paar Minu­ten für mich gehabt. Wir sind in Ulm. Bei Ver­wandt­schaft, sie aus Nord­deutsch­land, er schon immer hier in der Gegend. Schwabe, tech­nisch ori­en­tiert, nach einem Bier weni­ger Nerd als man von einem Inge­nieur erwar­ten würde. Sie selbst, Ver­wandte mei­ner Frau, macht was mit Sozi­al­päd­ago­gik, glaube ich, so einer der Berufe, die ich mir in ihren Inhal­ten nicht so rich­tig vor­stel­len kann, Bera­tung, Gespräch, Reinte­gra­tion von Dro­gen­kran­ken. Sie hat­ten den zehn­ten Hoch­zeits­tag letz­tes Wochen­ende, alles im grü­nen Bereich, manch­mal beklagt sie sich dis­kret über den rudi­men­tä­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­be­darf ihres Gat­ten. Schwabe eben. Inge­nieur. Das redet nicht so viel. Ich mag die bei­den, sonst wäre ich ja nicht hin­ge­fah­ren. Zwei Kin­der, Töch­ter, beide jün­ger als meine, sie­ben und neun. Mein Sohn glatt außen vor, zu klein die Töch­ter. Diese stän­dig im Wett­streit um die Auf­merk­sam­keit mei­ner Toch­ter. Schril­les Zetern, dis­kre­tes Knei­fen und Schub­sen. Mäd­chen eben. Auf dem Pro­gramm das Ulmer Müns­ter, alle 768 Stu­fen, Maul­ta­schen mit Kar­tof­fel­sa­lat von ges­tern, Kar­tof­fel­sa­lat ist am nächs­ten Tag sowieso noch bes­ser, nicht wahr? Blau­topf in Blau­beu­ren. Ça veut dire quoi, blo­topf, fra­gen die Kin­der. Das Blau soll bei Son­nen­ein­strah­lung am bes­ten zur Gel­tung kom­men. Wirk­lich schön. Ganz unwirk­li­ches, fast kari­bi­sches Lagu­nen­blau. Sech­zehn Grad. Man darf nicht rein­sprin­gen. Kin­der sit­zen auf der Absper­rung und sagen Amei­sen­scheiße. Amei­sen­scheiße ver­hin­dert Gri­mas­sen und sieht auf dem Foto aus wie Lächeln. Spä­ter liegt der Topf im Schat­ten. Und das Blau ist noch viel blauer. Ganz ohne Nach­be­ar­bei­tung. Und viel weni­ger Besu­cher.

blautopf-klein

Le soleil s'éclipse der­rière la… – Die Sonne ver­schwin­det hin­ter… – hin­ter was? Zurück aus dem Urlaub. Seit zwei Wochen. Dienst. Kreiß­saal, halb drei Uhr nachts. Beschrif­tete Erst­ge­bä­rende. Der Urlaub schon längst Geschichte.

Ein Bier viel­leicht schon mal? Ja, gerne, ich komme gleich. Voilà, der Erwar­tungs­druck. Spä­ter, nach Mit­ter­nacht, alko­ho­li­siert. Signi­fi­kant. Lei­der. Eigent­lich hätte ich mich gerne mit dem einen Bier schon mal zufrie­den gege­ben. Dann hatte die Gast­ge­be­rin ihren Rot­wein auf den Tisch gebracht. "Ihren" Rot­wein. Was von Rewe. Ich ver­steh' ja nix von Wein, sagt sie, ich geh' da mehr nach dem Eti­kett. Ganz okay eigent­lich der Wein für Ich ver­steh' ja nix von Wein. Das Eti­kett auch okay. Kann ich da Nein sagen? Erwar­tungs­druck. Zum Wein gibt's Foto­bü­cher. Die Hoch­zeit, die ers­ten drei Jahre des ers­ten Kinds, die ers­ten drei Jahre des zwei­ten Kinds. Zwei­hun­dert Bil­der jeweils, unwi­der­steh­li­ches Son­der­an­ge­bot auch von Rewe, glaube ich, oder Aldi. Nett, so Foto­bü­cher. Wenn man sie nicht jeden Tag anse­hen muß. Man­che Sta­tis­ten mir nicht unbe­kannt, Fami­lie im wei­te­ren Sinn immer­hin, man­che davon waren auch schon bei mir auf der Ter­rasse, man­che sogar im Pool, man­che kenne ich vom Namen, meine Frau bei der Hoch­zeit, me mys­elf im Album zu den ers­ten drei Jah­ren des zwei­ten Kinds. Als Sta­tist. Im Hin­ter­grund noch die Pal­men. Auch Geschichte mitt­ler­weile. Und zwei­hun­dert Bil­der zu einer Hus­ky­tour des Gat­ten in Nord­finn­land. Geburts­tags­ge­schenk zum Fünf­zigs­ten. Hus­kies. Schnee­land­schaft. Mit­kämp­fer, Jacob, knapp sech­zig, und vier junge Frauen unter drei­ßig. Jas­mina zum Bei­spiel, erstaun­lich hübsch. Erstaun­lich hübsch für den Kon­text. Hus­ky­tour, wel­che junge Frau unter drei­ßig zieht sich sowas schon rein? In Nord­finn­land. Und Lisa, die Hun­de­füh­re­rin. Bil­der vor­wie­gend von der Schnee­land­schaft und den Hun­den. Nord­licht. Manch­mal Lisa. Wenig Jas­mina. Was aber hätte eine erstaun­lich hüb­sche Jas­mina schon in der Samm­lung von Fami­li­en­al­ben ver­lo­ren? Begleit­text vom Aben­teu­rer. Mor­gens mußte die Hun­de­scheiße auf­ge­sam­melt wer­den. Nicht so schlimm, sagt der Aben­teu­rer. War ja gefro­ren bei minus 17 Grad. Hun­de­scheiße ist gefro­ren nicht so schlimm. Nicht. So. Schlimm.

Zehn Tage Deutsch­land. Ruhr­ge­biet, Schwa­ben, Baden.

Nur einen ein­zi­gen Tag davon hatte ich vor­wie­gend mit den Kin­dern, abge­se­hen mal vom übli­chen Sit­zen abends mit den Gast­ge­bern. Klet­ter­wald in der Nähe von Frei­burg. Klet­tern in Bäu­men, auf Sei­len, wack­li­gen Brü­cken, Seil­rut­schen, Mut­pro­ben, Tar­zan­sprünge von Baum zu Baum, in zehn bis zwan­zig Metern Höhe. Alles natür­lich gesi­chert, immer zwei Haken am Seil, in der Nähe von Frei­burg sogar mit Helm. Fan­den meine Kin­der albern, was soll uns denn hier auf den Kopf fal­len? Haben sie recht. In Deutsch­land ist eben alles noch ein biß­chen siche­rer. Zum Abschluß Bag­ger­see unter­halb des Kai­ser­stuhls. Wun­der­bar tür­kis­far­be­nes Was­ser, fast klar, viel­leicht zwan­zig Grad, eher frisch. Hier darf man rein­sprin­gen. Sogar die Toch­ter kann das, obwohl sie das gar nicht gerne macht, wenn sie den Grund nicht sieht, so klar und in gerade Bah­nen auf­ge­teilt wie in der piscine.

Spä­ter wie­der sit­zen am Bier. Mit dem Gast­ge­ber und der Gat­tin. Der drit­ten. Das wech­selt immer wie­der mal. Alle fünf bis zehn Jahre. Die aber wird blei­ben, ver­mute ich. Das passt schon. Bio-Ver­käu­fe­rin, erwach­sene, auto­nome Kin­der außer Haus. Und sie kann mit dem Chaos des Gast­ge­bers leben. Mit dem dschun­gel­ar­ti­gen Gelände hin­ter dem Haus. An man­chen Stel­len fin­det man angeb­lich Melo­nen, auch Boh­nen und Salat, sogar Toma­ten soll es irgendwo geben. Mit­ten­drin eine Sitz­gruppe. Die Plat­ten, Natur­sand­stein, krea­tiv ver­legt, ein biß­chen uneben. Jeder Stuhl wackelt. Macht nix. Die Gat­tin kann auch damit leben, daß seine Woh­nung aus­sieht wie eine Bau­stelle. Nichts ist wirk­lich fer­tig. Seit Jah­ren. Jahr­zehn­ten. Nichts funk­tio­niert wirk­lich. Was­ser­hähne mit dem war­men Was­ser auf der fal­schen Seite. Offene Steck­do­sen. Und, sagt die Gat­tin, angeb­lich hat sie vor­her was auf­ge­räumt, nor­ma­ler­weise lägen Klei­dungs­stü­cke über­all herum, Hem­den, Socken, Unter­ho­sen, wo sie ihm eben gerade vom Leib fal­len. Macht dich das nicht wahn­sin­nig? – Noi, i mach des gern. – Häh? Gerne? Das meinst du nicht wirk­lich. – Doch, doch, Wäsche mache ich gerne. Ich lasse jetzt mal den star­ken schwä­bi­schen Akzent der Gat­tin weg. Waschen, auf­hän­gen, bügeln, fal­ten und am Ende ist alles schön ordent­lich im Schrank gesta­pelt. Das schön ordent­lich Gesta­pelte befrie­digt sie. Der Weg dahin macht ihr Freude. Ich erin­nerte mich, daß sie mir das schon mal erzählt hatte. Ihre Schränke sehen tat­säch­lich auch von innen so aus. Und die des Gast­ge­bers auch, übri­gens. Gebü­gelt, gesta­pelt. Obwohl die Woh­nung sonst nicht so aus­sieht, als wäre da kurz vor­her mal jemand durch­ge­gan­gen. Bau­stel­len eben, offene Steck­do­sen, teil­ver­leg­tes Par­kett, Licht­schal­ter mit­ten im Durch­gang auf dem Boden. Die Gat­tin, ursprüng­lich nur Mie­te­rin im Haus, hat ihre eigene Woh­nung oben behal­ten. Da ist alles tip­top. Mal abge­se­hen vom Was­ser­hahn im Bad mit dem Warm auf der fal­schen Seite. Mög­li­cher­weise kann sie den tech­ni­schen und orga­ni­schen Dschun­gel in den Räum­lich­kei­ten ihres Gat­ten nur so, aus siche­rem Rück­zugs­ter­rain, aus­hal­ten.

Von der Mitte des lin­ken Schul­ter­blatts in Tief­blau­grau und schlei­fi­ger Schrift im Bogen bis in den Nacken. Mehr zum rech­ten Ohr hin. Le soleil s'éclipse der­rière la… – das letzte Wort ver­schwin­det unter der Kopf­haube. Wäh­rend der Anlage mei­nes Peri­du­ral­ka­the­ters bin ich immer wie­der ver­sucht, einen Blick unter diese Kopf­haube zu wer­fen, um eben die­ses letzte Wort, der­rière was denn, zu erfah­ren. Bestimmt irgend­was wahn­sin­nig Phi­lo­so­phi­sches, joie viel­leicht oder beauté. Ich hätte mich bücken müs­sen und das hätte irgend­wie blöde aus­ge­se­hen in den Augen der Heb­amme und des Man­nes zur Gebä­ren­den mir genau gegen­über. Mit ste­ri­lem Hand­schuh den Rand der Haube mal eben anhe­ben geht natür­lich auch gar nicht.

Abends fiel die Fami­lie fran­zö­si­scher Freunde mei­ner­seits im Dschun­gel ein. Musi­ker im Orches­ter der Oper von Tou­lon. Künst­ler mit der Men­ta­li­tät dazu. Auf eine Stunde hin oder her kommt es nun wirk­lich nicht an. Fran­zo­sen. Auf einen Tag? Es wurde dann wirk­lich spät, nach neun, die Gast­ge­be­rin müh­sam kom­pen­siert. Unver­kenn­bar unter­zu­ckert. Der Deut­sche sitzt um sie­ben Uhr am Tisch. Und hat Hun­ger. Unsere fran­zö­si­sche Fami­lie hin­ge­gen hatte bis zum Vor­abend nicht ver­in­ner­licht, daß unser Ren­dez­vous für den Mitt­woch Abend geplant war. Seit Wochen geplant. Immer wie­der nach­ge­fragt, bleibt es dabei? Immer wie­der bestä­tigt. Mer­credi soir?Oui, mer­credi soir. Und nicht etwa Don­ners­tag. Für jeudi war Europa-Park geplant. Kein Ver­hand­lungs­spiel­raum mei­ner­seits, weil unser Rück­flug ab Basel für den Abend gebucht war. Mitt­woch Mor­gen befand sich die Fami­lie zwar bereits auf dem Rück­weg einer Nor­we­gen-Reise, aber noch irgendwo nörd­lich von Kopen­ha­gen. Kopen­ha­gen! Sie hat­ten ursprüng­lich geplant, sogar noch einen Abste­cher nach Leip­zig zu machen. Leip­zig! Mitt­woch. In die Stadt von Bach. Johann Sebas­tian. Da woll­ten sie als Musi­ker was besich­ti­gen. Und dann erst wei­ter nach Stutt­gart. Europa-Park ist doch irgendwo in der Nähe von Stutt­gart? Ja, schon, irgendwo in der Nähe. Für jeman­den, der gut fünf­tau­send Kilo­me­ter nach einem Taschen­at­las in drei Wochen fährt, ist der Europa-Park nur einen Kat­zen­sprung von Stutt­gart ent­fernt. So muß­ten sie, ganz über­ra­schend, von jen­seits von Kopen­ha­gen bis fast Frei­burg fah­ren. Drei­zehn Stun­den. Die Kin­der hin­ten ken­nen das. Span­nung dabei bis auf die letz­ten Kilo­me­ter. Haben sie die sms mit der Weg­be­schrei­bung bekom­men, neh­men sie jetzt die rich­tige Abfahrt? Hek­ti­sche Tele­fo­nate ab halb neun, nein, nach der Ampel nicht links, son­dern rechts. Die Gast­ge­be­rin am Rande eines Ner­ven­zu­sam­men­bruchs, hung­rig, i ess jetz. Käs'schbätzle. Machen sie immer, wenn ich zu Besuch bin. Und nur das. Kein Entrée, kein Salat, kein Nach­tisch. Fran­zo­sen haben andere Vor­stel­lun­gen von einem Dîner. Die Käs'schbätzle aber selbst geschabt. Sehr schön mit Zwie­beln. Nicht mal Kaf­fee. Wenn die Käs'schbätzle weg sind, auf'gesse, ist das Dîner zu Ende. Ein Bier viel­leicht noch. Um zehn mußte ihnen der Gast­ge­ber die Woh­nung im Dorf zei­gen. Zoig dene doch mol die Zim­mer. Damit war der Abend offi­zi­ell zu Ende. I muss jetz' schlofa. Und weg. Un peu rus­tique fan­den die Musi­ker das alles. Das Dorf, die Woh­nung, den Gar­ten. Das Dîner. Rus­tique. Stimmt schon. Wel­ten pral­len auf­ein­an­der.

Ein paar Tage frü­her ganz am Anfang mei­nes Urlaubs, waren wir in Bochum. Das Ruhr­ge­biet zeigte sich von sei­ner schöns­ten Seite. Sonne und Grün. Es gibt einen Stau­see, viel­be­such­tes Nah­erho­lungs­ge­biet, die Was­ser­qua­li­tät reicht noch immer nicht zum Schwim­men. Frü­her, also Ende des zwei­ten Jahr­tau­sends gab es zwei Wege um die­sen Stau­see, einen für die Fuß­gän­ger, einen für die Rad­fah­rer. Rich­tig schön war damals, früh mor­gens, vor der Arbeit noch, also deut­lich vor sie­ben, Früh­ne­bel über dem Was­ser, Hasen und Rehe auf den Wie­sen, per Inli­ner um den See zu fah­ren. Knapp 10 km. Meist fast alleine. Das gehört zu den Din­gen, die mir wirk­lich feh­len in Frank­reich. Der Stau­see, der Früh­ne­bel, das Inli­nen um den See. Spä­ter am Tag war man schon weni­ger alleine. Und ent­we­der wurde man von Fuß­gän­gern blo­ckiert oder von Rad­fah­rern weg­ge­klin­gelt. Eher aggres­si­ves Ambi­ente. Mitt­ler­weile gibt es einen drit­ten Weg, fast durch­ge­hend, für die Inli­ner. Dort waren wir mit Freun­den und ihrem Sohn. Ein­mal um den See. Sehr anstren­gend. Für mich. Den Kin­dern war keine Anstren­gung anzu­mer­ken. Wahr­schein­lich liegt es an man­geln­der Übung mei­ner­seits. Oder an mei­ner Aus­rüs­tung, zwan­zig Jahre alt. Was ist denn mit dir los, frag­ten die Freunde am Ende, so kaputt, wie du aus­siehst. Ob ich nicht mal mein Herz unter­su­chen las­sen wollte. Keine Lip­pen­zya­nose aller­dings, muß­ten sie zuge­ben, kein Hin­weis auf ein aku­tes, lebens­be­droh­li­ches Pro­blem. Kaputt eben. Die Räder dre­hen sich nicht mehr rich­tig an mei­nen Schu­hen. Rutscht ihr doch erst­mal zehn Kilo­me­ter auf abge­brauch­ten Rädern! Zuhause woll­ten sie trotz­dem mei­nen Blut­druck mes­sen. Nor­mal der Blut­druck. Der Freund, auch vom Fach, wollte mich abhö­ren. Eine Klap­pen­in­suf­fi­zi­enz viel­leicht oder eine Stenose. Viel­leicht eine Aor­tenisth­muss­tenose. Wieso aus­ge­rech­net Aor­tenisth­muss­tenose? Ist das nicht was Ange­bo­re­nes? Egal, Aor­tenisth­muss­tenose am eige­nen Ste­tho­skop hätte dem Kol­le­gen beson­ders gut gefal­len. Er hat aber nichts gehört, der Kol­lege. Keine Stenose, keine Insuf­fi­zi­enz. Weil da nichts ist. Ich habe nichts am Her­zen. Kaputte Räder, das ist alles.

So eine Péri­du­rale dau­ert viel­leicht zehn Minu­ten vom Des­in­fi­zie­ren des Bereichs unten am Rücken bis zum Ver­band. Nach dem Ver­band kommt die Haube ab – Le soleil s'éclipse der­rière la… lune. La lune! Ent­täu­schend, ich hatte mir was Kom­ple­xe­res erhofft, was Über­ra­schen­de­res, was Phi­lo­so­phi­sches, mehr jeden­falls als ein­fach nur den Mond. Aber was soll man schon erwar­ten bei einem Tat­too? Was kann man schon bei einem Publi­kum erwar­ten, wel­ches sich mit Schrift­zü­gen ver­sieht? Die Sonne ver­schwin­det also hin­ter dem Mond. Son­nen­fins­ter­nis auf dem Rücken einer Erst­ge­bä­ren­den. Voilà, was sonst?

Im Schwä­bi­schen bei einem Bru­der und sei­ner Frau. Unsere Eltern zum Gril­len. Das reicht denen. In der Kürze liegt die Würze. Ein­mal Gril­len mit dem Sohn aus Frank­reich pro Jahr reicht. Die Schwä­ge­rin hat zur gro­ßen Freude der Toch­ter zwei Hunde. Einer davon hat es mit dem Frau­chen dazu auf den vier­ten Platz der deut­schen Meis­ter­schaft gebracht in Agi­lity und Obedience. Wenn der zuviel rennt mit mei­ner Toch­ter, kommt er ins Schnau­fen und muß Pause machen. For­dert die Schwä­ge­rin. Bestimmt Aor­tenisth­muss­tenose. Und die Toch­ter war­tet brav, bis der Hund nicht mehr hechelt. Dür­fen wir jetzt wie­der spie­len?

Zwi­schen­durch tou­ris­ti­sche Ein­la­gen. Fern­seh­turm in Stutt­gart, Auf­zug sechs Sekun­den mit ange­trun­ke­nem Fahr­stuhl­füh­rer. Ohne Hund. Spa­zier­gang im Schön­buch, mit Hund. Die Kin­der ken­nen Wald, wie er wirk­lich ist, nur von Besu­chen in Deutsch­land. Schwim­men in einem Bag­ger­see im Neckar­tal. Zu spät aller­dings für Früh­ne­bel und Rehe. Des Bru­ders Elek­tro-Spiel­zeug beschleu­nigt zwar in drei Komma neun Sekun­den von Null auf Hun­dert, der Navi aber braucht google zum Den­ken. Ohne Funk­netz gerät der Wagen direkt in eine google-Wüste. Der Natur­park Schön­buch macht google-Wüste auf den Touch­screen. Weg der Bag­ger­see. Zu spät am See zum Schwim­men unter Früh­ne­bel. Zu trüb das Was­ser außer­dem und zuviele Schwäne und Enten sagt die Toch­ter. Trop chou, zu süß, zwar, die Canar­deaux, die klei­nen Ent­chen, aber zuviele. Und stel­len­weise schwimmt Scheiße in klei­nen Inseln. Enten­scheiße.

Ein paar Minu­ten nach dem Ste­chen die Erfolgs­kon­trolle. Fast halb vier. Ça va mieux? Geht's bes­ser? – Ça va. Es geht. – Est-ce que ça va mieux? Ist es denn bes­ser jetzt? – Ça va. Es geht. – Was eigent­lich ist unklar an mei­ner Frage? Geht's bes­ser ist eine klas­si­sche Ja-Nein-Frage. Aus mei­ner Sicht. Oui oder Non, allen­falls noch un peu mieux, ein biß­chen bes­ser, wären zuläs­sige Ant­wor­ten mit einer Péri­du­rale neu im Rücken und Wehen im Bauch. Ça va, es geht, passt da nicht wirk­lich als Ant­wort. Ich muß es anders ver­su­chen: Est-ce que vous avez moins mal? Haben Sie weni­ger Schmer­zen? – Beau­coup moins, merci, doc­teur! Viel weni­ger, danke, Herr Dok­tor! Na also, geht doch. Ich ver­mute fun­da­men­tale Men­ta­li­täts­un­ter­schiede. Meine Gene­tik gereicht mir nicht zum Fran­zo­sen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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