Todsünde

4. März 2016 Von Alleinerzieher

Hätte ich natür­lich wis­sen kön­nen nach all den Jah­ren. Zu mei­ner Ver­tei­di­gung kann ich außer mit­tel­mä­ßi­ger Sprach­be­ga­bung nur anfüh­ren, daß bei uns zuhause vor­wie­gend deutsch gespro­chen wer­den soll, alleine schon um den Kin­dern eine Ahnung ihrer Mut­ter­spra­che zu erhal­ten. Wäre meine Frau Fran­zö­sin, hätte ich Mon­sieurs D.s Irr­tum bestimmt sofort erkannt. Wenn man auch zuhause nur die fremde Spra­che spricht, ver­liert sie von ihrer Fremd­heit, beherrscht man sie irgend­wann. Viel­leicht sogar ohne die­sen har­ten teu­to­ni­schen Akzent. Sagen die Pfle­ger immer wie­der, such' dir eine Maî­tresse, dann geht der Akzent weg. Und du müß­test nicht mehr so oft nach­fra­gen. Auch die Begriffe für die sechs ande­ren Tod­sün­den wären mir geläu­fig. Mög­li­cher­weise. Mon­sieur D. ist da natür­lich ein schlech­tes Bei­spiel. Selbst Fran­zose, ist seine Frau wahr­schein­lich auch Fran­zö­sin. Seine Maî­tresse bestimmt auch. Hun­dert Pro­zent fran­ko­pho­nes Umfeld. Fran­zose zu sein allein reicht wohl nicht für einen umfas­sen­den Wort­schatz.

C’est la pre­mière fois que ça m’arrive, sagte Mon­sieur D., 64 Jahre alt, um 21 Uhr am Mon­tag Abend auf der Prit­sche im Auf­wach­raum. Das ist das erste Mal, daß mir das pas­siert. Und ergänzt: c’est ma pre­mière luxure. Das ist meine erste luxure. Ihre erste was? Mon­sieur D. bleibt allen Erns­tes dabei: luxure. Mon­sieur D. ist das Eben­bild des Wild­schwein jagen­den Gal­li­ers aus dem Hin­ter­land um For­cal­quei­rat oder La Roque­bruss­anne: Über­ge­wicht, Schnauz­bart, trotz der Schmer­zen rechts in der Hüfte aber eher humo­rig auf­ge­legt. Er hat zwei Hüft­pro­the­sen, die rechte noch ziem­lich neu. Eine unge­schickte Bewe­gung beim Spa­zie­ren­ge­hen (!) und schon aus­ge­ku­gelt. C’est ma pre­mière luxure. Pau­line ver­fällt in schril­les Kichern – Luxure! Pau­line ist die Anäs­the­sie­schwes­ter für die­sen Abend. Gilt als unnah­bare Schön­heit. Zeich­net sich aus mei­ner Sicht vor allem dadurch aus, daß sie in der Bran­dung der täg­li­chen, lär­men­den Impro­vi­sa­tion des OP ein uner­schüt­ter­li­cher Fels der Pro­fes­sio­na­li­tät bleibt, den Pati­en­ten stets kom­pe­tent zuge­wandt und abso­lut immun gegen­über all den klei­nen anzüg­li­chen Pro­vo­ka­tio­nen, die ihre männ­li­chen Kol­le­gen den Tag über so pro­du­zie­ren. Daher der Ruf der Unnah­bar­keit. Umso erstaun­li­cher die­ser kichernde Aus­bruch.

Boris­lav fin­det luxure auch komisch. Lässt sich das Wort ver­son­nen lächelnd ein paar Mal mit rol­len­dem sla­wi­schem R auf der Zunge zer­ge­hen. Boris­lav ist bul­ga­ri­scher Her­kunft, deut­lich jün­ger als ich, der Ortho­päde, der gleich an Mon­sieur D.s Bein zie­hen soll, um die Pro­these wie­der ein­zu­ren­ken. Luxure ist offen­sicht­lich nicht Bestand­teil sei­nes Wort­schat­zes. Ist ein neues Wort. So wie für mich auch. Ich kann nach­emp­fin­den, was Boris­lav denkt. Bis­lang war der Fach­be­griff für das aus­ge­ku­gelte Gelenk für mich die Luxa­tion. Sowohl auf Deutsch als auch auf Fran­zö­sisch. Manch­mal ist Fran­zö­sisch ganz ein­fach. Nur die Aus­spra­che ein biß­chen anders. Kann man also auch luxure sagen, denke ich mir, aha. Wenn Mon­sieur D. luxure sagt, kann man wohl auch luxure sagen. Wenn da nur die schöne Pau­line nicht so ent­hemmt kichern würde. Paßt aber in mein Bild des rei­chen Voka­bu­lars die­ser Spra­che. Für jeden Begriff Syn­onyme in drei Sprach­ebe­nen. Schrift­spra­che, Umgangs­spra­che und Slang. Wahr­schein­lich das glei­che Prin­zip für die meis­ten Spra­chen. Im Fran­zö­si­schen gibt es dann noch Ver­lan, die Jugend­spra­che, die Laute und Sil­ben der Worte spie­le­risch in für Erwach­sene unver­ständ­li­che Neu­schöp­fun­gen ver­dreht. Luxure ist viel­leicht das eher vul­gäre Äqui­va­lent von Luxa­tion. Muß dazu eine ganz beson­ders schlüpf­rige Neben­be­deu­tung haben. Irgend­was, was sogar Pau­line zum Kichern bringt. Erst wiki­pe­dia bringt Auf­klä­rung. Luxure ist die Wol­lust, eine der sie­ben Tod­sün­den. Mon­sieur D. wurde heute Opfer sei­ner ers­ten Wol­lust. Das setzt sei­nen schmerz­haf­ten Zustand natür­lich in ein ande­res Licht. Und bringt Pau­line zum Kichern.

War viel­leicht auch Mon­sieurs D.s Absicht. Natür­lich kennt Mon­sieur D. die sie­ben Tod­sün­den. Die Absicht war, die schöne Pau­line zum Kichern zu brin­gen. Wild­schwein­jä­ger sind komi­scher als man denkt.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


So ähn­lich abge­druckt in der Juli-Aus­gabe 2016 der Riviera-Zeit.