Todsünde
Hätte ich natürlich wissen können nach all den Jahren. Zu meiner Verteidigung kann ich außer mittelmäßiger Sprachbegabung nur anführen, daß bei uns zuhause vorwiegend deutsch gesprochen werden soll, alleine schon um den Kindern eine Ahnung ihrer Muttersprache zu erhalten. Wäre meine Frau Französin, hätte ich Monsieurs D.s Irrtum bestimmt sofort erkannt. Wenn man auch zuhause nur die fremde Sprache spricht, verliert sie von ihrer Fremdheit, beherrscht man sie irgendwann. Vielleicht sogar ohne diesen harten teutonischen Akzent. Sagen die Pfleger immer wieder, such’ dir eine Maîtresse, dann geht der Akzent weg. Und du müßtest nicht mehr so oft nachfragen. Auch die Begriffe für die sechs anderen Todsünden wären mir geläufig. Möglicherweise. Monsieur D. ist da natürlich ein schlechtes Beispiel. Selbst Franzose, ist seine Frau wahrscheinlich auch Französin. Seine Maîtresse bestimmt auch. Hundert Prozent frankophones Umfeld. Franzose zu sein allein reicht wohl nicht für einen umfassenden Wortschatz.
C’est la première fois que ça m’arrive, sagte Monsieur D., 64 Jahre alt, um 21 Uhr am Montag Abend auf der Pritsche im Aufwachraum. Das ist das erste Mal, daß mir das passiert. Und ergänzt: c’est ma première luxure. Das ist meine erste luxure. Ihre erste was? Monsieur D. bleibt allen Ernstes dabei: luxure. Monsieur D. ist das Ebenbild des Wildschwein jagenden Galliers aus dem Hinterland um Forcalqueirat oder La Roquebrussanne: Übergewicht, Schnauzbart, trotz der Schmerzen rechts in der Hüfte aber eher humorig aufgelegt. Er hat zwei Hüftprothesen, die rechte noch ziemlich neu. Eine ungeschickte Bewegung beim Spazierengehen (!) und schon ausgekugelt. C’est ma première luxure. Pauline verfällt in schrilles Kichern – Luxure! Pauline ist die Anästhesieschwester für diesen Abend. Gilt als unnahbare Schönheit. Zeichnet sich aus meiner Sicht vor allem dadurch aus, daß sie in der Brandung der täglichen, lärmenden Improvisation des OP ein unerschütterlicher Fels der Professionalität bleibt, den Patienten stets kompetent zugewandt und absolut immun gegenüber all den kleinen anzüglichen Provokationen, die ihre männlichen Kollegen den Tag über so produzieren. Daher der Ruf der Unnahbarkeit. Umso erstaunlicher dieser kichernde Ausbruch.
Borislav findet luxure auch komisch. Lässt sich das Wort versonnen lächelnd ein paar Mal mit rollendem slawischem R auf der Zunge zergehen. Borislav ist bulgarischer Herkunft, deutlich jünger als ich, der Orthopäde, der gleich an Monsieur D.s Bein ziehen soll, um die Prothese wieder einzurenken. Luxure ist offensichtlich nicht Bestandteil seines Wortschatzes. Ist ein neues Wort. So wie für mich auch. Ich kann nachempfinden, was Borislav denkt. Bislang war der Fachbegriff für das ausgekugelte Gelenk für mich die Luxation. Sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch. Manchmal ist Französisch ganz einfach. Nur die Aussprache ein bißchen anders. Kann man also auch luxure sagen, denke ich mir, aha. Wenn Monsieur D. luxure sagt, kann man wohl auch luxure sagen. Wenn da nur die schöne Pauline nicht so enthemmt kichern würde. Paßt aber in mein Bild des reichen Vokabulars dieser Sprache. Für jeden Begriff Synonyme in drei Sprachebenen. Schriftsprache, Umgangssprache und Slang. Wahrscheinlich das gleiche Prinzip für die meisten Sprachen. Im Französischen gibt es dann noch Verlan, die Jugendsprache, die Laute und Silben der Worte spielerisch in für Erwachsene unverständliche Neuschöpfungen verdreht. Luxure ist vielleicht das eher vulgäre Äquivalent von Luxation. Muß dazu eine ganz besonders schlüpfrige Nebenbedeutung haben. Irgendwas, was sogar Pauline zum Kichern bringt. Erst wikipedia bringt Aufklärung. Luxure ist die Wollust, eine der sieben Todsünden. Monsieur D. wurde heute Opfer seiner ersten Wollust. Das setzt seinen schmerzhaften Zustand natürlich in ein anderes Licht. Und bringt Pauline zum Kichern.
War vielleicht auch Monsieurs D.s Absicht. Natürlich kennt Monsieur D. die sieben Todsünden. Die Absicht war, die schöne Pauline zum Kichern zu bringen. Wildschweinjäger sind komischer als man denkt.
© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
bertram@diehl.fr
So ähnlich abgedruckt in der Juli-Ausgabe 2016 der Riviera-Zeit.