Mythique

Kilo­me­ter 20,9. Aus der Unter­füh­rung eines Fuß­wegs unter dem Bahn­gleis, ein paar Stu­fen nach oben, kommt man direkt auf die Piste, Route du Bord de la Mer. Wie es da aus­sieht, kann bei google maps sehr schön sehen. Auf der einen Seite das Meer, auf der ande­ren die Stadt. Vor­orte von Anti­bes. Ein paar Pal­men, ein Flüss­chen. Wenn meine Frau das Flüss­chen – La Bra­gue – kreuzt kurz nach Mari­ne­land, bin ich auch nicht mehr weit. Ich werde einen hal­ben Liter Zau­ber­trank bereit­hal­ten, Ener­gie­rie­gel und Schmerz­ta­blet­ten.

Mara­thon Nizza-Can­nes. 13. Novem­ber, Sonn­tag. Meine Frau läuft mit. Den gan­zen Mara­thon. Mythi­que, sagt sie. Der Mara­thon Nizza-Can­nes ist mythi­que. Mara­thon­stre­cken wer­den oft mit sol­chen Adjek­ti­ven bedacht. Mythi­que, magi­que, légen­d­aire. Als Nicht­läu­fer kann ich sol­che Attri­bute schwer nach­emp­fin­den. Lau­fen über­haupt ist schon anstren­gend, über 42,195 Kilo­me­ter mit zehn­tau­send ande­ren Läu­fern eine ein­zige Tor­tur. Einige ihrer Kol­le­gin­nen lau­fen den Mara­thon als Staf­fel. Gibt es auch. Die Kilo­me­ter wer­den in unter­schied­lich große Abschnitte auf­ge­teilt. Sechs oder sie­ben Abschnitte, glaube ich. Ich bin kein Läu­fer. Nicht mal in der Staf­fel. Ich bin der Coach. Zwei Mal werde ich an der Stre­cke ste­hen und Wun­der­mit­tel bereit­hal­ten. Zau­ber­trank, Ener­gie­rie­gel, Schmerz­ta­blet­ten. Trost und Mut zuspre­chen. Und am Ende das Taxi spie­len für meine Frau und die eine oder andere Staf­fel-Läu­fe­rin. Lange schien es, als brauch­ten sie mich gar nicht. Lange schie­nen genug andere Coachs unter­wegs zu sein. Sicher ist, daß meine Frau schon heute Nach­mit­tag fah­ren wird. Viel­leicht mit Sophie, viel­leicht mit Nadège. Wird sich noch erge­ben. Fran­zo­sen hal­ten sich gerne alle Optio­nen offen. Bis zuletzt. Wenn man als Mit­tel­eu­ro­päer teu­to­ni­scher Her­kunft denkt, man hätte nun was orga­ni­siert, ist das pure Illu­sion. Kann sich in letz­ter Minute ganz anders dar­stel­len. Mal sehen, wer heute Nach­mit­tag klin­gelt. Bes­ser nichts orga­ni­sie­ren und auf sich zukom­men las­sen. Ist eine Frage der Welt­an­schau­ung. Sehr gut ist der Fran­zose in der Impro­vi­sa­tion. Das Beste draus machen wenn nichts mehr zu orga­ni­sie­ren ist. Die eige­nen Prio­ri­tä­ten nicht aus den Augen ver­lie­ren. Nur das Hotel für heute Abend in der Nähe des Départ ist gebucht. Mythi­que übri­gens schon der Start laut Home­page. In der Nähe des Alli­anz Riviera Sta­di­ons außer­halb der Stadt. Und ein gemein­sa­mes Essen ist ange­dacht. Am bes­ten Piz­ze­ria. Eine ordent­li­che Por­tion Nudeln. Gut für die Gly­ko­gen­spei­cher. Dabei mit wenig Bal­last­stof­fen. Ein Glas Wein viel­leicht. Der Tisch in der Piz­ze­ria ist aller­dings noch nicht reser­viert. Viel­leicht fällt das gemein­same Essen auch aus. Weiß man nicht. Oder zum Chi­ne­sen. Da gibt's ja auch Nudeln.

Am 30. Okto­ber war der Lauf Mar­seille-Cas­sis. Ein Halb­ma­ra­thon, über drei­hun­dert Meter Höhen­un­ter­schied. Auch mythi­que. Wenn man nach zwan­zig Kilo­me­tern und drei­hun­dert Höhen­me­tern ins Ziel wankt, ver­klärt sich die Leis­tung ins Mythi­sche. Da sollte nur meine Frau lau­fen. Weil das Läu­fer­um­feld mei­ner Frau zu lang­sam war bei der Anmel­dung online. Zu lang­sam oder nicht punkt­ge­nau online. Die Anmel­dung war, erschwe­rend, irgend­wann im August um zehn Uhr vor­mit­tags. Die meis­ten Men­schen, auch Läu­fer, müs­sen um zehn Uhr vor­mit­tags arbei­ten. Auch im August. Ich hatte frei. Als Coach küm­mere ich mich nicht nur um Zau­ber­trank, Trost und Zuspruch, son­dern gele­gent­lich auch um die Anmel­dung. Punkt zehn Uhr war die Seite online. Klick. Name, Vor­name, Geburts­da­tum. Klick. Adresse. Klick. Ver­eins­zu­ge­hö­rig­keit. Klick. Adresse des Ver­eins. Klick. Kre­dit­karte. Klick. Bestä­ti­gungs-Code – veuil­lez pati­en­ter quel­ques instants – auf dem Handy. Kein Pro­blem, dar­auf war ich vor­be­rei­tet, ein guter Coach hat sein Handy immer gela­den und in Griff­weite. Sechs­stel­li­ger Code. Klick. Fünf Minu­ten zwei­und­drei­ßig Sekun­den chrono. Dann wollte ich noch Nadège anmel­den, eine Tri­ath­le­tin aus dem Läu­fer­um­feld, die im August auch arbei­ten mußte. Klick. Com­plet. Nous en som­mes déso­lés. Zu spät. Hatte den Vor­teil, daß die Pla­nung so um vie­les ein­fa­cher war. Kein Fran­zose dabei. Nur eine Fran­ko­phile, meine Frau. Die erwägt auch gerne meh­rere Optio­nen bis zuletzt. Ist aber nor­ma­ler­weise nur eine Option zur Zeit. Ein Fran­zose jon­gliert gerne mit drei oder vier Optio­nen, gerne auch dia­me­tral gegen­läu­fig. Bei zwei Fran­zo­sen ist man schnell bei sechs bis acht ange­dach­ten Optio­nen. Die mathe­ma­ti­sche For­mel ist ganz ein­fach. Zahl der betei­lig­ten Fran­zo­sen in unge­fähr drit­ter Potenz. Man kann diese For­mel noch unter Berück­sich­ti­gung ver­schie­de­ner äuße­rer Umstände – Wet­ter, Tages­zeit, Ort, rela­tio­nelle, kuli­na­ri­sche und finan­zi­elle Aspekte – ver­fei­nern, das Prin­zip bleibt: expo­nen­ti­elle Stei­ge­rung.

Der mythi­sche Lauf fiel schließ­lich auch für meine Frau aus. Wegen logis­ti­scher Beden­ken. 15.000 ange­mel­dete Läu­fer. Fünf­zehn­tau­send. Dazu Ange­hö­rige. Schau­lus­tige. Sicher­heits- und Hilfs­per­so­nal, Park­platz­an­wei­ser. Und das in einem Dorf wie Cas­sis, ein Fischer­städt­chen, klei­ner als Saint-Tro­pez, mit win­zi­gem Hafen. Sta­tis­tisch mehr als zwei Läu­fer pro Ein­woh­ner. Pro­gram­mier­tes Chaos. Ver­mut­lich war die Zufahrt zum Fischer­ha­fen ab der zuge­hö­ri­gen Auto­bahn­aus­fahrt 13 Kilo­me­ter wei­ter beschränkt. Außer­dem hätte man die Start­num­mer am Vor­abend in Mar­seille abho­len müs­sen. Sogar für einen mythi­schen Lauf zuviel Auf­wand.

Mor­gen Nizza-Can­nes. Meine Frau läuft mit der Start­num­mer 7461. Der Coach bei Kilo­me­ter 20,9 und 31. Kilo­me­ter 31 ist auf der Höhe von Juan-les-Pins. Kurz nach dem Cap d'Antibes mit der höchs­ten Erhe­bung der Stre­cke, 34 Meter. Das Ziel auf dem Bou­le­vard de la Croi­sette von Can­nes vor dem Carl­ton. Viel­leicht gehö­ren sol­che Ele­mente zum Mythos des Laufs: Julia Roberts, Jodie Fos­ter und George Cloo­ney waren auch gerade in Can­nes. Weni­ger zum Lau­fen ver­mut­lich. Haben viel­leicht eine Tasse Kaf­fee getrun­ken auf der Ter­rasse des Hotels.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Central Park

Mein Exem­plar der "Riviera – Das Maga­zin", eine regio­nale, deutsch­spra­chige Monats­schrift, kommt zum Monats­ende in einem wei­ßen Hart­pa­pier-Umschlag, ist immer ein biß­chen zer­knit­tert. Ist mit fast DIN A 4 eben einen Hauch zu groß für den gän­gi­gen Brief­kas­ten­schlitz. Mit im Umschlag, als Bei­lage, etwas klei­ner, des­we­gen wohl auch nicht geknit­tert, im August die Bro­schüre "Pri­vate Resi­den­ces" einer Immo­bi­li­en­agen­tur. Hoch­glanz, viel blauer Him­mel, viel blaues Was­ser. Hoch­glanz-Immo­bi­lien, immer mit Pool, meist mit "fan­tastic views" aufs Meer. Ich ver­su­che, mir die Ziel­gruppe die­ser Bro­schüre vor­zu­stel­len. "Riviera – Das Maga­zin" hatte ich bis­lang nur im deut­schen Gene­ral­kon­su­lat von Mar­seille gese­hen. Im War­te­zim­mer vor Per­so­nal hin­ter Pan­zer­glas und Gegen­sprech­an­lage. In die­ses War­te­zim­mer kommt man als Nor­mal­mensch eigent­lich nur, wenn man sei­nen Rei­se­pass erneu­ern möchte. Tou­ris­ten stran­den hier, wenn ihnen das Auto geklaut wor­den ist samt Foto­ap­pa­rat und Kre­dit­karte. Und ihnen nicht mal der ADAC hilft. Das ist eher nicht die Kli­en­tel für die Zweit­re­si­denz im min­des­tens sie­ben­stel­li­gen Eurobe­reich. Wahr­schein­lich hat "Riviera – Das Maga­zin" Abon­nen­ten im Hin­ter­land der Côte d'Azur oder in Le Lavan­dou. Deut­sche Rent­ner, die auf das Schnäpp­chen mit dem rich­ti­gem Wahn­sinns-Meer­blick lau­ern.

Auch im Heft selbst geht es gerne mal um Immo­bi­lien. Dies­mal das rie­sige Anwe­sen von Johnny Depp. Ein gan­zes Dorf. Der Bericht dar­über fin­det sich auf Seite 13. Wurde in Zusam­men­ar­beit mit einem Herrn aus der Immo­b­li­en­bran­che ver­fasst. 23 Mil­lio­nen. Keine vue mer aller­dings. Schade bei dem Preis. Was will man mit den vie­len Gebäu­den anfan­gen, wenn man mit sei­nen zwei­hun­dert bes­ten Freun­den nicht ein Glas Rosé mit Sicht bis Kor­sika trin­ken kann? Wozu braucht man die gan­zen Hektar Land, wenn man nichts von Oli­ven- oder Wein­an­bau ver­steht? Wahr­schein­lich durfte Aila, die Redak­teu­rin, das Anwe­sen immer­hin mal besich­ti­gen. VIP-Luft schnup­pern mit dem Herrn aus der Immo­bi­li­en­bran­che.

Aila ist laut Impres­sum über­haupt "die Redak­tion". Sie gehört in der Zei­tung zu den Weni­gen, die wirk­lich arbei­ten. Oder die Ande­ren waren für die August-Aus­gabe gerade im Urlaub. Aila hat den Löwen­an­teil an der Arbeit im Sinne von inhalt­li­chem Out­put, dem Haupt­an­lie­gen eines Druck­me­di­ums. Ohne die Kol­le­gen aus dem Mar­ke­ting, dem Ver­trieb, dem Sekre­ta­riat ginge natür­lich gar nichts. Das darf nicht unter­schätzt wer­den. So wie Chir­ur­gen ohne Anäs­the­sie. Geht auch gar nicht. Frau Hall ist die Chef­re­dak­teu­rin. Frau Hall muß das Edi­to­rial schrei­ben. Vom Umzug der Zei­tung berich­ten, einer Namens­än­de­rung des Maga­zins "aus recht­li­chen Grün­den", Modi­fi­ka­tio­nen unter ande­rem im Lay­out. Es klingt ein biß­chen wie eine Recht­fer­ti­gung. Sech­zehn Zei­len. Außer­dem war die Chef­re­dak­teu­rin schön essen. Fisch. In einem tra­di­ti­ons­rei­chen Restau­rant, in dem auch schon Pablo Picasso dinierte und die Bar­dot. Frü­her mal ein Insi­der­tipp. Heute geho­bene Preis­klasse. Ein paar Worte noch über Fürst Albert von Monaco und dem präch­ti­gen Gedei­hen der Wirt­schaft im Fel­sen­staat sowie dem der klei­nen Zwil­linge. Die schla­fen übri­gens durch. Immer­hin sechs bis sie­ben Stun­den. Seite sie­ben. Das war's. Den redak­tio­nel­len Rest machen Aila und ihre Prak­ti­kan­tin. Außer ihrem Bericht über das Anwe­sen von Johnny Depp fin­det sich ein Inter­view mit einem deut­schen Fern­seh-VIP, ein Bericht über die Aus­wil­de­rung von Bart­gei­ern, Lieb­lings­strände mit Öko-Prä­di­kat. Alles von Aila. Dann kommt noch was Regio­nal­kul­tur mit einem Ver­an­stal­tungs­ka­len­der, Kurz­be­richte, "Neues aus dem Süden". Klein­an­zei­gen, Immo­bi­lien noch, Stel­len­ge­su­che, Impres­sum, Leser­briefe. Seite 28, zwei­spal­tig mit Por­trät, "Ehren­wort". Das ist von mir. Auch das redak­tio­nelle Fei­len daran gehört mei­nes Wis­sens zu Ailas Auf­ga­ben. Das Fei­len hat sie dies­mal viel­leicht der Prak­ti­kan­tin über­las­sen. Mit der Vor­gabe, nicht mehr als ein­tau­send­zwei­hun­dert Worte zuzu­las­sen. Und dann "abge­nickt". Abni­cken scheint so ein Wort zu sein aus dem Jar­gon für Redak­teure. Habe ich schon öfter gehört. Ich soll meine nach­ge­schlif­fe­nen Bei­träge immer "abni­cken". Soll wohl auch zu ver­ste­hen geben, daß der bear­bei­tende Redak­teur keine Lust hat, nach sei­nem per­sön­li­chen Fein­schliff noch­mal über die eine oder andere Wort­wahl oder gar Pas­sage nach­zu­ver­han­deln. Manch­mal, eigent­lich meis­tens, reicht es bei Aila ohne­hin nicht zum Abni­cken las­sen. Wegen der gan­zen ande­ren Jobs wohl, die noch erle­digt wer­den müs­sen. Trotz Prak­ti­kan­tin. Egal.

Das güns­tigste Objekt der Bei­lage, ist übri­gens ein Appar­te­ment für 1.180.000 € in Ville­fran­che-sur-Mer, öst­lich von Nizza, 87 Qua­drat­me­ter, Blick auf den Pool der Anlage und selbst­ver­ständ­lich das Meer. Das könnte was sein für ein Rent­ner-Ehe­paar. Würde end­lich den Auf­stieg aus Le Lavan­dou ermög­li­chen. Platz für Kin­der und Enkel im zwei­ten Schlaf­zim­mer. Groß­zü­gi­ger, anspruchs­vol­ler, auf mehr Gäste aus­ge­rich­tet ist das Anwe­sen mit acht Schlaf­zim­mern auf 650 Qua­drat­me­tern Wohn­flä­che in Saint-Jean-Cap-Fer­rat, einer exklu­si­ven Halb­in­sel im Osten Niz­zas. Bes­sere Lage noch als Ville­fran­che. Nur zwei­tau­send Qua­drat­me­ter Grund. Dafür direk­ter Zugang zum Meer. 22 Mil­lio­nen.

Das ist was für die, die im Früh­jahr mit Blick über den Cen­tral Park resi­die­ren.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr