Schade eigentlich

26. Oktober 2015 Von Alleinerzieher

Eine Land­straße vom Dorf direkt an der Küste zum Dorf in zwei­ter Reihe. Mäan­dert knapp zwei­spu­rig durch üppi­ges Grün. Anlie­ger sind eine hoch­prei­sige Baum­schule und ein paar Bio­bau­ern, die miß­mu­tig zah­lungs­kräf­ti­gen Kun­den teil­kom­pos­tierte Toma­ten der Vor­wo­che in Papp­tüten zu ver­kau­fen suchen. Drei­ßig Pro­zent des Wohn­raums im Dorf an der Küste, dar­un­ter exklu­sive Anwe­sen mit Direkt­blick Rich­tung Afrika, sind Zweit­re­si­den­zen. Men­schen aus Paris und Lyon, ein paar Eng­län­der. Die kau­fen auch Bio­kom­post direkt vom übel­lau­ni­gen Erzeu­ger. Die Miß­mu­tig­keit scheint Teil des Geschäfts­prin­zips zu sein. Die Auf­zucht von Bio­ge­müse ohne Pes­ti­zide ist eben ein müh­sa­mes Unter­fan­gen. Meine Frau kauft hier nicht mehr, die Straße aber ist schön zum Rad­fah­ren. Schat­tig.

Unmit­tel­bar rechts und links der Straße fin­den sich tiefe Grä­ben, das fla­che Land zwi­schen dem Dorf direkt an der Küste und dem in zwei­ter Reihe gilt als Über­schwem­mungs­ge­biet. Die Höchst­ge­schwin­dig­keit ist auf fünf­zig Stun­den­ki­lo­me­ter limi­tiert. Das hält eilige Klein­las­ter jedoch nicht von gewag­ten Über­hol­ma­nö­vern bei deut­lich höhe­rer Geschwin­dig­keit ab. Die dürf­ten hier, schwe­rer als 2,5 t, ohne­hin nicht fah­ren. Ich wun­dere mich immer wie­der, daß hier nicht öfter mal Autos im Gra­ben lie­gen. Freunde, die wir über diese Stre­cke lot­sen, stei­gen am Strand schweiß­ge­ba­det aus ihrem A6 aus. Gibt's da kei­nen ande­ren Weg? Auf hal­ber Stre­cke fin­den sich zwei dicht auf­ein­an­der­fol­gende Eng­stel­len, die eine mit ent­spre­chen­der Beschil­de­rung zur Rege­lung der Vor­fahrt, die andere ohne Beschil­de­rung, dafür unüber­sicht­lich. Zwi­schen den bei­den Eng­stel­len ist die Straße eigent­lich auch zu schmal für Gegen­ver­kehr. Eine Aus­weich­mög­lich­keit ist nur an einer Stelle vor­ge­se­hen, eine Park­bucht von den Aus­ma­ßen eines zwei­tü­ri­gen Kom­pakt­wa­gens.

Neu­lich stellte ich mir vor, mei­nen neuen Sie­ben­sit­zer mit Mogel­mo­tor von Volks­wa­gen im Gra­ben neben der Straße zu ver­sen­ken. Abge­drängt vom flüch­ti­gen Klein­las­ter. Zum Bei­spiel. Auf der Basis eines Voll­kasko-Ereig­nis­ses. Wirt­schaft­li­cher Total­scha­den. Wäre zumin­dest ehr­li­cher als die neu­es­ten Gedan­ken­spiele des Schum­mel­kon­zerns. Rück­nahme statt Nach­bes­se­rung. Und dann könnte man die zurück­ge­nom­me­nen, "alten Wagen außer­halb der EU ver­kau­fen, etwa in der Tür­kei oder in Afrika." Schreibt SPIEGEL ONLINE. Ließe einen tie­fen Blick zu in eine schein­hei­lige Welt der Auto­mo­bil­in­dus­trie. In Afrika sind Stick­oxide unge­fähr­lich.

Frei­tag Mor­gen halb zehn. Ich hatte Dienst und befinde auf dem Rück­weg nach Hause. Und dann: Stau! Stau auf der Land­straße zwi­schen dem Dorf direkt an der Küste zum Dorf in zwei­ter Reihe. An einem Frei­tag Mor­gen um halb zehn. Stau! Ist mit dem Fahr­rad nicht wei­ter schlimm. Auf der Gegen­spur ist Platz genug, an den viel­leicht zwan­zig war­ten­den Fahr­zeu­gen vor­bei­zu­fah­ren. Es gibt nicht mal Gegen­ver­kehr. Es han­delt sich trotz­dem ganz offen­sicht­lich um eine Bau­stelle. Ganz vorne steht ein Herr in offi­zi­el­lem Bau­ar­bei­ter-Out­fit – Blau­mann, Signal­weste, Helm – von der Sta­tur eines Rugby-Spie­lers mit Schau­fel und Schild mit­ten auf der Straße. Er zeigt uns die rote Seite sei­nes Schilds. Die Bau­stelle ist wahr­schein­lich hin­ter der Kurve. Die Fahr­zeuge ganz vorne ste­hen offen­bar schon län­ger. Die Fah­rer haben die Moto­ren abge­stellt. Ich wage den Ver­such, das rote Schild zu Fuß zu pas­sie­ren, schiebe mein Rad in Rich­tung des Bau­ar­bei­ters. Der deu­tet mit dem Stiel sei­ner Schau­fel auf das Rot sei­nes Schilds. Wort­los. Das heißt: Kein Ver­hand­lungs­spiel­raum. Mit sei­ner Schau­fel ist er am län­ge­ren Hebel, ganz klar. Selbst wenn er selbst mich nicht damit erwi­schen würde, ich müßte mich spä­tes­tens sei­nem Pen­dant am ande­ren Ende der Bau­stelle stel­len. Zudem könnte das Manö­ver zwi­schen den Schil­dern viel­leicht doch gefähr­lich sein. Obwohl nichts zu hören ist. Kein Last­wa­gen­mo­tor, kein Bag­ger. Nichts. Nach wie vor kein Gegen­ver­kehr. Voll­sper­rung. Wenn da ein Wagen aus dem Gra­ben zu zer­ren sein sollte, kann das noch lange dau­ern. Viel­leicht sollte ich doch umkeh­ren. Aber, wie gesagt, nicht das geringste Anzei­chen auf den Ein­satz schwe­ren Geräts. Ruhige Stim­men von jen­seits des Schilds, mehr nicht.

Ich warte mit den Autos. Ein Motor­rad von hin­ten. Macht Anstal­ten, sich am Schild­trä­ger vor­bei­mo­geln zu wol­len. Die Geste Schau­fel an rotem Schild kenne ich schon. Reicht auch dem Motor­rad­fah­rer als Argu­ment.

Ça va encore durer?

Non, non, ça n'va pas tar­der. T'inquiète!

Gleich geht's wei­ter. Kein Grund zur Beun­ru­hi­gung. Alles ist ruhig. Vogel­ge­zwit­scher. In der Ferne ein Zug auf der Stre­cke nach Nizza. Musik aus Auto­ra­dios. Von wei­ter hin­ten gele­gent­li­ches, unge­dul­di­ges Dau­er­hu­pen. Wen­de­ma­nö­ver. Das ist müh­sam und lang­wie­rig auf der engen Straße mit den meter­tie­fen Grä­ben zu bei­den Sei­ten. Fünf Minu­ten spä­ter noch ein Motor­rad. Immer noch Rot.

Ça va encore durer?

Non, non, ça n'va pas tar­der. T'inquiète!

Keine fünf Minu­ten spä­ter dreht der Bau­ar­bei­ter tat­säch­lich sein Schild auf grün und tritt zur Seite. Ganz unver­mit­telt. Autos star­ten mit auf­heu­len­den Moto­ren und quiet­schen­den Rei­fen. Und kom­men nur wenig spä­ter wie­der zum Ste­hen. Aus der Aus­weich­bucht von den Aus­ma­ßen eines zwei­tü­ri­gen Kom­pakt­wa­gens ragt links ein Klein­last­wa­gen bis in die Mitte der Fahr­bahn. Dahin­ter die Fahr­zeuge aus der Gegen­rich­tung. Die Rugby-Spie­ler mit Schau­fel, scheint es, haben ihre Schil­der zeit­gleich auf Grün gedreht.

Da ent­wi­ckelt sich aus­ge­zeich­ne­tes Poten­tial für ein Voll­kasko-Ereig­nis bis hin zum wirt­schaft­li­chen Total­scha­den im Rah­men einer cho­le­ri­schen Krise. Das würde jede Ver­si­che­rung ver­ste­hen.

Schade eigent­lich.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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