Pierre
Ich habe Dienst. Mit “coupure”, Pause also, zwischen Mittag und vier Uhr nachmittags. Heute ziemlich früh die coupure, weil sich zwischen den Feiertagen kein Mensch freiwillig ins Krankenhaus legt. Galle und Leistenbruch können auch bis 2016 warten. Nichts los. 11:14 Uhr auf dem Parkplatz. Vielleicht ein guter Zeitpunkt, eben mal bei Orange vorzufahren und das Internet auf dem HTC einstellen zu lassen. Das HTC ist das “alte” Smartphone meines Erstgeborenen. Braucht er nicht mehr, weil Weihnachten war. Er hat jetzt was Tolles von Sony. Das HTC ersetzt meine Antiquität von Nokia. Das Neue hat seit einem Neustart mit meiner SIM-Karte leider keinen Zugang mehr zu google und whatsapp. Damit kann ich nicht leben.
11:26 Uhr. Schlange vor der Boutique von Orange. Mindestens zehn Kunden. Das sieht nicht gut aus. Das sieht nicht nach “mal eben” aus. Ich kenne das schon. Man wartet brav, Kunde um Kunde, Schritt für Schritt, bis zur Hostess am Schalter. Zwanzig Minuten. Mindestens. Die Hostess gibt sich stets freundlich und zugewandt. Immerhin. Erfasst den Namen, die Telefonnummer und das Anliegen. Ist zuständig für die Warteliste. Der nächste freie Mitarbeiter wird Sie aufrufen. Das funktioniert sogar. Gilt aber nicht für technische Anliegen. Technische Anliegen werden direkt zum Kundendienst hinten in der Ecke geschickt. Ohne Erfassung. Die Schlange sei nur für Beratung und Verkauf. Die Kollegen vom Kundendienst gehen allerdings um zwölf. Mit Schlange würde es für mich 11:46 Uhr werden. Kommen Sie doch besser in einer Stunde wieder. Wie gesagt, kenne ich schon. Mache ich nicht. Diesmal nicht.
Ich gehe direkt zu Pierre. Pierre ist der unrasierte und leicht übergewichtige Nerd an der Technik-Theke. Kann im Gegensatz zu seiner Kollegin vorne am Empfang nicht lächeln, geschweige denn Bonjour sagen. Es ist 11:27 Uhr. Pierre hat sicher schon Hunger. Mit einem Croissant zum Kaffee kommt man nur mit Mühe bis zum Mittagessen. Er muß um 12 Uhr essen. Leider muß er sich außerdem noch mit einem Galaxy S6 edge+ rumärgern. Das ist das aktuelle Topmodell von Samsung. Das mit abgerundeten Bildschirmkanten! Sein Eigentümer kommt nicht zu Google damit. Trägt eine Glatze zur Lederjacke und ist noch älter als ich. Deutlich älter. Eigentlich zu alt für so ein Hightechgerät. Eigentlich eher der Kunde für was mit großen Tasten und rotem Notrufknopf. Er redet sehr viel. Ohne Unterlaß geradezu. Vom anderen Ende der Technik-Theke aus verstehe ich nicht wirklich, was er zu sagen hat. Google – er sagt “Guhgöll” – kommt häufig vor. Ich kann mir nicht vorstellen, was es da zu erzählen gibt. Wieder und wieder. Google geht eben nicht. Irgendwas ist verstellt oder kaputt. Das hat Pierre verstanden. Pierre nickt diskret. Tippt auf den Bildschirm, begutachtet die SIM-Karte, verbindet das Telefon mit einem Computer. Aber er findet das Problem eben nicht so schnell. Jeder Neustart dauert fast zwei Minuten. Als Telefonnerd würde auch ich Lächeln und Bonjour früher oder später einstellen. Insbesondere, wenn da immer einer steht und mich vollquatscht. Ein Alter in Lederjacke. Einer, der das gewaltige Potenzial seines Topmodells ohnehin nicht zu nutzen in der Lage ist. Der schon an Google scheitert. Und alles verstellt hat in den Parametern. Vielleicht wirklich was kaputt gemacht hat. Zu allem Überfluß sich weitere Kunden an meiner Theke sammeln. Nicht ordentlich in einer Schlange wie vorne am Accueil mit der hübschen Praktikantin. Das ist besonders nervig. Einer neben dem Anderen. Wie in einer Bar. An meiner Theke. Und alle schauen bei der Arbeit zu. Kontrollieren betont umständlich alle dreißig Sekunden die Uhrzeit auf dem Display ihres Handys. Da kann man nicht mehr Bonjour sagen. Am besten jeglichen Blickkontakt mit Kunden vermeiden.
11:49 Uhr inzwischen. Und ich bin nicht mehr alleine mit der Lederjacke. Eine ältere Dame hat sich mit ihrem Billigtelefon zwischen mich und einen smarten Anzugträger gemogelt. Schnauft angestrengt unter dem Gewicht mehrerer Tüten von Printemps. Der Anzugträger war kurz nach mir gekommen. Er telefoniert schon wieder mit seinem chérie. Chérie wartet offenbar im Restaurant vor Carrefour. Ungeduldig. Weil sie Hunger hat. Vermutlich. Und ihre Mittagspause ja auch nicht ewig dauern wird. Der Anzugträger kann seine Anspannung nur mühsam verbergen. Wollte wohl auch nur noch “mal eben” zu Orange. Geh’ schon mal vor, chérie, ich komme gleich nach. Er wird mich gleich fragen, ob ich ihn vielleicht vorlassen würde. Wegen seines chérie. Die würde hungrig warten. Und er hätte nur eine ganz kleine Frage. Trente secondes. Ich würde vermutlich nicht Nein sagen können. Und müßte dann auch noch die Dame mit Tüten und Billigtelefon auf ihren Platz verweisen. Die sieht so aus, als würde sie mich nicht einmal fragen.
11:54 Uhr. Das S6 kann immer noch kein Google. Wahrscheinlich wird auch die Lederjacke gleich auf ein Uhr vertröstet werden. Mein Projekt ist nicht zielführend. Nicht eben mal. Morgen früh vielleicht nochmal. Solange kann ich ohne Google und whatsapp auf dem HTC auskommen. Oder ich frage später doch das Google im Krankenhaus-Computer nach dem Trick. Manchmal ergeben sich ja große Zeitfenster im Dienst.
Google – “htc orange internet” – dirigiert mich zielgerichtet zu den Parametern für die APNs. Access Point Names. Nie gehört. Zugangspunkte. Ein schöner Begriff für Telefonnerds. Es gibt einen APN für Internet und einen für MMS. Kann man im Telefon parametrieren. MMS funktioniert danach immer noch nicht. Egal. Damit kann ich sehr gut leben. Ich werde Pierre wohl doch nicht mehr besuchen.
© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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