Parthenogenese

Erstaun­lich fand ich vor allem, daß ein VIP wie Til Schwei­ger selbst seine Posts bei Face­book ver­wal­tet. Sogar selbst schreibt. Oder, natür­lich, auch denk­bar, jeman­den hat, der die­ses Image ver­mit­teln soll. Es geht um Nähe zum Publi­kum. Ich bin einer von euch. Am 3. Januar hatte ihn wohl jemand mit ver­hal­te­nem Kom­men­tar zu sei­nem jüngs­ten Auf­tritt im "Tat­ort" ver­är­gert. Viel­leicht waren Herr Schwei­ger oder sein Schrei­ber auch unter Alko­hol. Oder ande­ren Dro­gen. Oder Alko­hol, Dro­gen, Ärger. Alles mensch­lich. Publi­kums­nähe. Im Post viel Weih­rauch und viel Aggres­sion. Viel­leicht ist der ja immer so. Was weiß ich. Egal. Ich habe nur wenige Filme mit Til Schwei­ger gese­hen. Kno­ckin' on Heaven's Door. Das ist viele Jahre her.

Letz­tes Wochen­ende also ein Auf­tritt im "Tat­ort". Muß wohl stark an eine kali­for­ni­sche Insze­nie­rung erin­nert haben. Orga­ni­sierte Kri­mi­na­li­tät, ent­führte Toch­ter. Pan­zer­faust. Und das in Ham­burg. War wohl nicht jeder­manns Geschmack. Ver­hal­ten posi­tive Rezep­tion. Ärger. Face­book. Bei Face­book darf ohne­hin jeder alles ver­öf­fent­li­chen. Pos­ten heißt das da wohl. Wenn die Redak­teu­rin des ZEIT Maga­zins sich nicht online über die vie­len Aus­ru­fe­zei­chen in Til Schwei­gers Post gewun­dert hätte, wäre mir die­ser Post nicht auf­ge­fal­len. Ich habe ers­tens kein Konto bei Face­book und gehöre zwei­tens nicht zu Tils Freun­den. Es ist rich­tig: Es wim­melt da nur so von Aus­ru­fe­zei­chen. Kom­pa­nie­weise grup­piert. Auch viele Punkte. Auch kom­pa­nie­weise. Sogar Vokale in nor­ma­len Wor­ten – "viiiieel". Das wirkt schon etwas puber­tär. Oder, wie gesagt, Alko­hol, Dro­gen, Ärger. Anna Kem­per, die Redak­teu­rin bei der ZEIT, stört sich ein biß­chen am Inhalt des Posts, ganz sub­til läßt sie Aver­sio­nen gegen den Schau­spie­ler durch­schim­mern. Vor allem aber nimmt sie ihm den ekla­tan­ten Miß­brauch des Aus­ru­fe­zei­chens übel, befürch­tet gar die ernst­hafte Beschä­di­gung der welt­wei­ten Vor­räte.

Liebe Frau Kem­per!

Ich möchte Sie dar­auf hin­wei­sen, daß Aus­ru­fe­zei­chen, ebenso wie die meis­ten bekann­ten Schrift­zei­chen, bio­lo­gi­schem Hin­ter­grund ent­stam­men. Die Bestände ver­fü­gen, solange das Bio­top selbst nicht ernst­haf­ten Scha­den nimmt, über ein dra­ma­ti­sches Rege­ne­ra­ti­ons­po­ten­tial. Bedro­hung erfährt das Aus­ru­fe­zei­chen viel­mehr durch den evo­lu­ti­ven, aggres­si­ven Vor­sprung von­sei­ten rela­tiv neu auf­tre­ten­der typo­gra­phi­scher Phä­no­mene.

In einer außer­halb der aka­de­mi­schen Fach­ge­sell­schaf­ten lei­der nur wenig beach­te­ten Arbeit zu Nomen­kla­tur und Paläo­ge­ne­tik von Emo­ti­cons und Smi­leys konnte die Arbeits­gruppe um Mar­vin D. Riley vom St.-Quentin-Institute for App­lied Typo­gra­phic Sci­en­ces im neu­see­län­di­schen Wel­ling­ton das Aus­ru­fe­zei­chen zusam­men mit wei­te­ren Satz­zei­chen anhand des gewon­nen DNA-Mate­ri­als als wahr­schein­li­chen Urkeim sämt­li­cher aktu­el­ler gra­phi­scher Text­ele­mente iden­ti­fi­zie­ren. Ursprüng­lich war das Vor­kom­men von Aus­ru­fe­zei­chen nach Erkennt­nis­sen der Arbeits­gruppe auf einige wenige gene­tisch homo­gene Popu­la­tio­nen welt­weit beschränkt. Ihre Ver­meh­rung fand und fin­det geschlecht­lich vor­wie­gend inner­halb der gege­be­nen Popu­la­tio­nen statt. So wie beim Men­schen und der Kopf­laus. Zum Bei­spiel. Paläo­ge­ne­tisch las­sen sich dabei nur einige wenige Phä­no­mene des Aus­tauschs von Erb­ma­te­rial zwi­schen den Grup­pen fest­stel­len. Abge­se­hen von eini­gen weni­gen lebens­fä­hi­gen Muta­tio­nen wie Fra­ge­zei­chen, Strich­punkt und vor­wie­gend im süd­west­eu­ro­päi­schen und süd­ame­ri­ka­ni­schen Sprach­raum behei­ma­te­ten Varia­tio­nen wie "¡" sowie "¿" konn­ten keine wei­te­ren rele­van­ten Ent­wick­lun­gen nach­ge­wie­sen wer­den. Riley stellt ein­drück­lich die inzes­tuöse Gen­kon­stel­la­tio­nen ver­schie­de­ner Popu­la­tio­nen dar. Diese sei jedoch ohne wei­tere Rele­vanz. Wobei vor allem das Aus­ru­fe­zei­chen neu­zeit­lich eine Ten­denz zu prä­gnan­ter Fer­ti­li­tät auf­weist. Das erklärt auch die Tat­sa­che, daß Aus­ru­fe­zei­chen ganz sel­ten nur paar­weise anzu­tref­fen sind. Meis­tens wer­den dann gleich drei oder mehr dar­aus. Oder, wie im Falle des Face­book-Posts von Herrn Schwei­ger, gleich ganze Rudel. Die Befürch­tung, daß das Aus­ru­fe­zei­chen durch Miß­brauch zur Neige gehen könnte, ist somit völ­lig unbe­grün­det. Im Gegen­teil.

Erst durch mut­wil­lige Ver­kreu­zung ande­rer sekun­dä­rer typo­gra­phi­scher Ele­mente wie Klam­mern, Minus­zei­chen und Dop­pel­punk­ten gewann die Evo­lu­tion gra­phi­scher Text­ele­mente an Dyna­mik. Gene­tisch unter­schei­den sich die genann­ten Zei­chen dabei nur durch erstaun­lich wenige Gen­se­quen­zen vom Aus­ru­fe­zei­chen. Als Weg­be­rei­ter gel­ten das Smi­ley des Wer­be­gra­fi­kers Har­vey Ball (1963) und die legen­däre Code­page 437 von IBM (1981) mit dem wei­ßen (☺︎) und schwar­zen (☻) Smi­ley. Der Durch­bruch zu evo­lu­tio­nä­rem Wild­wuchs gelang mit Scott E. Fahl­mann von der Car­ne­gie Mel­lon Uni­ver­sity, Pitts­burgh, Penn­syl­va­nia, USA. 1982. Sein Vor­schlag der Zei­chen­kom­bi­na­tio­nen 🙂 (Dop­pel­punkt, Minus, Klam­mer zu) und 🙁 (Dop­pel­punkt, Minus, Klam­mer auf) sollte rhe­to­risch weni­ger begab­ten Wis­sen­schaft­lern ermög­li­chen, einen Bei­trag ein­deu­tig als scherz­haft bezie­hungs­weise seriös zu klas­si­fi­zie­ren. Um Miß­ver­ständ­nisse zu ver­mei­den.

Mitt­ler­weile haben Emo­ti­cons und Emo­jis, in Japan auch Kao­mo­jis, als typo­gra­phi­sche Ele­mente eine rasante Evo­lu­tion durch­lau­fen und sind allent­hal­ben und viel­ge­stal­tig in bei­nahe jeder Text­form anzu­tref­fen, ins­be­son­dere jedoch im Rah­men der Tele­kom­mu­ni­ka­tion und im Bereich sozia­ler Medien. Die­ses Umfeld scheint die kom­pakte Dar­stel­lung auch kom­pli­zier­ter Sach­ver­halte bei gleich­zei­ti­ger Reduk­tion ortho­gra­phi­scher Ansprü­che zu erzwin­gen. Sie ermög­li­chen auch ten­den­zi­ell apha­si­schen, dys­gra­phi­schen und leg­asthe­ni­schen Teil­neh­mern die Illu­sion emo­tio­na­ler Tiefe im Schrift­ge­brauch. Fort­ge­schrit­te­nen Nut­zern reicht die Kom­bi­na­tion von zwei, drei Zei­chen für die Dar­stel­lung kom­ple­xer Inhalte. Eine beson­dere Gefahr sei dabei dem Umstand zuzu­mes­sen, daß sich eine Viel­zahl der Emo­ti­cons auch ohne gegen­ge­schlecht­li­chen Part­ner zu ver­meh­ren in der Lage zu sein scheint. Par­the­no­ge­nese. Mut­ter- und Toch­ter­ge­nera­tion ver­fü­gen über iden­ti­sches Gen­ma­te­rial. Sinn­be­frei­tes, ubi­qui­tä­res Auf­tre­ten sei die Folge. Schreibt Mar­vin D. Riley.

Die neu­see­län­di­sche Arbeits­gruppe schließt aus den gesam­mel­ten Befun­den, daß der Fort­be­stand des Aus­ru­fe­zei­chens nicht etwa durch Miß­brauch, son­dern durch evo­lu­tive Domi­nanz der Emo­ti­cons gefähr­det sei. Die kon­se­quente Umset­zung der Dar­win­schen Lehre. Als Wis­sen­schaft­lern sei ihnen eine per­sön­li­che Wer­tung nicht gestat­tet. Emo­ti­cons hät­ten eben ihre gene­ti­sche Berech­ti­gung. Nicht mehr und nicht weni­ger als zum Besi­piel Kopf­laus und HIV-Virus.

Vor dem Hin­ter­grund die­ser Arbeit muß man anneh­men, daß wir Herrn Schwei­ger für sei­nen Post dank­bar sein soll­ten. Oder Luna. Weil sie ganz offen­sicht­lich ihrem Papa die sichere Beherr­schung der Emo­ti­con-Sei­ten auf sei­nem Tele­fon noch nicht nahe­brin­gen konnte.

p.s.:

Lesens­wert zum Thema Ruf­zei­chen-Infla­tion und Smi­ley-Hypo­k­ri­sie der Arti­kel von Cosima Schmitt in ZEIT ONLINE vom 17. Januar 2016. Und die­ser zu Emo­jis aus der ZEIT vom 7. Mai 2015. Gründ­lich recher­chier­ter Hin­ter­grund.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

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