Meilleurs vœux

Freitag

Hierzulande, wo sich die Menschen etwas extrovertierter geben, mediterraner eben, wünscht man sich zum Jahreswechsel nicht nur pauschal alles Gute oder ein Schönes Neues. Die besten Wünsche – meilleurs vœux – werden gerne noch in allerlei Details präzisiert: Glück, Zufriedenheit, Geld, Kindersegen zum Beispiel. Erst die Wünsche, dann die Küsse. Kolleginnen und Kollegen, Schwestern, Pfleger, Hebammen, die Telefonistin, Hilfspflegerinnen, alle. Sogar die Oberschwester und Damen aus der Verwaltung. Damen, die mir völlig unbekannt sind, die sich sonst vermutlich hinter Türen der Teppichbodenflure verstecken. Sieht man ganz selten. Verwaltung eben. Sagen mir wegen meines Kittels Bonjour. Und, des kürzlichen Jahreswechsles wegen, bonne année. Denken sich, das muß einer der Doktoren sein, den sie verwalten. Werden umgehend geküßt. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Sermon zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jahren, noch nicht wirklich dahinter gekommen, ob dieses Ritual bestimmten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesundheit enden. Man kann den Lottogewinn anbringen, ein neues Auto, Erfüllung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Surtout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuversicht und Herz in die Augen gucken. Mit manchen Schwestern und Hebammen ist das nett. Das Wünschen und die terminalen Küßchen links, rechts, mit dezentem Anfassen. Oberarm, Unterarm, Taille. Wo’s gerade paßt. Nett, insbesondere, wenn die Augen nett gucken. Ganz dicht ran, Wange an Wange, einatmen, riecht oft gut, Küßchen.

Kollateral muß man auch manche Männer küssen. Bernard. Chef der Viszeralchirurgen. Noch-Chef. Geht dieses Jahr in Rente. Bernard ist leider meist unrasiert. Ungewaschen. Sein Bad zu Weihnachten ist auch schon einen guten Monat alt. Okay, ich übertreibe etwas. Massiver Zahnstein aber, Essenreste. Olfaktives Feuerwerk. Um es mal positiv auszudrücken. Ich habe mir für dieses Jahr eine positive Ausstrahlung vorgenommen, übrigens. Aktive Positivierung. Am liebsten begrüße ich ihn normalerweise von einem zum anderen Flurende. Nur zum Geburtstag und wenn es sich durch unglückliche zeitlich-räumliche Konstellationen gar nicht vermeiden läßt, geben wir uns die Hand, seine ist so eine kraftlos-schwammig-weiche. Die sich zudem noch irgendwie klamm anfühlt. Manchmal erwischt er mich in meinem Büro, um mir weitschweifig von irgendwelchen unglaublich interessanten Fällen auf seiner Station zu erzählen und meine Meinung dazu zu hören. Versteckte Blindärme, entzündete Divertikel, versoffene Bauchspeicheldrüsen. Meine Meinung entspricht meistens seiner, einfach weil er so aus dem Mund und überhaupt nicht gut riecht. Schwierig nur, wenn er mir mehrere Meinungen anbietet und jede einzelne hinsichtlich ihrer anästhesiologischen Relevanz diskutiert haben möchte. Aber er ist eben der Chef. Vor Jahren mußte er mich zudem als Chef der Commission médicale d’Établissement zum Beamten wählen. Hat er trotz anfänglicher Bedenken gemacht. Dafür bin ich ihm dankbar. Und er ist älter als ich. Alter wird respektiert. Er duzt mich, ich sieze ihn.

An seinem ersten Arbeitstag im neuen Jahr erwischt er mich kalt. Auf dem Flur seiner Station laufe ich ihm geradewegs in die Arme. Er nimmt die Brille ab. Das ist das Zeichen. Wenn ich die Brille abnehme, weiß auch die Telefonistin, daß sie jetzt geküßt werden wird. Und gerät ins Stottern. Sowas! Wird sogar ein bißchen rot. Nehme ich auch persönlich. Positiv persönlich. Bernard hat also die Brille abgenommen. Muß ich also durch mit den Küssen. Definitiv. Es gibt außer Küssen keinen Grund, mitten auf dem Stationsflur die Brille abzunehmen. Küßchen mit Bernard treiben mir die Tränen in die Augen. Das olfaktive Feuerwerk. Aus unmittelbarer Nähe ein Potential wie Ammoniak. Meine Tränen nimmt er sicher persönlich. Positiv persönlich offenbar. Dafür gleich nochmal. Ich habe ihn schon letztes Jahr geküßt. Und das vorvorletzte. In all den Jahren vor und nach meiner Wahl zum Beamten. Wahrscheinlich erinnert er sich daran. Dieses wird das letzte Mal gewesen sein.

Céline, die Stationsschwester, macht den Neues-Jahr-Zauber mit Bernard trotz bekannter Letztmaligkeit ohne Anfassen und ohne Küssen. Das ist mutig. Geht eigentlich nicht. Bernard ist immerhin der Chef. Und hat die Brille abgenommen, mitten auf dem Flur, sich leicht vorgebeugt. Die Lippen zum Küßchen gespitzt. Mutig von Céline, aber verständlich. Vermutlich der Essensreste wegen. Oder sie hat von seiner Ammokinak-Aura schon bei der Übergabe gehört. Läßt sogar die Gesundheit aus. Hat zufällig gerade beide Hände voll. Ganz zufällig. 28 Fenster geht’s nicht so gut, nuschelt sie schnell. Und der arme Bernard bleibt ohne Brille kurzsichtig stehen. Tut er mir fast leid.

Montag. Dienst.

Meine Runde über die Stationen habe ich hinter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereifter Blinddarm von Bernard in der Notaufnahme. Ich langweile mich. Abstecher in den Kreißsaal. Keine Erstgebärende im Kreißsaal, die nach einem Periduralkatheter schreit. Nadja, Laetitia und Philippe langweilen sich auch. Philippe? Wir haben ziemlich viele Männer bei den Hebammen. Philippe, Sébastien, Wilfried und Jérôme. Beruf: Maïeuticien. Der Begriff für die männliche Hebamme. Seit ein paar Jahren Teil meines aktiven Wortschatzes. Ich habe zusätzlich bei wikipedia nachgelesen. Entbindungspfleger heißen sie in Deutschland. Hebamme in Österreich auch die männlichen Vertreter. 2013 keine männliche Hebamme in Österreich. Drei in ganz Deutschland. Wir haben vier. An meiner Provinzklitsche! Darunter Philippe. Dicklicher Gesichtshaarträger. Vollbart. Kopftuchfrauen sollen sich mal nicht so anstellen. Wird ihnen und ihren Männern gleich bei der Aufnahme verkündet. Wahrscheinlich ein Ausdruck von Liberté und Égalité. Vielleicht paßt das sogar zur Fraternité. Finde ich persönlich auch ziemlich grenzwertig. Während meiner Karriere damals, Ende des letzten Jahrtausends in katholischen Krankenhäusern im östlichen Westfalen, waren männliche Hebammen kategorisch undenkbar. Philippe jedenfalls mag ich nicht so. Nicht wegen des Übergewichts oder der Gesichtsbehaarung. Vielleicht ein Vorurteil. Philippe war mal in Indien für ein paar Monate Auszeit. Ich hatte gehofft, er würde einfach dort bleiben und in langfristiger Suche nach Erleuchtung verharren. Und dann war er doch wieder da. Ohne Erleuchtung, wie mir scheint. Wird nicht geküßt. Es gibt Grenzen. Dafür Laetitia. Laetitia sieht aus, als wäre sie mal Model gewesen. Guckt auch sehr nett. Ich nehme das persönlich. Obwohl sie vermutlich jeden nett anguckt. Trägt etwas zuviel von zu billigem Parfum auf. Sie hat ein Haus gekauft mit ihrem Mann letztes Jahr, nicht weit vom Meer, Weihnachten war diesmal etwas knapper im Budget wohl. Egal. Ein gutes neues Jahr! Die besten Wünsche! Und – vor allem – Gesundheit! Santé!

Und Serge. Serge lasse auch ich aus mit dem Küssen. Schönes Neues, beste Wünsche, gute Gesundheit. Die Kurzfassung. Serge ist Pritschenschieber. Hat nur Ficken im Kopf. Ficken ist nicht meine Wortwahl, ist Bestandteil seines aktiven Sprachwortschatzes in Deutsch. Serge war vor Jahren mit seiner Collège-Klasse auf Austausch in Mannheim. Ischlibbedisch hat er außerdem gelernt und willsdumimmirschlaffän. Das ist Serge pur. Allerdings kann Serge dazu auch Politik. Fragt mich immer, wann ich Angela zum letzten Mal so richtig rangenommen hätte. Findet er rasend originell. Ein Joke, der mit zunehmendem Alter an Würze zu gewinnen scheint. Basalfranzose. Tut so, als hätte er schon alle gehabt im Centre hospitalier und in der Stadt dazu. Und ich nur Angela. Vermutlich. Aber immerhin. Er dafür alle anderen, die halbwegs was hermachen. Angela und ich lassen uns andererseits nicht erwischen, sage ich dann. Nicht so, wie Serges blöder Präsident. Der sich mit einer Schauspielerin auf dem Mofa fotografieren läßt. Abends. Croissants vom Bodyguard zum Frühstück. Wieder Fotos. Serge findet das cool.

Bonne année!

Modifizierter Vorschlag von für die Januar-Ausgabe 2016 des Riviera-Magazins. Um im Rahmen von 3.500 Zeichen zu bleiben:

Hierzulande, wo sich die Menschen etwas extrovertierter geben, mediterraner eben, wünscht man sich zum Jahreswechsel nicht nur pauschal alles Gute oder ein Schönes Neues. Die besten Wünsche – meilleurs vœux – werden gerne noch in allerlei Details präzisiert: Glück, Zufriedenheit, Geld, Kindersegen zum Beispiel. Wünsche und Küsse. Kolleginnen und Kollegen, Schwestern, Pfleger, Hebammen, die Telefonistin, Hilfspflegerinnen, alle werden bewünscht und geküsst. Sogar die Oberschwester und Damen aus der Verwaltung. Damen, die ich nur vom Sehen kenne, die sich sonst hinter Türen der Teppichbodenflure verstecken. Sieht man ganz selten. Verwaltung eben. Sagen mir wegen meines Kittels Bonjour. Denken sich, das muß einer der Doktoren sein, den sie verwalten. In Zivilkleidung würden sie mich maximal für einen Patienten halten. Wünschen mir auch, des kürzlichen Jahreswechsles wegen, bonne année. Werden umgehend geküsst. Bonne année, meilleurs vœux, bonne santé.

Der ganze Text zum neuen Jahr muß, glaube ich, ich bin bis jetzt, in all den Jahren, noch nicht wirklich dahinter gekommen, ob dieses Ritual bestimmten Regeln folgt, es muß aber mit der Gesundheit enden. Man kann den Lottogewinn anbringen, ein neues Auto, Erfüllung in der Liebe, tolle Ferien. Vor allem aber gesund! Der Rest wird dann schon! Surtout la santé! Le reste va suivre! Voilà! Dazu voll Zuversicht und Herz in die Augen gucken. Mit manchen Schwestern und Hebammen ist das nett. Das Wünschen und die Küßchen links, rechts. Vor allem, wenn sie nett gucken. Zum neuen Jahr gucken sie fast alle nett. Später gibt sich das wieder. Ganz dicht ran, Wange an Wange, riecht oft gut, Küßchen.

Kollateral muß man auch manche Männer küssen. Xavier. Chef der Bauchchirurgie. Noch-Chef. Xavier geht bald in Rente. Ist leider meist unrasiert. Oft ungeduscht. Sein Bad zu Weihnachten ist auch schon einen knappen Monat alt. Okay, ich übertreibe etwas. Seine Aura gleicht einem olfaktiven Feuerwerk. Am liebsten begrüße ich ihn normalerweise von einem zum anderen Flurende. Nur zu Geburtstag und Jahreswechsel riskiere ich Körperkontakt.

Montag. Dienst.

Meine Runde über die Stationen habe ich hinter mir. Nichts los. Nicht mal ein gut gereifter Blinddarm von Xavier in der Notaufnahme. Abstecher in den Kreißsaal. Keine Erstgebärende im Kreißsaal, die nach einem Periduralkatheter schreit. Nadja, Laetitia und Philippe langweilen sich auch. Philippe? Wir haben ziemlich viele Männer bei den Hebammen. Philippe, Sébastien, Wilfried und Jérôme. Beruf: Maïeuticien. Entbindungspfleger heißen sie in Deutschland. Hebamme in Österreich auch die männlichen Vertreter. 2013 keiner in Österreich, drei in ganz Deutschland. Wir haben vier! Und das in tiefster Provinz! Darunter Philippe. Vollbart. Übergewicht. Kopftuchfrauen sollen sich mal nicht so anstellen. Wird ihnen und ihren Männern gleich bei der Aufnahme verkündet. Wahrscheinlich ein Ausdruck von Liberté und Égalité. Vielleicht paßt das sogar zur Fraternité. Finde ich persönlich auch eher gewöhnungsbedürftig. Würde mir als werdendem Vater auch nicht gefallen. Aber vielleicht bin ich in dieser Hinsicht etwas konservativ. Philippe jedenfalls mag ich nicht so. Ihm mangelt ein bißchen an professioneller Dynamik. Philippe war mal in Indien für ein paar Monate Auszeit. Ich hatte gehofft, er würde einfach dort bleiben und in langfristiger Suche nach Erleuchtung verharren. Und dann war er doch wieder da. Ohne Erleuchtung, wie mir scheint. Er wartet immer noch. Wird nicht geküßt. Es gibt Grenzen.

Dafür Laetita. Laetitia sieht so aus, als wäre sie mal Model gewesen. Hat ein zauberhaftes Lächeln. Ich nehme das persönlich. Obwohl sie vermutlich jeden nett anguckt. Egal. Meilleurs vœux, bonne santé, Küßchen. Laetita ist meine Lieblingshebamme. Nicht nur wegen ihres Lächelns. Nicht nur, aber auch. Laetitias Lächeln ist auch um 02:39 Uhr noch zauberhaft. Immer. Zum neuen Jahr vielleicht noch ein Spur zauberhafter. Auch um 02:39 Uhr. Wenn sie mich braucht für eine Péridurale oder Césarienne.

Bonne santé.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr