Kettensägenschmerz
November.
Der Tag fängt nicht gut an. Ich werde vom Rappeln meines Zweitgeborenen im Treppenhaus wach. 6:42 Uhr. Statt 6:30 Uhr im Auto, 6:43 Uhr an der Zahnbürste. 6:57 Uhr im Auto. Kein Kaffee. Viel zu spät eigentlich für einen Montag Morgen vor Marseille. 8:06 Uhr im Wartezimmer der Neurochirurgie, La Timone, Uniklinik von Marseille, fünfte Etage. Ein Bau wie im präkapitalistischen Osteuropa. Das Ambiente im Wartezimmer entsprechend. Dazu rappelvoll. Für mich gibt es noch einen Stehplatz. Als erster auf der Liste aber komme ich aber auch als erster dran. Um 8:34 Uhr. Geht doch! Der Professeur paßt zum präkapitalistischen Ambiente. Speckiger Kittel. Grunzt was. Sollte wohl Bonjour heißen. Stellt sich nicht vor. Schaut sich meinen Befund im Computer an, die CD mit den Bildern. Sagt nichts. Ich solle mal meinen Pullover ausziehen. Da drüben. Handzeichen. Setzen auf die Liege. Auf dem Einmalpapier der Liege hat schon mal jemand zumindest gesessen. Er prüft die Reflexe, die grobe Kraft in den Armen, in den Fingern. Seitengleich, meine Kraft so gut wie die des Professeur. Den Zauber mit Ausziehen und Untersuchen spielt er vermutlich nur, weil er weiß, daß ich Kollege bin. Anästhesist. Das sind die, die gelegentlich sogar ein Stethoskop verwenden. Wie er selbst auch, ganz früher als Student. Im OP!
Keine Operation erstmal, sagt der Professeur schließlich. Nur, wenn ich darauf bestünde. Warum könnte man auf einer Operation bestehen? Wegen der Taubheit zum Beispiel in den Fingern. Alternativ vielleicht ein paar Infiltrationen. Was er von Physiotherapie hielte? Pfff, bringt nichts, sagt er. Okay, das ist ein Chirurg. Der denkt mit dem Messer. Arthrodese oder Prothese. Andere Alternativen geben die Strukturen dieser Uni wohl nicht her.
Dankeschön, au revoir. Vielleicht.
Ein paar Wochen zuvor lag ich in einer Röhre, hatte Stöpsel in den Ohren, trotzdem ein Höllenlärm. Dazu und vor allem aber einen Höllenschmerz, ich würde sogar sagen “Kettensägenschmerz”, neun von zehn Punkten auf der Analogskala. In der Schulter, im Arm, brennendes Kribbeln in den ersten drei Fingern links. Vielleicht bin ich ja auch ein Weichei. Und dabei hatte ich mich davor richtig abgedröhnt. Was die Schubladen der orthopädischen Chirurgie eben so hergeben. Parazetamol mit Kodein, Tramadol und noch irgendein Schmerzmittel. Hat nicht gereicht. Hätte ich mir doch nur einen Morphin-Patch geholt! 50 Mikrogramm mindestens. Kettensägenschmerz. Ich war nahe daran, den Panik-Knopf zu drücken. Wäre mir aber doch zu peinlich gewesen. Das hätte sich in Windeseile im ganzen Krankenhaus herumgesprochen. Der Anästhesist, der seine eigenen Schmerzen nicht unter Kontrolle hat! Geht gar nicht. Wenn sie so nichts finden, ist da auch nichts, dachte ich mir. Und so lange wird das nicht mehr dauern. Flecken zählen am Röhrenhimmel half ein bißchen. Wie eigentlich kommen da Flecken hin? Und mit den Zehen wackeln. Luft anhalten. Atmung kontrollieren. Wenn man sich auf seine Atmung oder die Zehen konzentriert, rückt der Schmerz ein bißchen in den Hintergrund. Dabei Hyperventilation vermeiden. “IRM” heißt das hier, MRT oder MRI im restlichen Europa und sonstwo. Magnetresonanz-Tomographie eben.
Wegen persistierender Schmerzen im Schulterbereich, Schulterblatt vor allem und Oberarm. Ausstrahlung bis in Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Taubheit im Zeigefinger. Parästhesien. Und das seit April oder Mai. Hatte was Mittelschweres gehoben auf Über-Kopf-Niveau und ein Knacken gespürt, links oben irgendwo. Irgendwie unter dem Schulterblatt. Und seitdem Schmerzen. Mal mehr, mal weniger. Vor allem nach ein paar Kilometern auf dem Fahrrad. Deswegen Verdacht auf Karpaltunnelsyndrom. Operation Ende August unter Lokalanästhesie. Der Blick ins eigene Handgelenk ist eine interessante Erfahrung. Danach drei Wochen krank geschrieben. Auch schön. Aber keine Besserung. Auf Dauer ermüdend, dieser Schmerz. Immer.
IRM am Dienstag im November. Endlich.
Danach wollte ich nur noch nach Hause mit meiner Kettensäge im Arm. Der Befund würde auch bis Donnerstag auf mich warten. Im Auto die Musik ganz laut. I can get no – satisfaction. Hilft auch. Besser als Atmen. Zuhause offenbar immer noch ganz blaß. Was ist denn mit dir los?
Donnerstag
Vorfall auf Höhe C7 der Befund. Links am Austritt des Spinalnerven. Könnte die Symptomatik erklären. Ich konnte mir vorstellen, daß man das operieren muß. Ich kann mir nicht vorstellen, das in Frankreich operieren zu lassen. Zu gut kenne ich den Betrieb in öffentlichen Strukturen.
Ich brauchte eine Gegenmeinung aus Deutschland. Ich konnte mir vorstellen, mich eventuell dort operieren zu lassen. Von ganz früher, aus meinem anästhesiologischen Sandkasten in Westfalen sozusagen, habe ich einen Kumpel. Inzwischen Fast-Chef der Anästhesie in einem Krankenhaus des nordöstlichen Ruhrgebiets. Er arbeitet mit dem Neurochirurgen zusammen, der ihn selbst auch an der Wirbelsäule operiert hat. Und ist zufrieden mit dem Resultat. Patientenzufriedenheit ist die beste Werbung. Der Neurochirurg sah sich meine Bilder an. Telefonsprechstunde am Abend. Aus dem Auto. Jugendliche Stimme, angenehm. Sagt das Gleiche wie der Professeur in Marseille. Etwas detaillierter: Meine Bandscheibenschäden wären ja schon älter. Da wäre ja auf fast jeder Ebene was. Manches knöchern organisiert. Ob ich nicht auch Schwindelattacken hätte? Kopfschmerzen? Sehstörungen? Andere Ausfälle? Fühlte mich mit einem Mal unglaublich alt. Ich bin quasi ein Fossil, lebendes Genmaterial des letzten Dinosauriers. Nein, nein, so meinte er das nicht, sagte die jugendliche Stimme. Wirbelsäulenprobleme wären die Krankheit des jungen Menschen. Aha. Sehr charmant.
Der Neurochirurg im nordöstlichen Ruhrgebiet empfahl abschließend einen Zyklus von fünf bis sechs Periradikulär-Infiltrationen unter CT-Kontrolle. Im Abstand von jeweils einer Woche. Dann Physiotherapie. Ein operativer Eingriff wäre eher selten notwendig. Würde er dann aber auch machen. Er hat schon Amis und Japaner operiert. Aus der ganzen Welt kommen sie zu ihm. Wow.
Also doch Nadeln im Hals? Vielleicht doch erstmal zuwarten.
Eine andere Kollegin mit viel Erfahrung aus einer Frankfurter Schmerzambulanz favorisiert den dort praktizierten interdisziplinären Therapieansatz. Chemie und Psychotherapie. Physiotherapie und Entspannungsübungen. Multimodal nennt sie das. Wir sind in Frankreich. Multimodal in diesem Sinne gibt es hier nicht. Geht gar nicht. Da nüßten sich die beteiligten Therapeuten ja untereinander irgendwie absprechen! Bleiben regelmäßige Termine mit einer Physiotherapeutin.
Im Dezember hatte ich einen Friseurtermin. Nachmittags um zwei. War dringend nötig. Wenn Pflegerkollegen mir im OP ungebeten überstehende Locken abschneiden und, vor allem, wenn Patienten mich mit Madame ansprechen, ist der Friseurtermin unabwendbar. Davor hatte ich eben noch was zu erledigen. Kinder und Senioren haben immer “eben noch” was zu erledigen. Plötzlich 13:57 Uhr. Ich hasse es, Menschen warten zu lassen. Auch die Coiffeuse. Plötzlich mußte ich rennen. Knapp fünfhundert Meter ins Dorf. Und war ganz überrascht, daß mir der Arm nicht wehtat. Keine Kettensäge, kein brennendes Kribbeln bis in die Fingerspitzen.
Time is non-toxic.
Ich würde mich nicht in den Hals stechen lassen. Und ihn auch nicht aufschneiden lassen, den Hals. Ich würde weiter zuwarten. Entschied ich. Und mich solange massieren lassen. Von Lyliane. Mit Y. Das ist meine Physiotherapeutin. Sie hat meiner Tochter, als die noch ganz klein war und verrotzt, ein paar Mal massenweise Schleim aus der Lunge gewrungen. War grauenhaft anzusehen. Hat aber gewirkt. Patientenzufriedenheit ist die beste Werbung. Die Spielereien mit den Elektroden am Rücken ließen wir aus. Bringt nichts. Rückenmassieren ist besser. Sie behauptete, das wäre ja alles ganz atrophiert. Hat mir nicht gefallen. Atrophierte Versteinerung. Dinosaurier. Nur noch Knochen. Zuviel davon. Interessant war außer Massage Lylianes “Traktion” an der Halswirbelsäule. Etwas schmerzhaft. Ziemlich sogar. Kettensägenniveau. In der Schulter, im Arm, brennendes Kribbeln in den ersten drei Fingern links. Aber ich hatte das Gefühl, daß das hilft. Danach war es besser.
Ich kann wieder Radfahren. Schon länger inzwischen. Manchmal, mehr prophylaktisch, sehe ich noch die Physiotherapeutin für Massage am Rücken und Traktion an der Halswirbelsäule. Manchmal signalisiert die Kettensäge mittels eines diskreten Kribbelns in der Schulter, daß sie durchaus noch präsent ist.
© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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