Hypocrisie

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Wen man nicht so alles Freunde nennt. Jérôme und Isabelle zum Beispiel, Jéjé et Zaza, pour les intimes, unter Freunden. Jérôme war viele Jahre Kapitän auf strategischen Atom-U-Booten. Ultrageheim, nicht mal seine Frau wußte, in welchem Gewässer der Erde sich ihr Mann gerade aufhielt. Am Ende seiner Karriere fast Admiral in Brest. Zu seinem großen Leidwesen nur fast. Seine Gattin kann ihre Genealogie zurückverfolgen bis ins elfte Jahrhundert zu Ludwig VI, dem Dicken. Uradel irgendwie. Upperclass. Sagt Jéjé. Jéjé empfindet sich und seine Isabelle als eindeutig upperclass.

Die haben wir vor gut zwei Wochen gesehen in Paris. Wir haben uns  alle überschwenglich gefreut über dieses Wiedersehen anläßlich des Laufs Paris-Versailles. Wir waren eingeladen in Jérômes und Isabelles Pariser Residenz im siebzehnten Arrondissement. Ein aufwendig renoviertes Stadthaus, Keller, Erdgeschoß, zwei Etagen. Wirklich schön geworden, geschmackvoll, die Fußböden knarren ein bißchen zu heftig. Vier Zimmer als Privathotel, sie selbst wohnen unter dem Dach. Zaza beaufsichtigt Personal und Frühstück, Jéjé plaudert, gerne auch Englisch mit charmantem Akzent und auch ein paar Brocken deutsch, beantwortet Anfragen von Gästen und die netten Bewertungen auf Tripadvisor. Die Übernachtung war immerhin kostenneutral. Sonst knapp dreihundert Euro die Nacht. War aber sowieso nichts los im Hotel. Jéjé konnte leider nicht mitlaufen die 16 km von der Tour Eiffel bis zum Château de Versailles, wollte eigentlich, war sogar eingeschrieben, konnte aber nicht, weil er sich zwei Wochen zuvor eine Zehe gebrochen hatte, links. Immer noch ganz geschwollen und blau. Auf seinem Boot sei er ausgerutscht. Seinem Segelboot, zwölf Meter. Daß er es nicht verleihen würde, ließ er auch gleich durchblicken, weil wir ja keine Ahnung hätten vom Segeln. Und von einem weiteren Besuch in der Bretagne, wo die Yacht liegt, war auch nicht die Rede. Kein Segelturn auf dem Atlantik. Trotz Platz für sechs in dem Kahn. Zwölf Meter, das ist schon nicht schlecht. Nicht mit uns. Lieber nicht.

Vor drei oder vier Jahren waren wir mit zwei Kindern eingeladen im Zweitwohnsitz in La Trinité. La Trinité ist das Saint-Tropez der Bretagne. Upperclass-Franzosen aus Paris haben einen Zweitwohnsitz in La Trinité oder Saint-Tropez. Oder beides. Dort nennen sie einen Neubau ihr Eigentum, die Lage zwar nicht wirklich traumhaft, ohne den Ozean in Sichtweite, aber mit beheiztem Außenpool, geräumigen und vielen Zimmern. Trotzdem zu klein für soviele Menschen über zehn Tage. Der Kram der Kinder immer wieder irgendwo, wo er nicht hingehörte. Kinder eben. Das mit dem Frühstück hatten sie allerdings schnell gelernt, die Kinder. Wie zuhause. Selbst abräumen. Anders als zuhause aber nur auf der Spülmaschine abstellen. In der Maschine selbst hatten sie nichts verloren. Spülmaschine kann nur Jéjé selbst. Und dann, Tag vier oder fünf des Aufenthalts, fiel ihm beim Einräumen eine der Frühstücksschalen meiner Kinder zu Boden. Brüllanfall. Wahrscheinlich hatte er schlecht geschlafen. Wie er die Schnauze so voll hätte und immer und überall und was wir uns denn denken würden und wer wir denn wären. Gar nicht upperclass. Jéjé der U-Boot-Kapitän. Blick tief in die Seele, die Wahrheit hinter der Fassade. Zehn Minuten Wutkrise. Zehn Minuten chrono, gefühlt genug für ein ganzes Leben. Manchmal kam ich gegen den Sturm zu Wort und es tat mir leid, wirklich leid, und Asche auf mein Haupt und wie konnte das nur passieren. Jéjé konnte sich hingegen nicht bremsen, wie er die Schnauze so voll hätte und immer und überall und was ich mir denn denken würden und wer ich denn wäre und nichts tat ihm leid, nicht einmal später mit Abstand und wieder umgänglich. Zehn Minuten chrono, gefühlt genug für ein ganzes Leben. Ich hätte nur zehn Minuten gebraucht, all unseren Kram und den meiner Kinder – und immer und überall – im Leihopel zu verstauen. Nur war meine Frau gerade Shoppen mit Zaza. Hätte ihr nicht gefallen, unvermittelt in den Opel einsteigen zu müssen. Die Tüten voll Shopping abstellen und weg mit dem Opel. Isabelle konnte ja auch nichts dafür. Also blieben wir.

Unvermeidlich am ersten Glas Champagner vor gut zwei Wochen die Frage zum Stand der Reisevorbereitungen zur Hochzeit des ersten Sohns. In Neuseeland. Die Hochzeit von Jérômes und Isabelles Sohn findet in Neuseland statt. Wir sind eingeladen. Warum auch immer. Viele der anderen Freunde können leider nicht kommen. Einer muß ja kommen. Der Sohn ist Ingenieur, mit Schwerpunkt Bootsbau und Innenarchitektur, nach Privatschulen in England und schließlich eben Neuseeland. Hauptsache weit weg. Dort hat er seine Liebe gefunden. Weiter weg geht nicht. Auf der Liste meiner Reisziele für dieses Leben noch, sagte ich, auf der Liste meiner Top fifty also, darunter  Island, Sibirien, Kasachstan und die Krim, sogar Nordkorea, käme Neuseeland glatt auf Platz einhundertvierundzwanzig. Leider. Schafe interessieren mich nicht so. Und auch nicht die Originalschauplätze der Herr-der-Ringe-Trilogie. Nicht mal die Hochzeit des Sohnes, mit dem ich über die Dauer ihrer Bekanntschaft Gelegenheit für vielleicht dreihundert gewechselte Worte hatte, comment ça va à l’école, wie geht’s in der Schule, nicht mal diese Hochzeit brächte Neuseeland mehr als drei Bonuspunkte. Ô, Bertrâme, là, tu me deçois, rief er aus, da enttäuscht du mich aber, und verpasste mir, das macht er gerne und ich hasse das, eine seine Ohrfeigchen. Kein Schlag ins Gesicht, aber die Hand an meiner Wange. Macht er öfter mal, wie als Scherz, manchmal reicht ein falscher Artikel, ô, Bertrâme, mit ö am Ende. Das nächste Mal schlage ich zurück oder trete ihm wie aus Versehen auf seinen faulen Zeh, oh pardon, désolé, ça va? – Entschuldige, tut mir leid, geht’s? Bisher gab ich allerdings den Klügeren und schlug noch nicht zurück.

Jéjé holt sich seine Niederlagen, wie jeder durchschnittliche Mensch, gelegentlich auch alleine, ganz ohne mein Zutun, nun ja, fast ohne mein Zutun. Wichtig war Jérôme und Isabelle bei unserem Besuch vor gut zwei Wochen ein überaus positiver Kommentar zum Hotel bei “Trip”, wie sie sagen, Tripadvisor. Von uns beiden? Ja, von euch beiden. Den automatisierten Algorhytmen von Trip gefiel das nicht. Trip vermutet Beschiß wegen gleicher IP-Adresse. Löschte unsere überaus positiven Beurteilungen und stufte Jéjés Privathotel von Platz elf auf Platz 25 herab. Panik im siebzehnten Arrondissement, ne faîtes plus rien, surtout ne faîtes plus rien. Unternehmt nichts mehr, bitte rein gar nichts mehr. Per Mail, per sms, telefonisch. Erdbeben, Panik, das Hotel stürzt ein. Zu spät. Ich hatte es nicht gut gefunden von Trip, meine überaus positive Bewertung einfach gelöscht zu sehen und sie gleich nochmal geschrieben. Zack, Platz 35. Ich könnte einfach so weitermachen. Noch fünf Mal und die können zumachen. Das ist besser als jedes Ohrfeigchen. Und doch so gut gemeint. Andererseits fast so wirkungsvoll wie ein Holzhammer auf Jéjés dickem Zeh. Vraiment désolé, cher ami, qu’est-ce je pourrais faire pour t’aider? – Tut mir ja so leid, teurer Freund, was könnte ich nur machen für dich?

Hypocrisie, subst., f.. Heuchelei, Scheinheiligkeit.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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