Hirschjagd

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Ich kenne Saint-Tropez. So, wie man als Tourist Saint-Tropez eben kennt. Ich war auch mal dort im Hochsommer, Sommerferien, später Vormittag. Gehört zu unseren ersten Frankreicherfahrungen in Familie überhaupt. 1996. Der Zweite gerade mal sechs Monate alt. Im Auto keine Klimaanlage. Im südöstlichen Ruhrgebiet wünschte man sich definitiv nur an drei Tagen im Jahr eine Klimaanlage. Damals zumindest, vor dem Klimawandel. Es gibt nur eine einzige Zufahrtsstraße nach Saint-Tropez. Im Sommer ist da immer Stau. In beiden Richtungen. VIPs kommen deswegen mit dem Hubschrauber oder der Jacht. Wir haben es damals nicht ganz geschafft bis Saint-Tropez. Wir haben aufgegeben. Ein Kaffee, um sagen zu können, wir hatten einen Kaffee in Saint-Tropez, an der ersten Parkmöglichkeit hinter dem Ortsschild. Nach bestimmt zwei Stunden Stau unter Tropenhitze und unwilligen Kindern hinten. Saint-Tropez im Sommer ist so wie die Zufahrt zum Baumarkt an einem verregneten Samstagnachmittag. Dann doch lieber mit tropfendem Wasserhahn leben. Oder die Abreise vom Strand um halb sechs. Stauwahrscheinlichkeit hundert Prozent. Auch an den unwahrscheinlichsten Streckenabschnitten. Das macht man zwei, drei Mal mit, dann hat man das Prinzip begriffen. Franzosen machen immer alles gleichzeitig. Kino, Einkaufen, Strand. Synchron. Alle. Und die Touristen machen immer mit. Alle, egal welcher Herkunft. Egalité. Im Stau sind wir alle gleich. Französische Touristen stimmen sich untereinander ab. Allez, jetzt! Die müssen eine App dafür auf ihrem iphone haben. Oder einen siebten Sinn für die perfekte Staukonstellation. Genetische Veranlagung.

Mitte Mai kommen Freunde von früher nach Cannes. Sie haben drei Tage Aida gewonnen, von Mallorca aus. Ein Tag Cannes. Freigang von 07:00 bis 17:00 Uhr. Wir wollen uns auf ein Bier oder so treffen, Cannes ist doch nicht weit von dir. Cannes Mitte Mai ist wohl so wie Saint-Tropez im Hochsommer. Filmfestspiele. Es ist alles abgesperrt, es gibt chaotische Umleitungen, alles ist verstopft und dauert ewig. Sagt eine bekannte Krimiautorin mit Wahlheimat Cannes. Und empfiehlt den Zug. Zug aber kann auch schiefgehen. Verspätet, verpasst, Streik. Anreise bis neun Uhr, denke ich, sollte auch mit dem Auto gut gehen. Selbst nach Cannes. Selbst zum Höhepunkt des Festivals hin. Da schläft der Tourist noch oder steht schon in der Schlange am Frühstücksbuffet. Brad Pitt und seine Freunde bewegen sich noch nicht öffentlich, nur die Pendler sind auf der Straße unterwegs. Letztere kenne ich von zuhause. Die sind immer da. Jeden Morgen, jeden Abend. Mit oder ohne App, mit oder oder ohne siebten Sinn.

Ich selbst kenne Cannes nicht mehr als von einem teuren Kaffee am Strand. Oder auch nur vom Durchfahren. Keine prägende Erinnerung jedenfalls. Einheimische behaupten, es gäbe nichts zu sehen in Cannes. Außer der Shopping-Meile – Boulevard de la Croisette – mit Palmen, dem Carlton und teuren Läden. Das muß man aber wollen sowas, Shoppen und so. Das Selfie mit Angelina Jolie kann man ohnehin vergessen. Alternativ kann man durch die Altstadt schlendern auf einen Hügel mit Kirche und Museum. Das Museum zeichnet sich durch einen Turm aus. Der Turm besticht durch die Aussicht, die er über die Stadt, das Meer und die Inseln bietet. Auf der Insel soll es ein ganz gutes Restaurant geben.

Oder Picknick am Strand irgendwo. Wenn da nicht abgesperrt ist.

Bis 16:38 Uhr muß ich zurück vor der Schule sein, normalerweise. Das werde ich primär auf 17:30 Uhr modifizieren, Kinder solange aux études. Für den schlimmsten Fall, ich schaffe es nichtmal bis 17:30 Uhr, kommt der Joker ins Spiel, mein Zweitgeborener. Wichtig wäre, daß der sein Telefon bei sich hätte. Geladene Batterie. Eingeschaltet. Und er antworten würde. Jede Etappe – Telefon dabei, Batterie geladen, eingeschaltet – eine ernstzunehmende Risikoquelle. Von Plan B ist es nicht mehr weit bis Plan C.

Oder doch Zug.

Oder ganz weg bleiben. Sicherheitshalber. Lieber Kollege, geht leider nicht, ich muß arbeiten. Kurz nach den Attentaten in Paris hatten wir Oper in Toulon. Landesweit Plan Vigipirate, alerte attentat – Attentatswarnung. Personenkontrolle am Eingang. Machen Sie mal bitte Ihren Mantel auf. Metalldetektor. Zwei Kontrolleure. Ganz klar überfordert. Schlange einmal über den Platz. Kein Polizist zu sehen. Top-Konstellation für Terroristen, sagte ich zu meiner Frau, besser könnten sich die Ziele gar nicht präsentieren. Besser als in jeder engen Konzerthalle. Das ist wie Hirschjagd für Erich Honecker. Eine Maschinenpistole auf der Freitreppe, ein paar Magazine, und die ganze Reihe einfach ummähen. Ein Kumpel würde sich die vornehmen, die weglaufen. Meine Frau hatte keine Bedenken. Ich solle nicht immer so negativ sein.

Toulon ist sicher nicht so plakativ wie Paris oder Cannes. Cannes hat sicher deutlich mehr Potential. Aus terroristischer Sicht. Die Polizei wird sich dort sicher um Prominenz und Publikum kümmern. Kollateral vielleicht den einen oder anderen Stau produzieren.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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