Einrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens

Kommende Woche, ab morgen, habe ich meine griechische Woche. Griechische Woche? Der Begriff hat hier nur wenig kulinarischen Hintergrund. Ist – ich gebe es zu, ich schwimme da völlig unbefangen auf der aktuellen Woge eines Vorurteils – eine Steigerungsform der südfranzösischen Version zur lokalen Arbeitsmoral. Arbeit dabei in Anführungszeichen – “Arbeit”. Travailler – wörtlich: arbeiten – hat im südfranzösischen Sinn außer Abwesenheit von zuhause wenig gemein mit der germanischen Vorstellung von Arbeit. Im Rahmen der griechischen Woche in der mediterranen Einrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens ist der betroffene Kollege für die anästhesiologische Visite auf den chirurgischen Stationen zuständig. Wir haben eine viszeralchirurgische Station mit vielleicht dreißig Betten und eine orthopädische Chirurgie. Auch dreißig Betten. Kaputte Hüften, Handgelenke. So Sachen. Anästhesiologische Visite also auf chirurgischen Stationen.

Visite?

Die Abteilung für Anästhesiologie kümmert sich um das Kalium, die Diurese und den Schmerz auf chirurgischen Stationen. Weil der Chirurg keine Ahnung hat von Elektrolyten, Lasix und Schmerztherapie jenseits von Parazetamol. Oder keine Ahnung haben will davon. Keine Ahnung haben wollen paßt zur südfranzösischen Mentalität. Zur griechischen gehört zusätzlich der Anästhesist. Facharzt. Beamter. Vollzeit. Der Auftritt des fachärztlichen Vollzeitbeamten mit anästhesiologischem Hintergrund – Kalium, Lasix, Morphium – findet gegen zehn Uhr statt. Vorher ist sinnlos, weil es da noch keine Laborwerte gibt. Die Visite findet am Computer statt. Mit einer Schwester. Dauert normalerweise um die 15 (in Worten: fünfzehn) Minuten. In der Knochenchirurgie. In der Viszeralchirurgie besteht sie aus einer simplen Frage: Gibt es was für mich? Worauf die betroffene Schwester die Liste ihrer Patienten kurz überfliegt und auf die bekannten Kriterien – Kalium, Diurese, Morphium – prüft. Meistens fällt ihr nichts ein. Eine Minute dreißig. Mit Küßchen links, rechts und drei Worten zum Wochenende, je nach Schwester, kommen fünf Minuten dazu. Sozialer Kontext. Das gehört zur Anästhesiologie. Das können wir im Prinzip ganz gut. Gehört auch zum Beamtenstatus. Und zur südfranzösischen Mentalität. Zur griechischen sowieso.

Visite ist einfach und kurz.

Wissen alle, würden meine Kollegen aber nie zugeben. Im Gegenteil. Burnout auf chirurgischen Stationen der Grundtenor. Vielleicht haben sie für sich persönlich recht. Das liegt aber vermutlich daran, daß sie das mit dem sozialen Kontext nicht ausreichend beherzigen. Stattdessen rumschreien. Wofür auch immer. Weil gerade keine Schwester für sie Zeit hat, erst noch die chirurgische Konkurrenz küssen muß. Oder die Laborwerte noch nicht ausgedruckt sind. Sowas. Es geht ums Prinzip. Auch als Anästhesist bin ich Arzt und schon alleine deshalb irgendwie Chef. Rumschreien ist anstrengend und führt nicht weiter.

Aufwendig, richtig aufwendig kann es werden, wenn man noch prämedizieren muß. Planeingriffe für morgen oder sonstwann. Für die Notfälle – heute irgendwann – bin ich nicht zuständig. Das Nichtzuständigsein ist schön und paßt zum Beamtenstatus. Der Klassiker, wie in der Behörde, nicht Zimmer A35 oder C17, sondern B16. Und die Sachbearbeiterin in B16 weiß gar nicht, kann vielleicht gar nicht wissen, worum es gerade geht. Wenn sie überhaupt da ist. Damit kann man Chirurgen zum Weinen bringen. Sogar südfranzösische. Ich bin nicht zuständig. Wer denn? Keine Ahnung. Ruf’ doch mal im Aufwachraum an. Im Aufwachraum geht fast nie jemand ans Telefon.

Zwei, drei ernstgemeinte Prämedikationen können einen dagegen ganz schön aus dem Timing bringen. Wenn sie nicht wirklich dringend sind, kann man sie allerdings auch noch auf morgen verschieben.

Gutes Timing in der griechischen Woche heißt Mittagessen zuhause. Hier kommt der kulinarische Aspekt rudimentär ins Spiel. Zwölf Uhr spätestens also an der Schranke zum Ärzteparkplatz. Im Auto. Die Schranke im Rückspiegel. Zuhause unbedingt das Telefon im Auto vergessen!

Abends muß man dann allerdings noch mal hin. Planmäßig aufgenommenen Patienten für morgen bonjour sagen, Fragen beantworten, mitgebrachte Laborwerte angucken und sagen, daß alles gutgehen würde. Bonne nuit. Halbe Stunde. Einschließlich sozialem Kontext mit der Spätschicht. Eine Stunde mit An- und Abreise.

Zuhause, zwischen den Visiten, Zeit genug für Mittagessen in der Sonne. Ausgiebige Sieste. Vielleicht ein bißchen Haushalt, Einkäufe. Später Feinschliff an den Hausaufgaben der Kinder. Mittwoch habe ich ohnehin frei. Macht geschätzt immerhin elf Wochenstunden. Wird aber gezählt wie fünfunddreißig. Wenn das nicht griechische Zustände sind?

Kann ich gut, die griechische Woche gefällt mir. Geht auch als Alleinerzieher, wenn zum Beispiel die Mutter meiner Kinder Dienst hat, auf Fortbildung ist oder in Fernost Humanitärmedizin betreibt.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr