Geburtshilfe
Der Klassiker zur Dienstübergabe der Hebammen. Die ganze Nacht kein einziger Hilferuf an den diensthabenden Anästhesisten und kaum ist Philippe da, Philippe die Hebamme, übergewichtiger Gesichtshaarträger, geht es nicht mehr ohne mich. 7:12 Uhr. Eine Zweitgebärende bei drei Zentimetern. Hat sie denn Schmerzen? Ben, oui, sie hat schon etwas Schmerzen. Ich muß mich aus dem Bett in mein Grünzeug quälen, Zähne putzen. Wir teilen unsere Toilette, ein Waschbecken und eine gammelige Duschkabine mit den Intensivmedizinern. Einmal über den Flur. Wenn man Pech hat, putzt sich der Intensivdoktor gerade die Zähne. Keine zehn Minuten später eine Nachricht auf meinem Handy. Von 7:24 Uhr. Ève, die Hebamme, noch übrig aus der Nachtschicht. Nicht mehr nötig, sagt sie. Die Frau hat entbunden. Aha. Geburtshilfe vom Feinsten.
Schlimmer aber noch der Anruf um 2:32 Uhr. Wie ein Eimer Eiswasser im Tiefschlaf. Letzten Sonntag. Von Sébastien, der Hebamme. Kein Gesichtshaar. Elsässer. Besucht manchmal seinen Großvater in Ulm. Und bringt mir Schokolade von Ritter Sport mit. Gibt’s hier nur bei Décathlon. Péridurale für eine Steißlage. Das kann ich einsehen. Entbindung aus Steißlage ist schöner mit Epiduralkatheter. Da kann immer was schiefgehen. Und Schmerzen hat sie auch.
3:43 Uhr schon wieder Sébastien. Wieder Eiswasser! Rhythmusanomalien beim Kind in Steißlage, Kaiserschnitt. Samir aus Syrien ist der Gynäkologe. Nichts gegen Ausländer. Bin selbst einer. Samir aus Syrien macht immer – na ja, oft – zu kurze Kaiserschnitte. Zu kurz in der Bauchdecke, zur kurz in der Gebärmutter. Braucht dann Vakuum oder Zangen, um die Kleinen aus dem Bauch zu zerren. Kostet immer ein paar APGAR-Punkte. Sachichnoch: Mach’ Deinen Schnitt groß genug! Wenigstens diesmal! Keine Abenteuer mitten in der Nacht! Bitte! Denk’ an meine Herzkranzgefäße! Wer aber hört schon auf das altkluge Geschwätz des Anästhesisten? Jaja, biensûr, aie confiance! Keine Angst! Und? Das Resultat? Klar, Schnitt zu klein. Reicht für Füße und Bauch. Nicht mehr für das Köpfchen und die Ärmchen. Bei Steißlage kann man sich auch nicht helfen mit Vakuum oder Zangen. Stattdessen großes Metzgern an der Bauchdecke und der Gebärmutter. Das Kind ganz sprachlos. Ganz schlapp. Ganz blaß. Herzfrequenz bei etwa fünfzig. APGAR 2 (in Worten: zwei), würde ich sagen. Wo ist der Kinderarzt? Kein Pädiater! Kein Wunder, t’as vu l’heure? Der muß ja auch erstmal aufstehen. Und dann noch herfahren von Le Pradet. Bis dahin ist das Kind tot. Oder der Anästhesist rettet es. Und zahlt mit seinen Herzkranzgefäßen. Geburtshilfe vom Feinsten.
Samir sagt, die Frau wäre selbst schuld. C’est pas ma faute! Das ist doch nicht mein Fehler! Kaum hätte er in den Uterus geritzt, hätte der sich so richtig kontrahiert. Aber sowas von kontrahiert! Der Uterus. Kann ich was für den Uterus von der Frau? Sowas! Einfach kontrahiert, der Uterus! Kann die Frau nicht ein bißchen aufpassen auf ihren Uterus? Genau um den Hals der Kleinen! Aber ehrlich!
Frage an die gynäkologische Kollegenschaft: Ist das so überraschend? Das mit dem Verhalten der Uterusmuskulatur bei Schnittentbindung? Kann der Gynäkologe das nicht antizipieren?
Ein paar Tage später wieder Kaiserschnitt mit Samir, dem Gynäkologen aus Syrien. Freitag Abend im Provinzkrankenhaus. Zweitgebärende, Termin eigentlich in zwei Wochen. 104 Kilo bei 158 Zentimetern. Seit fünf Uhr nachmittags im Krankenhaus. Blasensprung wohl. Was weiß ich. Geburtseinleitung eben. Bei der vaginalen Untersuchung findet Magali, die Hebamme, so eine komische Beule. Keine Ahnung, was das ist, sagt sie. Da muß der Samir mal mit dem Sono gucken. Indikation zum Kaiserschnitt 18:32 Uhr. Warum? Steißlage! Magali braucht Samirs Sono, um eine Steißlage zu erkennen! Wow! Hat Magali nicht Hebamme gelernt? Außerdem Rhythmusstörungen beim Kind. Aber das sagen sie immer, damit’s ein bißchen schneller geht. Hop-hop-hop quasi. Und natürlich so kurz vor dem Schichtwechsel sowieso. Schichtwechsel ist um 19:00 Uhr. Hop-hop-hop.
Lieber Samir, mach’ bitte den Schnitt lang genug. Bitte! Denk’ an meine Koronarien! – Große Frau, große Narbe, fällt Samir dazu ein. – Nein, Samir, das meine ich nicht. Die Narbe auf dem Bauch ist mir scheißegal. Den Schnitt im Uterus meine ich. Der muß lang genug sein. Für den APGAR vom Baby. Und meine Koronarien! – Okay, okay, sagt er. Aber es klingt wie ein Adoleszenten-Jaja. Schnitt kurz vor sieben. Samir hat sich zwei Hebammen an den Tisch geholt! Philippe und Nacima. Zwei Hebammen in grün und steril gewaschen. Sonst gibt’s immer nur eine. Weil die Frau so dick ist, sagt Samir. Aha! Großer Schnitt im Bauch, großer Schnitt auch im Uterus. Danke, Samir! Aber was ist das denn? So ein Gewusel! Finger, Zehen, Hände, Füße! Und soviele davon! Weiß man gar nicht, wo man anpacken soll! Jetzt muß Philippe ran. Mit seinen starken Armen kann er das Loch mit dem Gewusel besser aufhalten als Nacima. So kann Samir wenigstens mal reingreifen und umrühren. Irgendwann wird in dem ganzen glitschigen Gewusel schon was auftauchen, was man richtig anpacken kann. Wahrscheinlich wird Samir schon ein bißchen panisch. Tunnelblick. Wenn das eine Hand ist, muß der Kopf da sein. Mehr rechts der Kopf also. Oder oben. Ist das eine Hand? Was ist rechts? Oben? Chadia! Chadia ist seine Kollegin, aus dem Libanon, die ihn immer wieder retten muß. Chadia! Wo ist Chadia? Samirs Problem ist nicht der zu kleine Schnitt. Nicht nur. Samirs Problem sind auch überraschende anatomische Strukturen. Zehen, Finger, Hände, Füße.
Am Ende gibt’s dann immerhin eine ordentliche Portion Nalador. Das steigert den Tonus der Uterusmuskulaur (glaube ich) und stabilisiert die Psyche handwerklich mittelmäßig begabter Gynäkologen. Außerdem vermuten handwerklich mittelmäßig begabte Gynäkologen eine schleimhautprotektive Aktivität im Gastrointestinaltrakt ihrer anästhesiologischen Kollegen. Wenn sie uns, in lichten Momenten, überhaupt als Kollegen wahrnehmen. Wenn sie überhaupt was anderes als sich selbst wahrzunehmen in der Lage sind.
© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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