Frédéric
Frédéric ist der Neurologe. Der Neurologe. Die Parkinson-Koryphäe der Region. Er gilt zumindest als Parkinson-Koryphäe. Gibt halt keinen anderen Neurologen in der Nähe. Termin Dienstag abends um halb sieben. Stau auf der Autobahn, wahrscheinlich der Tunnel zu. Der Tunnel schließt gerne mal zur Rush hour. Ich nahm Schleichwege und schickte ihm eine kurze sms. Bouchons, retard de 5 minutes, désolé. Stau, 5 Minuten Verspätung, tut mir leid. Was man eben so kurz gefasst schreiben kann mit der anderen Hand am Lenkrad. Eigentlich unverantwortlich, Telefon am Steuer, ich weiß. Ich lasse nur sehr ungern jemanden warten. Schon gleich gar nicht die Koryphäe. Es waren tatsächlich kaum mehr als fünf Minuten, zählt in diesen Breiten eigentlich nicht als ernsthafte Verspätung. 18:37 Uhr gilt noch als pünktlich. Im Wartezimmer noch ein älterer Herr, na ja, was heißt schon älter, ein bisschen grauer eben, die Alten denken ja immer, die anderen Alten seien noch älter als sie selbst. Der ältere Herr trug eine Halsmanschette. Ich weiß nicht, ob das wirklich so heißt, so ein Ding eben, was sie einem verpassen bei Schleudertrauma, nach Auffahrunfall meistens. Deren Nutzen ist, nebenbei bemerkt, stark umstritten, geradezu zweifelhaft. Die Manschette führt zu einer Schwächung der Halsmuskulatur, die ja gerade gebraucht würde zur Stabilisierung beim Schleudertrauma. Der ältere Herr – excusez-moi, vous avez rendez-vous pour quelle heure? – hatte einen Termin um 19 Uhr. Erstaunlich, fand ich noch, eine halbe Stunde vor der Zeit. Überpünktlich. Würde mir im Traum nicht einfallen. Der arme Kerl würde mich auch noch abwarten müssen mit meinem Termin vor seinem.
Viertel nach sieben endlich verabschiedete Frédéric den Vorpatienten und kam ins Wartezimmer. Es täte ihm leid, aber mein Rendezvous wäre doch gestern gewesen, könnte natürlich auch sein, dass sich sein Sekretariat getäuscht hätte, wie auch immer, er nähme mich danach noch, quand même, trotzdem, sagte er. Sagte er, lächelte sein Lächeln aus seinen ungepflegten Zähnen. Was heißt hier trotzdem, dachte ich mir. Trotz was? Trotz Insuffizienz seines Sekretariats? Will ich denn überhaupt noch genommen werden, danach? Ich wollte meinem Unmut in aller Klarheit Ausdruck verleihen, da hatte er mir jedoch schon den Rücken gekehrt und verschwand mit dem grauhaarigen Schleudertrauma.
Scheisse, dachte ich, und ärgerte mich über meine mangelnde Schlagfertigkeit. Wirklich schade, wollte ich gesagt haben, ich warte quand même, immerhin, schon eine geschlagene halbe Stunde, ich habe nicht so viel Zeit, dann mache ich eben einen neuen Termin. Scheisse, schrie ich im leeren Wartezimmer das klägliche Wartezimmergrün in der Ecke an, tigerte um den Plastiktisch mit abgegeriffenen Magazinen, – Géo, Le Figaro – und versuchte mich zu beruhigen. War ja eh zu spät, aufregen bringt nichts, Aufregung macht mir ein diskretes Zittern in den linken Arm. Trotzdem: Scheisse!
Ich hatte mich auf einen gemütlichen Fernsehabend mit den Kindern und ihrer Mutter gefreut. Abendessen devant la télé, vor der Glotze. Auch sehr umstritten, ich weiß, geradezu zweifelhaft. Beinahe unverantwortlich. Egal. Erziehung soll andererseits nicht immer nur unangenehm sein. Immerhin hatten sie sämtliche Hausaufgaben für die nächsten Tage erledigt. Sogar die Englischvokabeln. Wir wollten den dritten Teil von “Divergente” gucken, so ein Science-fiction-Spektakel. Früh genug wollten wir uns vor der Glotze einfinden, weil am nächsten Tag ja Schule war. – Fangt schon mal an, das dauert hier noch. Frédéric nimmt sich eine gute halbe Stunde pro Patienten. Gut die Hälfte der Zeit geht allerdings in die Dokumentation. Alles muss aufgeschrieben werden. Mit zwei Fingern und ohne Sekretärin ist das mühselig. Das hier würde also noch mindestens eine Stunde dauern, vor halb neun käme ich nicht wieder raus.
Das Arzt-Patient-Verhältnis ist, glaube ich, in Frankreich bestimmt mehr als in Deutschland von Überheblichkeit, Herablassung und Missachtung geprägt. Der Patient wird im allgemeinen geduzt und als störend empfunden. Der Patient soll dankbar sein, überhaupt gehört zu werden. Zwei Stunden Wartezeit zur Einstimmung sind dabei durchaus angemessen. Frédéric duzt mich zwar nicht, immerhin bin ich Kollege, kann sich aber meinen Namen nicht merken und nennt mich in seinen Unterlagen hartnäckig Bertrand. Und das H im Familiennamen findet seinen Platz immer wieder woanders. Kann er nicht besser. Will er wahrscheinlich nicht. Egal eben irgendwie. Als Patient ist man eben oft egal irgendwie. Frédéric zeigt sich ausgesprochen unzufrieden angesichts der Tatsache, dass ich seinem ergänzenden Therapievorschlag nicht folgen wollte seit unserem letzten Rendezvous. Immerhin bin ich der Patient und er der Arzt. Der Patient hat den Anweisungen des Arztes Folge zu leisten. Zudem hatte er damals schon, nachdem er keine wirklich griffigen medizinischen Argumente präsentieren konnte, zu allerlei rhethorischen Tricks gegriffen. Ich solle mich doch nicht doppelt bestrafen. Erst die Krankheit und dann auch noch Therapieverweigerung. Blödsinn. Hat er mich jemals gefragt, wie ich mit der Krankheit lebe? Ob ich sie als Strafe empfinde? Unterstellt er einfach so. Woher hat er so einen Unsinn? Küchentischpsychologie. Nehme ich ihm immer noch übel. Seine strenge Unzufriedenheit beeindruckt mich nicht weiter. Er macht einen verzweifelten Gesichtsausdruck. Aber warum denn nicht noch ein Medikament, bon sang, meine Güte! – Ganz einfach, ich spüre keine ernsthafte Verschlechterung und somit keinen Grund, mehr Pillen zu essen.
Und, vor allem, habe ich kein Interesse, ohne Verschlechterung alle diese Nebenwirkungen seines neuen Medikaments in Kauf zu nehmen. Ein buntes Sammelsurium massiver Phänomene. Allergie, Übelkeit, Verstopfung, Durchfall, das Übliche eben. Dazu Gedächtnisstörungen, Herzschwäche, Gewichtszunahme, Wahnvorstellungen. So Sachen. Immerhin! Okay, wenn man Beipackzetteln und dem Internet wahllos Glauben schenkt, macht jedes Mediakment noch kränker. Weiß ich. wikipedia.de als halbwegs seriöse Quelle schreibt: “Aufgrund des Auftretens möglicher ‘Schlafattacken’, ist das Führen eines Kfz … zu unterlassen”. Narkolepsie. Betrifft immerhin 14%. Dürfte ich dann noch ruhigen Gewissens meine Kinder von der Schule abholen? Überhaupt Auto fahren? “Häufig ist das Auftreten von Impulskontrollstörungen”. Kaufrausch, Spielsucht, Hypersexualität. Super. Darauf hatte Frédéric mich schon beim letzten Mal hingewiesen. Und seinen Hinweis Buchstaben für Buchstaben in seine Dokumentation getippt.
Das hat nichts mit Empathie für seine Patienten zu tun. Wahrscheinlich hat er Angst um sich selbst. Vermutlich gab es in irgendeiner Fachzeitschrift mal einen Fallbericht aus den USA. Jim H. Brown in Springfied, Ohio, hatte seiner Tochter ein Rennpferd gekauft, vier Cadillacs bestellt und Amazon halb leer gekauft. Sein Anwalt konnte dem Neurologen Schadensersatz in Höhe von 3,1 Millionen Dollar abpressen wegen lückenhafter Aufklärung. 3,1 Millionen! Soweit sind wir in Frankreich noch nicht, aber man sollte schon aufpassen. Und neulich auf dem Kongress in Toulouse die Anekdote von Gérard S., der sich eine ergiebige Tour durch sämtliche Sexshops des Départements gegönnt hatte, sich die Suite impériale buchte im 5-Sterne-Hotel und ein ganzes Rudel Damen bestellte. Dann, als es losgehen sollte, allerdings einem Herzinfarkt erlag. Hahaha. Die Angehörigen ahnten nichts von einem möglichen Zusammenhang mit der kürzlich angesetzten Therapie. Ouff. Aber Achtung, liebe Kollegen! Nicht alle Angehörigen sind so unbedarft. Klären Sie auf und dokumentieren Sie. Die Dokumentation ist das wichtigste.
Ich musste mir wieder einen langen Monolog über den Pathomechanismus meiner Krankheit anhören, es ist immer der gleiche Text, es geht um den Dopaminmangel, den fortschreitenden Dopaminmangel und verschiedene therapeutische Ansätze. Dieser Vortrag ist immer der gleiche, hat er sich wohl schon vor Jahren zugelegt, kriegt wahrscheinlich jeder zu hören, ob er will oder nicht, ob er wie ich davon auch schon mal im Studium geört hat oder nicht. Frédéric lässt sich nicht unterbrechen, fährt unbeirrt fort im Text, legt bei Zwischenfragen ein bisschen Lautstärke zu. Unbeirrbar. Ich bin der Doktor und du der Patient. Der Patient hört geduldig zu. Man kann nur abwarten, bis es vorbei ist.
Aus abrechnungstechnischen Gründen darf die körperliche Untersuchung natürlich nicht fehlen. Die wiederum hält Frédéric sehr knapp, striktes Minimum. Ich darf zwei Mal auf- und abgehen in seinem großzügigen Altbaubüro zur Beurteilung meines Gangbilds und ob der Arm noch mitschwingt. Sein Büro dient gleichzeitig als Lagerraum für allerlei ausgediente häusliche Utensilien, ein Bügelbrett zum Beispiel lehnt hinten links an der Wand und ein paar Kartons türmen sich – cuisine, salon, chambre, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Frédéric ist Scheidungs-Single, kein Wunder. Wir üben aktive und passive Bewegung. Zahnradphänomen links. Wussten wir schon, wird nicht besser mit der Zeit. Rotation im Unterarm wie zum Glühbirnenschrauben. Nicht so gut links. Nicht schlechter allerdings als vor bald zwei Jahren schon. Nicht viel schlechter zumindest. Nicht so, dass es mich stören würde. Wie häufig habe ich schon Glühbirnen zu wechseln? Mit links? Um seiner Untersuchung einen wissenschaftlichen Touch zu geben, spricht er von Scores. Die Motorik betreffend habe ich einen Score von zwei. Zwei von wieviel, fragte ich. Zwei von vier. Mediziner lieben Scores. Wir haben in der Anästhesie auch eine ganze Menge davon. Zu irgendwas müssen ja all die Professoren und ihre Doktoranden gut sein. Und? Was heißt das? Unverändert, musste er zugeben. Warum also noch ein Medikament, fragte ich. Ich würde mich melden, wenn mir danach wäre.
Schließlich, endlich im Aufbruch begriffen, wir hatten schon über das nächste Mal geredet, in sechs Monaten und ich würde dann einen Termin mit seinem Sekretariat finden, fing er doch wieder an. Wenn ich das Sifrol nicht nehmen wollte, könnte es ja auch ein anderer Wirkstoff sein. Welch erstaunliches Ansinnen! Geht es nur darum, mit einer Schachtel mehr nach Hause zu gehen? Ist es denn so egal, was ich da esse? Wollen wir es vielleicht mal mit Aspirin, Vitamin C oder Homöopathie versuchen?
Hilft bestimmt auch. Ganz bestimmt.
© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.