Dienstfähig

November

8:40 Uhr. Termin bei der Betriebsärztin, Marguerite C.. Médecine du travail. Die gibt sich immer so ein bißchen beleidigt, wenn sie mich sieht, weil das eigentlich jährlich sein sollte, der Termin. Alle Jahre wieder schickt sie mir eine Einladung und zwei, drei Erinnerungen. Vom Prinzip muß sie mir jedes Jahr meine Arbeistfähigkeit bescheinigen. In Deutschland  dürfte ich vermutlich ohne die Arbeitsfähigkeitsbescheinigung überhaupt nicht mehr arbeiten. Der Arbeitgeber würde sich womöglich sogar strafbar machen, mit Mitarbeitern, deren Arbeitsfähigkeitsbescheinigung länger als 42 Tage abgelaufen ist. In Deutschland. In den Jahren seit Februar 2000 ist es unser zweites Mal. Vor fünf Jahren war ich schon mal in diesem Büro. Natürlich sehen wir uns immer wieder auf irgendwelchen Fluren, ist ja eher übersichtlich hier im Centre hospitalier, ich weiß, wie sie heißt und wie das heißt, was sie macht, ohne genau zu wissen, was Médecine du travail wirklich ist, wie bei sovielen Jobs, die noch mehr im Hintergrund stattfinden als meiner.

Marguerite C. hat ihre Büros mit einer Schwester und einer Sekretärin in der ehemaligen Direktorenvilla direkt am Hubschrauberlandeplatz. Ich käme bestimmt wegen der Grippe-Impfung. Schien ein bißchen beleidigt, als ich dies verneinte. Zur Routineuntersuchung also, wäre ja schön, daß ich auch mal auf ihre Einladungen reagieren würde, ich wäre ja nicht wirklich dazu verpflichtet, aber es schiene ihr doch sinnvoll. Das könnten wir dann natürlich auch gleich erledigen, fand ich, sprach ihr von meiner Verdachtsdiagnose und fragte, was es wohl von ihrer Seite aus zu beachten gäbe. Außer Beleidigt kann Marguerite Betroffen. Sogar sprachlose Betroffenheit. Dabei bin ich noch gar nicht tot. Mein Arm verhält sich unauffällig, meine Mimik fällt dem Nichtspezialisten noch nicht als reduziert auf. Und den Speichelfaden aus dem linken Mundwinkel habe ich auch meistens unter Kontrolle. Marguerite verzichtete auf gezielte Fragen aus dem neurologischen Repertoire und die Prüfung der Reflexe. Hat von Neurolgie sicher auch nicht mehr Ahnung als ich. Maß hingegen den Blutdruck, leicht erhöht, bestimmt der Stress, sagte sie lächelnd, und horchte Herz und Lunge, soweit gut. Ob ich denn ausreichend versichert wäre. Versichert? Na, incapacité, invalidité und so. Ich? Arbeitsunfähig? Schwerbehindert? Frührentner? Eigentlich bin ich unverwundbar. Ich mache das alles nur für meinen Blog, passiert ja sonst nichts! Quelle idée! Keine Versicherung? Sprachloses Erstaunen. Wenn das mal nicht zu spät ist jetzt für Versicherungen, wer nimmt Sie denn noch? Im jetzigen Zustand? Zum Vorgehen bei einer eventuellen vorzeitigen Berentung hat sie ein paar Boschüren, die könnte ich mir ja mal durchsehen, eilt ja noch nicht, auch im Internet gäbe es viel Informationen dazu.

Zum Abschluß wünscht sie, auf dem Laufenden gehalten zu werden, tenez-moi au courant, und stellt mir die Bescheinigung aus, gelb: apte, dienstfähig. Bon courage. Sicher besser so, was würde ich denn den ganzen Tag machen, arbeitsunfähig zuhause? Meine Frau hat da schon Vorstellungen: Tanzen vielleicht oder Tai Chi. Gymnastik sowieso. Bei youtube – Stichwort “parkinson übungen” – gibt es Anleitungen. Ganz oben auf der Liste, über 75.000 Aufrufe, eine junge Frau in lila T-Shirt, dazu drei angegraute Kugelbäuche in türkis, orange und grün. Fünf Folgen leichte Übungen zur Körperkontrolle auf graublauem Teppichboden. Dann doch lieber apte.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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