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15. April 2015 Von Alleinerzieher

Zwei­tau­send Zei­chen gesteht mir die Redak­teu­rin zu. Den Fokus auf mei­nen Beruf, Anäs­the­sist, "gewürzt" mit Beson­der­hei­ten aus fran­zö­si­schem Kran­ken­haus­all­tag. Wünscht sich die Redak­teu­rin. Zwei­tau­send Zei­chen. Das ist nicht viel für gewürz­ten All­tag mit Fokus. Zwei­tau­send Zei­chen sind im fran­zö­si­schen Kran­ken­haus­all­tag schon gesagt, bevor der Tag über­haupt rich­tig anfängt.

Mein All­tag fin­det vor­wie­gend im bloc opé­ra­toire statt. Im OP. Da gibt es OP-Schwes­tern, die ab halb acht in ihrem Saal Instru­mente für ihre Chir­ur­gen aus­pa­cken, nett dra­piert auf ste­ri­lem Grün. Anäs­the­sie­per­so­nal, das die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der Maschi­nen prüft, Sprit­zen vor­be­rei­tet und nett zu den Pati­en­ten im Vor­raum ist. Der Chir­urg hat sei­nen Auf­tritt typi­scher­weise um 8:45 Uhr. Also, um genau zu sein, nicht vor 8:45 Uhr. Der Anäs­the­sist ein biß­chen vor­her, ab halb neun. Nor­ma­le­ment. Bis dahin sind die Schwes­tern und Pfle­ger mit ihren Vor­be­rei­tun­gen längst fer­tig und war­ten in der Kaf­fee­kü­che. Rufen den jewei­li­gen Arzt auf sei­nem Por­ta­ble an: wir sind fer­tig, du kannst kom­men. Der Arzt sagt am Tele­fon "j'arrive". Wenn man ver­schla­fen hat und unter der Dusche erwischt wird, kann man "j'arrive" sagen. Das glei­che "j'arrive" würde man auch aus der Umkleide nebenan ver­kün­den. J'arrive umschreibt ein äußerst groß­zü­gi­ges zeit­li­ches Spek­trum. Alles ist drin von "sofort" bis "heute noch, ganz sicher". Das ist im Hôpi­tal nicht anders als mit dem Plom­bier, auf den man seit dem frü­hen Mor­gen ver­zwei­felt war­tet.

Wenn ein Dok­tor "j'arrive" gesagt hat, kann das zuge­teilte Pfle­ge­per­so­nal sagen: "il arrive". Und schon gilt auch für sie das glei­che zeit­li­che Spek­trum. Groß­zü­gig. Das ist eigent­lich ganz ange­nehm. Wenn der Chef fragt, warum es nicht wei­ter geht, kann man sagen "il arrive". Das reicht völ­lig als Legi­ti­ma­tion. Und für einen Kaf­fee. Einen min­des­tens. Zum Kaf­fee im gro­ßen Kreis plau­dert es sich gut über Ein­zel­hei­ten des Menüs von ges­tern Abend, das Aus­wärts­spiel des RCT vom Sams­tag, die Kin­der, die aktu­elle Diät. Natür­lich auch über den span­nen­den Kai­ser­schnitt letzte Nacht und wie blöde das ist, daß man schon wie­der auf den Dok­tor war­ten muß. So wie immer eigent­lich. Dabei weiß der doch, daß er ein vol­les OP-Pro­gramm hat! Und daß der Chef da end­lich mal ein­grei­fen müßte.

Da sind zwei­tau­send Zei­chen schnell gesagt.

Zu mei­nem Auf­tritt, meist kurz nach halb neun, sit­zen die meis­ten Schwes­tern und Pfle­ger mit ihrem Kaf­fee in der Kaf­fee­kü­che. Alle Anwe­sen­den müs­sen geküßt wer­den. Alle. Alle wol­len geküßt wer­den. Bises links und rechts, salut, tout va bien? Dazu klei­ner Small­talk, klei­ner Scherz. Du bist aber schlecht rasiert heute! Wenn man jeman­den ver­gißt, muß man mit laut­star­kem Pro­test rech­nen. Alleine in die­sem Kon­text sind auch meine zwei­tau­send Zei­chen wahn­sin­nig schnell gesagt. Zwei­tau­send Zei­chen sind nur eine gute halbe Seite.

Frü­her war das anders. Frü­her, in einem Pro­vinz­kran­ken­haus des nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biets. Ende des letz­ten Jahr­tau­sends. Visite auf der Inten­siv­sta­tion halb acht. Halb acht! Steile Hier­ar­chie. Chef­arzt, Ober­ärzte, Fuß­volk. 7:31 Uhr. Ein geflüs­ter­tes "Guten Mor­gen". Zwölf Zei­chen. Dienst­be­ginn ist sie­ben Uhr drei­ßig, Herr Diehl. – Tut mir leid, Frau Chef­ärz­tin. Ich war im Stau wegen Unfall auf der Pro­vin­zi­al­straße. Noch­mal gut acht­zig Zei­chen. In der Kaf­fee­kü­che des OP saß mor­gens nie­mand. Kei­ner hatte Zeit zu sit­zen. Und geküßt wurde da ohne­hin nicht. Frü­her, zu Ende des letz­ten Jahr­tau­sends im nord­öst­li­chen Ruhr­ge­biet, kam ich im Kran­ken­haus­all­tag mit zwei­tau­send Zei­chen pro­blem­los bis in die Kan­tine mit­tags.

Das sind nun 3.652 Zei­chen gewor­den. Bleibt abzu­war­ten, was die Redak­teu­rin dazu sagt.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr


8. Mai

Auch Redak­teu­rin­nen kön­nen nicht anders. Sie müs­sen ein­fach was weg­kür­zen. Sie haben ja schließ­lich auch Vor­ga­ben – andere Bei­träge, Wer­bung, Qua­drat­zen­ti­me­ter hier und da. Ich kann mit dem Resul­tat leben. Ist abge­druckt in der Mai-Aus­gabe der Riviera Zei­tung.