Schweinehunde

Über den Win­ter hat sich ein gan­zes Rudel inne­rer Schwei­ne­hunde gegen mein Fahr­rad ange­sam­melt. Der Wind an sich, der Wind aus der fal­schen Rich­tung, die Kälte, die Nässe, die Wol­ken, die Regen­wahr­schein­lich­keit. Dazu die übli­chen Schwei­ne­hunde, die immer funk­tio­nie­ren. Der leere Kühl­schrank, zu wenig Kat­zen­fut­ter, der fast ver­stopfte Ablauf der Bade­wanne. Sowas. Wenn es ein Argu­ment gegen ein, zwei Stun­den Rad­fah­ren zu fin­den galt, fand sich auch eins.

Zur Not Stella.

2:16 Uhr das Tele­fon. Stella. Stella, la sage-femme, die Heb­amme. Braucht eine Péri­du­rale für eine Dritt­ge­bä­rende bei fünf Zen­ti­me­tern. Stella bezeich­net sich selbst als chat noir, als jeman­den, der Unglück irgend­wie anzu­zie­hen scheint. Wenn Stella im Kreiss­saal ist, geht immer, na ja, oft was schief. Okay, keine beun­ru­hi­gen­den Ein­zel­hei­ten an die­ser Stelle. Auch im Kreiss­saal kann eben immer wie­der mal was schief­ge­hen. Orga­ni­sa­to­risch, mensch­lich, medi­zi­nisch. Acht Minu­ten spä­ter schon, 2:24 Uhr, finde ich Stella in Saal 4. Der Mut­ter­mund mitt­ler­weile voll­stän­dig eröff­net. Typisch Stella. Eigent­lich zu spät für eine Péri­du­rale. Wie lange es wohl noch dau­ern würde, bis das Kind da sei? Na ja, eine halbe Stunde bestimmt viel­leicht schon noch. Bis die Péri­du­rale fer­tig ist und zu wir­ken beginnt, dau­ert es etwa zwan­zig Minu­ten.

Cap Garonne ist eine Wohn­lage wie Cap Fer­rat in Nizza, Pam­pe­lonne bei Saint-Tro­pez oder Cap Bénat bei Le Lavan­dou. Das Meer in Sicht­weite, Aus­sicht bis Kor­sika, woh­nen Leute – oder kom­men übers Wochen­ende – in Anwe­sen deut­lich jen­seits der Mil­lio­nen­grenze. Bei­la­gen von Hoch­glanz­ma­ga­zi­nen bie­ten sowas an. Drei Mil­lio­nen auf­wärts. Video­über­wa­chung, Pfört­ner, Zugangs­kon­trolle. Rie­sige Ter­ras­sen, Pools, deren blauer Hori­zont mit dem Him­mel ver­schmilzt. Im Fuhr­park eli­täre Roads­ter ohne Dach und rie­sige All­rad­schiffe, viel zu groß für die schma­len Stra­ßen. Am einem Don­ners­tag­mor­gen nach Stella mit­ten in der Nacht sind hier nur weiße Kas­ten­wa­gen unter­wegs, Klemp­ner, Gla­ser, Schlüs­sel­dienste. Auch in der Hoch­glan­z­im­mo­bi­lie geht mal eine Scheibe kaputt, ist mal ein Klo ver­stopft, hat der Nach­wuchs den Code der Alarm­an­lage ver­stellt. Sans faire exprès natür­lich. Warum sollte hier irgend­et­was anders sein als bei nor­ma­len Leu­ten?

Ob sie wirk­lich all die Risi­ken in Kauf neh­men möchte? Für zehn Minu­ten weni­ger Schmerz viel­leicht? – Wel­che Risi­ken? – Na ja, auch eine Péri­du­rale kann töd­li­che Kom­pli­ka­tio­nen mit sich brin­gen. Für Sie oder ihr Baby. So ist das eben in der Medi­zin. Oder Sie in den Roll­stuhl brin­gen. Das war ein biss­chen unfair, ich weiß. Das Glei­che sage ich den wer­den­den Müt­tern in der nor­ma­len Sprech­stunde zwar auch, gehört zur Risi­ko­auf­klä­rung, aber rela­ti­viere diese Risi­ken im glei­chen Atem­zug als heut­zu­tage eher theo­re­tisch.

Vor ein paar Jah­ren, ich kann mich noch prä­zise an den Abschnitt erin­nern, wurde ich von der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin über­holt. In einer Stei­gung. Mor­gens um zehn nach acht. Sie hatte ihr Töch­ter­chen dabei, blond gelockt und in Rosa. Im Anhän­ger. Wahr­schein­lich auf dem Weg in die École mater­nelle. Beide lächel­ten und nick­ten mir auf­mun­ternd zu. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, auch nur dran zu blei­ben. Spä­ter fragte ich mich, ob das Fahr­rad der fran­zö­si­schen Tri­ath­lon-Vize­meis­te­rin nicht doch mit Bat­te­rie und Motor getunt war.

Die Dritt­ge­bä­rende will es nachts um halb drei unter der Vor­stel­lung nicht uner­heb­li­cher Risi­ken doch lie­ber mit ange­pass­ter Atem­tech­nik zu Ende brin­gen. Muss sich eben Stella mehr bemü­hen. Und kann nicht mehr als Schwei­ne­hund her­hal­ten.

Auf mei­ner Stre­cke über Cap Garonne, gemä­ßigt berg­auf und bergab, gesperrt außer für Anlie­ger und Rad­fah­rer, zwi­schen Pinien, Fel­sen, Man­del­bäu­men, Oli­ven und Fei­gen, gele­gent­lich eilige Kas­ten­wa­gen von vorne oder hin­ten, gibt es, abseits der abge­rie­gel­ten Wohn­be­zirke, zwi­schen ver­wil­der­ten Wein­stö­cken und ein­ge­fal­le­nen Gewächs­häu­sern, noch ursprüng­li­che Häus­chen in Bruch­stein. Man­che mit erheb­li­chem Reno­vie­rungs­be­darf. Aber mit vue mer. Spä­ter, wenn ich mal älter bin, wenn die Kin­der mal nicht mehr zuhause woh­nen und nur alle halbe Jahre für ein Wochen­ende zu Besuch kom­men, reicht mir auch sowas. Von mei­ner Ter­rasse aus kann man das Meer hören, sehen und rie­chen. Am Hori­zont die Fäh­ren nach Kor­sika, Sar­di­nien und Rom, manch­mal die Charles-de-Gaulle. Im Kühl­schrank immer ein Vor­rat von ein paar Fla­schen Rosé. Für die Enkel ein Matrat­zen­la­ger unter dem Dach, zur Abküh­lung reicht der Brun­nen im Gar­ten.

Für mich ein Fahr­rad mit Elek­tro­un­ter­stüt­zung.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

Dienst

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Du woll­test doch immer schon mal mein Kran­ken­haus sehen und was ich so mache den gan­zen Tag. Heute, Sams­tag, habe ich Dienst. Du kommst ein­fach mal mit und guckst mir bei der Arbeit zu.

Sie­ben Uhr muß ich auf­ste­hen. Kaf­fee, Dusche.

Acht Uhr der Anruf bei der Heb­amme im Kreiß­saal. Habt ihr was für mich, eine Péri­du­rale am Lau­fen? Wenn eine Péri­du­rale aktiv ist, muß ich auf halb neun dort sein. Ablö­sung des Kol­le­gen. Die Ablö­sung um spä­tes­tens halb neun an den Wochen­end­ta­gen neh­men alle Kol­le­gen sehr genau. Sonst kommt es fünf oder zehn Minu­ten mehr oder weni­ger nicht an, am Wochen­ende aber zählt jede Minute. Halb neun. Wenn nichts zu tun ist, geht der Kol­lege ein­fach und ich kann zuhause war­ten, bis die Heb­amme doch was hat für mich oder einer der Chir­ur­gen. Meis­tens steht eine kaputte Hüfte auf dem Pro­gramm oder zumin­dest ein Hand­ge­lenk. Das ist aber nor­ma­ler­weise nicht eilig. Die Chir­ur­gen kom­men erst gegen halb zehn ins Kran­ken­haus. Man darf ja nicht ver­ges­sen, wo wir hier sind. Süd­frank­reich. Keine Péri­du­rale im Moment. Lege ich mich noch­mal ins Bett und höre dem Regen zu. Seit wir das Dach neu gedeckt haben vor ein paar Jah­ren und ich nicht mehr mit Eimern und Schüs­seln die gröbs­ten Lecks abfan­gen muß, kann ich den Regen drau­ßen genie­ßen. Es gibt kaum was Schö­ne­res.

Kann ich auch noch mit den Kin­dern früh­stü­cken. Auch schön. Meine Frau früh­stückt nicht. Bekommt Ihre Zei­tung ans Bett und einen klei­nen Kaf­fee. Es ist Sams­tag, immer­hin.

Bis der Anruf kommt. 09:47 Uhr. Logisch. Es war eine Frage der Zeit. Boris­lav, der Bul­gare. Die eine Pati­en­tin, die er eigent­lich heute Mor­gen ope­rie­ren wollte, hat fälsch­li­cher­weise ein Früh­stück bekom­men um halb acht, aber er hat noch eine andere auf Lager. Ist heute Nacht gekom­men, auch der Ober­schen­kel. Die ihrer­seits ist nüch­tern. Wir ver­ab­re­den uns auf halb elf. Erst die zweite, danach die andere, die eigent­lich erste. Bis zum frü­hen Nach­mit­tag gilt die wie­der als nüch­tern und damit als nar­ko­se­fä­hig.

Um zehn Uhr müs­sen wir los. Das Kran­ken­haus ist über die Auto­bahn zwölf Minu­ten von zuhause ent­fernt, über die Natio­nal­straße sieb­zehn. Meis­tens nehme ich die Auto­bahn. Die letzte Aus­fahrt vor Hyè­res. Man sieht das Gebäude links hin­ter einer Bam­bus­he­cke, umge­ben von neuen Sied­lun­gen. Es wirkt trotz sei­ner vier Eta­gen eher geduckt. Oliv­grüne Fas­sade oben und ein rie­si­ger Funk­mast auf dem Dach.

Mein Kran­ken­haus hat nichts zum Vor­zei­gen. Alles ist ganz klein und eher schä­big. Die dop­pelte Schie­be­tür am Haupt­ein­gang ist die ein­zige auto­ma­ti­sche Tür im gan­zen Haus. Es gibt kein Kran­ken­haus-Café, nicht mal eine reprä­sen­ta­tive Ein­gangs­halle. Kein Gra­nit auf dem Boden, nur Lin­oleum-Imi­tat mit Löchern an den Näh­ten. Keine Kunst an den Wän­den. Ein paar immer­grüne Plas­tik­pflan­zen. Die Tele­fon­zen­trale sitzt hin­ter einer Glas­scheibe links neben dem Ein­gang. Bon­jour Patri­cia! Patri­cia ist immer über­aus feund­lich und hat immer Zeit zum Plau­dern. Manch­mal dau­ert es Stun­den, bis sie end­lich ans Tele­fon geht. Ein Stück wei­ter der Kiosk. Ein Schau­fens­ter mit Spiel­zeug, ein paar Zei­tun­gen. Hier bekom­men die Pati­en­ten die Fern­steue­rung für die Glotze in ihrem Zim­mer. Von neun bis zwölf und von vier­zehn bis neun­zehn Uhr. Am Wochen­ende nur vor­mit­tags. Ansons­ten eben Pech gehabt.

Es gibt zwei Auf­züge bis in die vierte Etage, Päd­ia­trie, und ein Trep­pen­haus. Das Trep­pen­haus ist hin­ter einer der blaß­grü­nen Sperr­holz­tü­ren rechts der Auf­züge ver­steckt. Manch­mal wird die Tür genau in dem Moment auf­ge­sto­ßen, in dem man die Hand zum Griff aus­streckt. Das kann schmerz­haft sein. In der ers­ten Etage gelangt man durch wei­tere Sperr­holz­tü­ren, alle im glei­chen Blaß­grün auf den Flur zu den Urgen­ces und zum OP. Meine Tür ist die zweite links. Bloc opé­ra­toire steht drauf und Endo­scopies. Auch Sperr­holz. Die Plas­tik­plat­ten zum Stoß­fang sind an den Rän­dern abge­split­tert. Dar­un­ter tre­ten braune Kleb­stoff­stri­che zutage. Ja, tut mir leid, es wirkt alles ein biß­chen wie Dritte Welt. Stammt aus den acht­zi­ger Jah­ren. Dem Kran­ken­haus geht es wirt­schaft­lich nicht so gut. Drei Mil­lio­nen Defi­zit. Für ernst­hafte Reno­vie­rung reicht es eben nicht. Das Schloss hakt ein biß­chen und die bei­den Flü­gel rei­ben sich anein­an­der. Dahin­ter ist noch alles dun­kel. Wir sind die Ers­ten.

Ja, und das ist mein Büro. Nein, kein Fens­ter. Und nein, ich habe mir die­ses Hell­grau an den Wän­den nicht aus­ge­sucht. Man dachte wohl, das würde gut zum Grau der Stahl­schränke pas­sen. Keine Bil­der. Doch, die Prin­zes­sin da. Ist von mei­ner Toch­ter. Ich habe direkt nach dem Umbau vor ein paar Jah­ren ein paar Hand­tü­cher in den Aus­lass der Kli­ma­an­lage gestopft, sonst wäre es nicht nur grau hier, son­dern auch noch sibi­risch kalt und zugig. Hier kannst du dich in OP-Grün ver­klei­den und dir einen wei­ßen Kit­tel über­wer­fen. Ich muß der Pati­en­tin für die Pro­these noch Hallo sagen. Ich habe meine Arzt­kit­tel aus Deutsch­land mit­ge­bracht, so Kit­tel, wie sie in Deutsch­land eben üblich sind. Hier gibt es nur "blou­ses", eine Art Hem­den mit Druck­knöp­fen. Ursprüng­lich weiß, neh­men sie nach ein paar Durch­gän­gen Wäsche­rei einen dezen­ten Gelb­ton an. Und haben vor allem nur ein klei­nes Täsch­chen rechts. Nicht genug Platz für Ste­tho­skop, Kugel­schrei­ber und Tele­fon. Wenn das Tele­fon klin­gelt, bekommt man es nor­ma­ler­weise nicht frei, bevor die Mess­a­ge­rie anspricht. Blö­des, uncoo­les Gezerre. Meist fällt außer­dem der Kuli. Wenn man das Ste­tho­skop braucht, kommt das Tele­fon gleich mit und geht zu Boden. Auch läs­tig. Meine Kit­tel aus Deutsch­land haben rich­tige Taschen. Eine für das Ste­tho­skop, eine für das Tele­fon, eine für den Kuli.

Bon­jour Madame. – Häh? – BONJOUR MADAME! Madame S. ist über neun­zig Jahre alt. Und schwer­hö­rig. Sie müs­sen ein biß­chen näher kom­men, weil ich schwer­hö­rig bin. Sie ist mit Ope­ra­tion und Nar­kose ein­ver­stan­den. Tout va bien se pas­ser. Das wird schon gut­ge­hen. – Häh? – TOUT VA BIEN SE PASSER!

Vier­tel nach zehn ist Chris­tine auch schon da. Chris­tine ist die Anäs­the­sie­schwes­ter für das ganze Wochen­ende. Sie hatte einen sehr ange­neh­men Frei­tag Abend – sehr ange­nehm – und lächelt noch, immer noch. Wenn ich sie heute Nacht um halb drei zum Kai­ser­schnitt kom­men las­sen muß, wird sie nicht mehr lächeln. Wir hof­fen das Beste, so schlimm wird es schon nicht kom­men. Die zwei OP-Schwes­tern und die Putz­frau las­sen auch nicht mehr lange auf sich war­ten. Nur Boris­lav ist noch nicht da. Mit oder ohne Zucker den Kaf­fee?

Und dann wird es ein biß­chen lang­wei­lig. Nach der ers­ten Hüfte Imbiß für alle. Ist ja schon halb eins inzwi­schen. Fran­zo­sen essen zwi­schen zwölf und zwei. Immer. Auch wenn ihnen der Him­mel auf den Kopf zu fal­len droht. Dann der andere kaputte Ober­schen­kel. Die Pati­en­tin ist inzwi­schen wie­der nüch­tern. Zwi­schen­durch ein Kai­ser­schnitt, Code rouge. Rot heißt, es muß ganz schnell gehen, weil es dem Kind mut­maß­lich ganz schlecht geht. Bei Soraya, der Gynä­ko­lo­gin sind alle Kai­ser­schnitte rote Kai­ser­schnitte, glü­hend rot. Das macht sie ein biß­chen unglaub­wür­dig. Auch heute hätte orange gereicht.

Wenn du dich lang­weilst, kannst du übri­gens den ande­ren Com­pu­ter haben in mei­nem Büro. Gibt aller­dings kein Face­book oder you­tube bei uns. Ist gesperrt, weil die Leute sonst angeb­lich nicht zum Arbei­ten kämen. Glaubt die Direk­tion. Ebay funk­tio­niert.

Ab dem frü­hen Nach­mit­tag bin ich für unsere Sta­tion für Inter­me­diate Care zustän­dig. Der Kol­lege dort hat sich den Vor­mit­tag über um die Kran­ken geküm­mert, ist bis Mit­ter­nacht in Ruf­be­reit­schaft. Inter­me­diate Care ist die Sta­tion für ziem­lich kranke Pati­en­ten. Zu krank für eine Nor­mal­sta­tion, nicht krank genug aber für eine Inten­siv­sta­tion. Für die Inten­siv­sta­tion müß­ten sie in eines der gro­ßen Kran­ken­häu­ser nebenan ver­legt wer­den. Wich­tig ist, daß vor Mit­ter­nacht alle Bet­ten belegt sind. Nichts ist anstren­gen­der als eine Auf­nahme nach Mit­ter­nacht. Mei­nen – hof­fent­lich – abschlie­ßen­den Auf­tritt auf der Sta­tion habe ich da gegen halb zwölf. Letzte Abspra­chen mit dem Pfle­ge­per­so­nal, was in wel­chen Fäl­len zu tun sei. Was gegen Schmer­zen und vor allem was gegen Unruhe. Die Schwes­tern von Inter­me­diate Care essen gegen Mit­ter­nacht. Da wol­len sie nicht gestört wer­den.

Du willst ohne­hin nicht über Nacht blei­ben? Jetzt nach Hause? Stimmt, ist schon spät. Ich sage den Heb­am­men noch gute Nacht und ver­schwinde dann auch in mei­nem Dienst­zim­mer.

Schade, daß es nicht mehr reg­net.

p.s.:

habe ich ver­linkt bei "WMDEDGT", steht für Was Machst Du Eigent­lich Den Ganzen Tag. Immer zum Fünf­ten des Monats. Würde "traf­fic" auf die eigene Seite brin­gen, dachte ich mir. Und Ein­sicht in den einen oder ande­ren inter­es­san­ten Blog. Stimmt bei­des. Traf­fic und Ein­sicht.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

Geburtshilfe

Der Klas­si­ker zur Dienstüber­gabe der Heb­am­men. Die ganze Nacht kein ein­zi­ger Hil­fe­ruf an den dienst­ha­ben­den Anäs­the­sis­ten und kaum ist Phil­ippe da, Phil­ippe die Heb­amme, über­ge­wich­ti­ger Gesichts­haar­trä­ger, geht es nicht mehr ohne mich. 7:12 Uhr. Eine Zweit­ge­bä­rende bei drei Zen­ti­me­tern. Hat sie denn Schmer­zen? Ben, oui, sie hat schon etwas Schmer­zen. Ich muß mich aus dem Bett in mein Grün­zeug quä­len, Zähne put­zen. Wir tei­len unsere Toi­lette, ein Wasch­be­cken und eine gam­me­lige Dusch­ka­bine mit den Inten­siv­me­di­zi­nern. Ein­mal über den Flur. Wenn man Pech hat, putzt sich der Inten­siv­dok­tor gerade die Zähne. Keine zehn Minu­ten spä­ter eine Nach­richt auf mei­nem Handy. Von 7:24 Uhr. Ève, die Heb­amme, noch übrig aus der Nacht­schicht. Nicht mehr nötig, sagt sie. Die Frau hat ent­bun­den. Aha. Geburts­hilfe vom Feins­ten.

Schlim­mer aber noch der Anruf um 2:32 Uhr. Wie ein Eimer Eis­was­ser im Tief­schlaf. Letz­ten Sonn­tag. Von Sébas­tien, der Heb­amme. Kein Gesichts­haar. Elsäs­ser. Besucht manch­mal sei­nen Groß­va­ter in Ulm. Und bringt mir Scho­ko­lade von Rit­ter Sport mit. Gibt's hier nur bei Déc­a­th­lon. Péri­du­rale für eine Steiß­lage. Das kann ich ein­se­hen. Ent­bin­dung aus Steiß­lage ist schö­ner mit Epi­du­ral­ka­the­ter. Da kann immer was schief­ge­hen. Und Schmer­zen hat sie auch.

3:43 Uhr schon wie­der Sébas­tien. Wie­der Eis­was­ser! Rhyth­mus­ano­ma­lien beim Kind in Steiß­lage, Kai­ser­schnitt. Samir aus Syrien ist der Gynä­ko­loge. Nichts gegen Aus­län­der. Bin selbst einer. Samir aus Syrien macht immer – na ja, oft – zu kurze Kai­ser­schnitte. Zu kurz in der Bauch­de­cke, zur kurz in der Gebär­mut­ter. Braucht dann Vakuum oder Zan­gen, um die Klei­nen aus dem Bauch zu zer­ren. Kos­tet immer ein paar APGAR-Punkte. Sachich­noch: Mach' Dei­nen Schnitt groß genug! Wenigs­tens dies­mal! Keine Aben­teuer mit­ten in der Nacht! Bitte! Denk' an meine Herz­kranz­ge­fäße! Wer aber hört schon auf das alt­kluge Geschwätz des Anäs­the­sis­ten? Jaja, bien­sûr, aie con­fi­ance! Keine Angst! Und? Das Resul­tat? Klar, Schnitt zu klein. Reicht für Füße und Bauch. Nicht mehr für das Köpf­chen und die Ärm­chen. Bei Steiß­lage kann man sich auch nicht hel­fen mit Vakuum oder Zan­gen. Statt­des­sen gro­ßes Metz­gern an der Bauch­de­cke und der Gebär­mut­ter. Das Kind ganz sprach­los. Ganz schlapp. Ganz blaß. Herz­fre­quenz bei etwa fünf­zig. APGAR 2 (in Wor­ten: zwei), würde ich sagen. Wo ist der Kin­der­arzt? Kein Päd­ia­ter! Kein Wun­der, t'as vu l'heure? Der muß ja auch erst­mal auf­ste­hen. Und dann noch her­fah­ren von Le Pra­det. Bis dahin ist das Kind tot. Oder der Anäs­the­sist ret­tet es. Und zahlt mit sei­nen Herz­kranz­ge­fä­ßen. Geburts­hilfe vom Feins­ten.

Samir sagt, die Frau wäre selbst schuld. C'est pas ma faute! Das ist doch nicht mein Feh­ler! Kaum hätte er in den Ute­rus geritzt, hätte der sich so rich­tig kon­tra­hiert. Aber sowas von kon­tra­hiert! Der Ute­rus. Kann ich was für den Ute­rus von der Frau? Sowas! Ein­fach kon­tra­hiert, der Ute­rus! Kann die Frau nicht ein biß­chen auf­pas­sen auf ihren Ute­rus? Genau um den Hals der Klei­nen! Aber ehr­lich!

Frage an die gynä­ko­lo­gi­sche Kol­le­gen­schaft: Ist das so über­ra­schend? Das mit dem Ver­hal­ten der Ute­rus­mus­ku­la­tur bei Schnitt­ent­bin­dung? Kann der Gynä­ko­loge das nicht anti­zi­pie­ren?

Ein paar Tage spä­ter wie­der Kai­ser­schnitt mit Samir, dem Gynä­ko­lo­gen aus Syrien. Frei­tag Abend im Pro­vinz­kran­ken­haus. Zweit­ge­bä­rende, Ter­min eigent­lich in zwei Wochen. 104 Kilo bei 158 Zen­ti­me­tern. Seit fünf Uhr nach­mit­tags im Kran­ken­haus. Bla­sen­sprung wohl. Was weiß ich. Geburts­ein­lei­tung eben. Bei der vagi­na­len Unter­su­chung fin­det Magali, die Heb­amme, so eine komi­sche Beule. Keine Ahnung, was das ist, sagt sie. Da muß der Samir mal mit dem Sono gucken. Indi­ka­tion zum Kai­ser­schnitt 18:32 Uhr. Warum? Steiß­lage! Magali braucht Samirs Sono, um eine Steiß­lage zu erken­nen! Wow! Hat Magali nicht Heb­amme gelernt? Außer­dem Rhyth­mus­stö­run­gen beim Kind. Aber das sagen sie immer, damit's ein biß­chen schnel­ler geht. Hop-hop-hop quasi. Und natür­lich so kurz vor dem Schicht­wech­sel sowieso. Schicht­wech­sel ist um 19:00 Uhr. Hop-hop-hop.

Lie­ber Samir, mach' bitte den Schnitt lang genug. Bitte! Denk' an meine Koro­na­rien! – Große Frau, große Narbe, fällt Samir dazu ein. – Nein, Samir, das meine ich nicht. Die Narbe auf dem Bauch ist mir scheiß­egal. Den Schnitt im Ute­rus meine ich. Der muß lang genug sein. Für den APGAR vom Baby. Und meine Koro­na­rien! – Okay, okay, sagt er. Aber es klingt wie ein Ado­les­zen­ten-Jaja. Schnitt kurz vor sie­ben. Samir hat sich zwei Heb­am­men an den Tisch geholt! Phil­ippe und Nacima. Zwei Heb­am­men in grün und ste­ril gewa­schen. Sonst gibt’s immer nur eine. Weil die Frau so dick ist, sagt Samir. Aha! Gro­ßer Schnitt im Bauch, gro­ßer Schnitt auch im Ute­rus. Danke, Samir! Aber was ist das denn? So ein Gewu­sel! Fin­ger, Zehen, Hände, Füße! Und soviele davon! Weiß man gar nicht, wo man anpa­cken soll! Jetzt muß Phil­ippe ran. Mit sei­nen star­ken Armen kann er das Loch mit dem Gewu­sel bes­ser auf­hal­ten als Nacima. So kann Samir wenigs­tens mal rein­grei­fen und umrüh­ren. Irgend­wann wird in dem gan­zen glit­schi­gen Gewu­sel schon was auf­tau­chen, was man rich­tig anpa­cken kann. Wahr­schein­lich wird Samir schon ein biß­chen panisch. Tun­nel­blick. Wenn das eine Hand ist, muß der Kopf da sein. Mehr rechts der Kopf also. Oder oben. Ist das eine Hand? Was ist rechts? Oben? Cha­dia! Cha­dia ist seine Kol­le­gin, aus dem Liba­non, die ihn immer wie­der ret­ten muß. Cha­dia! Wo ist Cha­dia? Samirs Pro­blem ist nicht der zu kleine Schnitt. Nicht nur. Samirs Pro­blem sind auch über­ra­schende ana­to­mi­sche Struk­tu­ren. Zehen, Fin­ger, Hände, Füße.

Am Ende gibt's dann immer­hin eine ordent­li­che Por­tion Nal­ador. Das stei­gert den Tonus der Ute­rus­mus­ku­laur (glaube ich) und sta­bi­li­siert die Psy­che hand­werk­lich mit­tel­mä­ßig begab­ter Gynä­ko­lo­gen. Außer­dem ver­mu­ten hand­werk­lich mit­tel­mä­ßig begabte Gynä­ko­lo­gen eine schleim­haut­pro­tek­tive Akti­vi­tät im Gastro­in­tes­ti­nal­trakt ihrer anäs­the­sio­lo­gi­schen Kol­le­gen. Wenn sie uns, in lich­ten Momen­ten, über­haupt als Kol­le­gen wahr­neh­men. Wenn sie über­haupt was ande­res als sich selbst wahr­zu­neh­men in der Lage sind.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr