Zwiefalten

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Ich geh’ jetzt. Ich unterschreibe euch, was ihr wollt, aber ich geh’ jetzt.

Ein Uhr fünfunddreißig. Nachts. Tumult auf meiner Station für mittelschwer Kranke, Intermediate Care. Notruf der Schwester. Ein Psychopath, ich nenne ihn mal Bryce, 23, manisch-depressiv in bislang eher depressiver Verfassung. Lag eigentlich nur noch da, Zimmer drei, weil er am kaputten Ellenbogen operiert worden war am Vortag. Hatte nach fast einer Woche auf dieser Station wegen einer zusätzlichen Stoffwechselstörung genug von uns. Der meint das Ernst, sagt die Schwester am Telefon. Und wenn der erstmal aus seinem Zimmer kommt, halten wir ihn bestimmt nicht auf.

Vor einem Jahr wurde unsere Intensivstation in eine Unité des soins continus umgewandelt, Station für Intermediate Care. Das ist die Abteilung für Patienten, die zu krank sind für eine Normalstation und nicht krank genug für eine Intensivstation. Bei uns gab es plötzlich zu wenig Intensivmediziner. Kein Franzose will das machen. Noch weniger als Anästhesie. Schon gar nicht so tief in der Provinz, Sonne und Meer hin oder her. Deswegen wurde die Intensivstation umgewandelt in eine Station für Intermediate Care. Und wir von der Anästhesie müssen uns darum kümmern. Anästhesisten haben ja auch mal Intensivmedizin gelernt. Auf dieser Station werden vorwiegend Menschen mit internistischen Krankheitsbildern versorgt. Menschen eher am Ende ihres Lebens, häufig mit schweren, austherapierten Erkrankungen der Lunge. Gelegentlich ein entgleister Diabetes, manchmal ein mißglückter Selbstmordversuch. Meist kriegen wir solche Kandidaten aus den großen Krankenhäusern nebenan. Kein Platz behaupten die Kollegen dort. Sie meinen kein Platz für sowas. Damit geben wir uns nicht ab. Bryce kam auch von dort. Wegen Überbelegung.

Ich geh’ jetzt. Ich unterschreib’ dir, was du willst, aber ich geh’ jetzt.

Bryce steht in der Tür zu Zimmer drei. Bryce ist einen Meter neunzig groß, geschätzte 120 Kilogramm schwer. Ein Schrank. Nur der Infusionsschlauch in seinem Arm mit der Flasche am anderen Ende hält ihn vom Aufbruch ab. Und vielleicht sollte er auch noch was anziehen. Daß er mich duzt, gefällt mir nicht so. Sie sollten sich vielleicht noch was anziehen, ich komme gleich zu Ihnen.

Die Schwestern auf dem Stationsflur wie ein Haufen kopfloser Hühner, empört, weil er wüste Drohungen mit obszönen Tendenzen ausstößt. Muß ich da jetzt rein? Du bist der Arzt, sagen sie, wir gehen da nicht rein, du hörst doch, was er sagt. Bryce steht neben seinen Bett und versucht sich anzuziehen. Nicht ganz einfach mit dem Infusionsschlauch in seiner Ellenbeuge und den Drähten vom EKG. Hätte er ja auch einfach abreißen können. Delirante Alkoholiker sind da weniger einsichtig. Die ziehen sich auch mal einen Blasenkatheter. Ich kann Bryce zum Bleiben bis morgen überreden und einer Tablette Valium. Er wünscht sich zwei davon, weil er das kennt. Zwanzig Milligramm. Den ungeübten Normalmenschen würde diese Dosis für 24 Stunden im Koma halten. Meinem Patienten reicht das als Basis zum Überdenken seiner Entscheidung in aller Ruhe. Eine Stunde später steht er auf dem Stationsflur. Ohne Hose. Auch ohne Unterwäsche. Mit T-Shirt allerdings. Demente Senioren kann man manchmal auf dem Parkplatz in dieser Aufmachung einfangen.  Er hat den Schlauch seiner Infusion durchgeschnitten. Aus dem Schlauchende tropft reichlich Blut. Woher nur hatte er die Schere dazu? Hat er die Schere noch? Ist Bryce als bewaffnet einzuschätzen? Würde er von seiner Waffe Gebrauch machen?

Ich unterschreibe euch, was ihr wollt, aber ich gehe jetzt, brüllt Bryce.

Früher, im nordöstlichen Ruhrgebiet, gab es für solche Fälle Ketamin in den Schubladen. Ketamin, intramuskulär appliziert, wirkt innerhalb von dreißig Sekunden. Wildhüter zähmen damit pflegebedürftiges Großwild. Aus sicherem Abstand. Wer aber würde sich Bryce zur intramuskulären Applikation nähern, geschweige denn sich ihm in den Weg stellen wollen? Die Schwestern verschanzen sich hinter Tischen und Stühlen. Auch ich tendiere da eher zur Feigheit.  Die Schwestern wissen andererseits von einem Pfleger im Haus, sogar anwesend, spezialisiert auf sowas. Serge rollt auf Anruf aus der Notaufnahme an. Innerhalb von Minuten. Als ob sie dort ständig mit so Leuten wie Bryce zu tun hätten. Warum nicht gleich? Zwei-Millimeter-Frisur, physisch ein ähnliches Kaliber wie Bryce. Zwei Helferinnen. Er stellt sich als Pfleger des CAP vor – ich weiß nicht genau, wofür das steht. C für Centre, glaube ich, A keine Ahnung, Action vielleicht, P jedenfalls für Psychiatrie. Franzosen lieben Abkürzungen. Sie haben einen Koffer dabei, grün. So könnte man sich ein Sado-Maso-Einsteigerköfferchen vorstellen. Mit allerlei Zubehör für Fesselspiele in massiver Ausführung, abwaschbar. Du legst dich jetzt in dein Bett, sagt Serge. Serge duzt Bryce einfach, vielleicht ist das der Trick. Okay, sagt Bryce. Und dann schnalle ich dich an, weil das besser für dich ist. Okay. Bryce legt sich in sein Bett. Ganz zahm. Und wird an den Füßen und dem nicht operierten Arm fixiert. Weil das besser für uns alle ist. Okay, merci. Als ob er nur darauf gewartet hätte. Und nach dem Frühstück bringen wir dich nach Pierrefeu. Okay. Serge kann das ganz ohne Ketamin. Einfach so. Wow.

In Pierrefeu haben sie die große Irrenanstalt der Region, des Départements Var zumindest. Die Irrenanstalt meiner Jugend liegt auf der Schwäbischen Alb zur Donau hin. In einer ehemaligen Benediktiner-Abtei. Öffentlich zugänglich ist dort das Münster, ein bedeutendes Bauwerk deutschen Spätbarocks. Früher, also in meiner Jugend, hieß es gerne mal, bestimmt nur im Scherz: wenn du so weitermachst, kommst du in die Geschlossene nach Zwiefalten.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr


Gekürzt veröffentlich in der März-Ausgabe der Riviera-Zeit.