Zombies

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Letzten Freitag nach dem Dienst ähnelte mein Zustand dem eines Zombies. Untot. Intellektuelles Zwerghasen-Niveau, geeignet maximal zur Bewältigung von Kleinbaustellen. Kleinbaustellen sind Baustellen im und ums Haus, deren Bewältigung weniger als einen halben Tag beanspruchen. Voraussichtlich. Zwischen den aktuellen Kleinbaustellen hatte ich immerhin Zeit, mit meinem Sohn zu Mittag zu essen. Mein Mittagessen war das Frühstück meines Sohns. Hast du was vor heute Abend? Er hat oft was vor abends. Heute Abend Bar-à-Thym in Toulon. Mit Flavie, Margot und Thomas. Die Bar muß so eine Art In-Kneipe sein im Upperclass-Viertel, nicht weit vom Stadtstrand, mit Live-Musik manchmal, hält sich schon seit ein paar Jahren. Und das trotz Tageszeitungs-fähigen Protests der Anwohner. Obwohl das bei Var matin, der regionalen Tageszeitung, noch gar nichts heißen mag, die bringen jedes Thema auf die Titelseite. Heute, Montag, hat es eine Schildkröte auf Seite eins geschafft. Beim Eierlegen am Strand. Vor Le Lavandou oder Fréjus, glaube ich. Innen noch eine weitere Doppelseite dazu. Eine Biologin, Sidonie, kommt zu Wort, normalerweise schwimmt diese Sorte Schildkröten zur Eiablage nach Griechenland, wahrscheinlich ist der Klimawandel schuld. Zu Wort kommen auch Anwohner, Madame und Monsieur Jouanneau, mit Bild, er im Karohemd, ganz verzaubert von soviel Naturwunder vor der eigenen Haustür.

In die umstrittene Kneipe ging schon der große Bruder gerne mit seinen Copains. Jetzt, wo die Copains weg sind aus der Gegend, geht er nur noch ganz selten in die Stadt. Dafür der jüngere Bruder um so öfter. Erst Bar-à-Thym und dann Übernachten bei uns zuhause. Aha, Übernachten bei uns, sehr interessant! Das ist mal was Neues. Übernachten mit Flavie, Margot und Thomas. An welche Zimmer er denn da dächte. Obwohl, so genau will ich das eigentlich gar nicht wissen, wie dieses Übernachten wirklich aussehen soll, auch die Mädchen sind immerhin volljährig. Ich wünsche mir nur, daß es nicht so spät würde und bitte so leise wie möglich, immerhin hätte ich ja Dienst gehabt und wäre bis zwei Uhr nachts unterwegs gewesen. Mit zudem unangenehm kräfteraubender Zwischenmenschlichkeit zum Personal der Ambulanz. Morgen früh würde ich gerne ein bißchen Radfahren. Früh. Heute würde ich also gerne früh schlafen gehen. Und das Château, das wüßte er ja, sei sehr hellhörig. Deswegen leise, bitte. So leise wie möglich. Non-non-non, pas de problèmes, sagt der Sohn, das käme ihnen allen entgegen, am nächsten Morgen wollten sie früh raus, so früh wie möglich eben, nach einem Abend in der Bar, weil sie ins Hinterland fahren wollten, Cascade de Sillans. Ob es da überhaupt noch genug Wasser gibt für den Wasserfall und das Becken darunter angesichts der anhaltenden Trockenheit, frage ich mich, sage es aber nicht laut, denn, wenn man da erstmal einen Zweifel säht, kippt womöglich das ganze Projekt. Früh ins Bett, so früh wie möglich, trotz Bar-à-Thym.

Es muß so gegen Mitternacht gewesen sein, ich hatte gerade was im kindle zu Ende gelesen, Bov Bjerg, “shooting star” bei amazon, Die Modernisierung meiner Mutter, kleine Geschichten, mir gefällt der Stil. Kaum war das Licht aus, ging die Fete los. Facebook-Fete wohl, kommt alle zu mir, nur mein Vater ist zuhause, egal, der wird nichts sagen. Etwas kurzfristig, deswegen nur die zwanzig besten Freunde. Kichernde, kreischende Mädchen, bollernde Jungs-Bässe, lautstarkes Planschen am Pool. Immerhin nur wenig Musik. Kichernde, kreischende Mädchen, bollernde Jungs-Bässe, lautstarkes Planschen am Pool reichen aber. Ab und an geht einer auf Toilette. Oder poltert durchs Treppenhaus. An Schlaf nicht zu denken. Dämmern wie untot. Ich gebe mich trotzdem cool, ich muß ja nicht immer alles verbieten, halte still, lange kann es ja nicht mehr dauern, sie wollen ja früh raus morgen, so früh wie möglich, die Cascades von Sillans. sms 4:47 Uhr, dann doch, lass’ es doch bitte ein Ende haben nun, lieber Sohn. Keine Reaktion. Muß ich jetzt wirklich aufstehen, mich anziehen, den uncoolen Alten spielen? Und die ganzen Jungen gucken mich angewidert an? Vielleicht erst noch ein Versuch mit dem Telefon? Messagerie. Zweiter Versuch. Wieder Messagerie. Beim dritten Mal antwortet er dann doch. Täte ihm leid, sagt er, so wäre das nicht vorgesehen gewesen.

Halb sechs endlich Ruhe. Da dämmert es schon. Die geplante Tour über den Faron auf sieben Uhr kann ich mir abschminken. Das wird noch ein zweiter Zombie-Tag. Gut für Kleinbaustellen niedrigen intellektuellen Anspruchs.

8:29 Uhr. An einem Samstag Morgen ist das ein guter Moment, mit der Trennscheibe Beton zu sägen. Schon lange prokrastinierte Kleinbaustelle. Leider auf der Südseite des Châteaus. Oben schlafen die Mädchen und die Jungs. Tut mir wirklich leid. Wirklich. Dauert eine Stunde höchstens. Allerhöchstens. Ihr wolltet doch ohnehin früh aufstehen, so früh wie möglich eben nach einem netten Abend im Bar-à-Thym, ihr wolltet doch an die Cascade von Sillans, oder? Kurz nach zehn drei Zombies am Frühstückstisch, ungeduscht knabbern sie was von Kellogg’s oder Nestlé, mein Sohn in Sporthose, nackter Oberkörper, die Mädchen nicht mehr so hübsch und schlecht frisiert. Zombies. Tut ihm schrecklich leid für gestern Abend, sagt der Sohn. Schrecklich. Margot ist désolée. Vraiment. Flavie sagt gar nichts, stumme Küßchen. Schmoll’ doch. Thomas und die anderen sind offenbar doch noch nach Hause gefahren. Die Anderen, welche Anderen? Soviel Geräusch? Zu viert? Wow!

Die Cascade fällt aus. Nicht mal Strand geht mehr. Auch Zombies müssen mal was schlafen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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