Weihnachten

Allô?

Ich erkenne an der Nummer, wer mich da anruft. Ich melde mich trotzdem mit Hallo?, weil alle das so machen.

Allô?

Das ist Manus Bruder. In Frankreich wird – auch weit jenseits des Zeitalters aufkommender analoger Telekommunikation – zunächst die Stabilität der Leitung geprüft.

Oui, bonjour, c’est Monsieur Diehl!

Sage ich, als ob er das nicht wüßte. Er hat mich ja aus seinem Telefon selbst angerufen. Machen aber alle so.

Bonjour, c’est le Père Noël!

Der Weihnachtsmann! Gestern mußte ich am Telefon laut werden mit Manus Bruder. Ein bißchen teutonisch, ich muß es zugeben. Ich konnte meine Genetik nicht mehr unter Kontrolle halten. Manus Bruder bezieht sich auf meine Ansage, ich wäre nicht gewillt, bis Weihnachten auf die Dämpfer der Heckklappe zu warten. Manus Bruder kann richtig komisch sein. Er ist der Weihnachtsmann! Und das, obwohl er im Laden immer die Drecksarbeit machen muß. Immer ist er mit dem Staubsauger unterwegs und der Werkzeugkiste. Wenn er morgen immer noch witzig ist, grillen wir demnächst zusammen.

Manu selbst ist der Patron. Manu ist deutlich weniger witzig. Er ist Gebrauchtwagenhändler. Er muß sich um den Papierkram kümmern. Unter anderem. Für jedes Auto ein Kraftumschlag in DIN A 5. Die Umschläge ihrerseits in kleinen Plastikkisten, etwa zwanzig pro Kiste. So ist Papierkram anstrengend. Er verkauft direkt an der Nationalstraße Autos, die sonst keiner mehr verkauft. Zur Zeit steht eine ganze Flotte Renault von der Post auf seinem Hof. Gelbe Lieferwagen jeder mit rund einer halben Million Kilometern auf dem Zähler. Neulich konnte man da auch was Großes von Mercedes-Benz sehen, aber das war vermutlich Manus Eigenbedarf. Mir hat er Ende Juli (Juli! Da war noch Sommer, das war vor sieben Wochen) einen grausilbernen Renault verkauft. Zehn Jahre alt, aber in Ordnung. Für mich als Laien zumindest in Ordnung. Das Auto fährt geradeaus, alle Gänge funktionieren, die Bremsen bremsen gleichmäßig. Keine unangenehmen Geräusche, keine Ölspuren. Eine Schlüsselkarte muß neu programmiert, die Klimaanlage aufgefüllt werden. Okay. Was will ich erwarten zu dem Preis? Und die Dämpfer der Heckklappe funktionieren nicht. Er will mir allerdings Ersatz beschaffen. Bis morgen, spätestens übermorgen. Ende Juli.

Ne vous inquiétez pas.

Dann, vier Tage und keine hundert Kilometer später, ließ mich der Renault mit defektem “Turbo” auf der Autobahn im Stich. Manu selbst ist, wie gesagt, weniger witzig als sein Bruder, auch weil er sich nicht nur um den komplizierten Papierkram in den Kistchen kümmern muß, sondern auch um die Reklamationen. Meine Reklamation hat ihm gar keine Freude bereitet. Ich habe ihn über Wochen jeden Tag angerufen, fast jeden Tag. Meine Enttäuschung nicht verhehlt. Meinem Ärger gelegentlich freien Lauf gelassen. Mit dem Rechtsanwalt gedroht. Teutonische Veranlagung eben. Manu blieb gelassen:

Ne vous inquiétez pas! Je m’en occupe. Je vous tiens au courant!

Bleiben Sie ganz ruhig! Ich kümmere mich darum. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Aber, das müßte ich verstehen, es wäre immerhin August und der Hersteller und sein Lieferant und der Lieferant des Lieferanten wären wohl im Urlaub. Ich rufe Sie an, wenn der Turbolader da ist. Fünf Wochen lang. Fünf! Fast jeden Tag. Jedes Mal der gleiche Text. Ne vous inquiétez pas! Aber ich müßte auch verstehen und so weiter. Für teutonische Veranlagung blieb ich sehr gelassen. Finde ich.

Letzte Woche waren der Turbo-Hersteller und die Lieferantenkette endlich aus den Sommerferien aufgewacht und Rachid, Manus Mechaniker, würde das Teil einbauen. Morgen, spätestens übermorgen. Tatsächlich konnte ich den Renault zwei Tage später abholen.

Die Heckklappendämpfer waren über dem ganzen Ärger mit dem Turbolader leider in Vergessenheit geraten. Der witzige Bruder übernahm. Da wußte ich aber noch nicht, wie witzig der Bruder sein konnte.

Ne vous inquiétez pas! Je m’en occupe. Je vous tiens au courant!

Das war nun eindeutig zuviel für meine teutonische Veranlagung. Das kannte ich schon vom seinem Bruder, dem Patron. Ich konnte nicht mehr anders, als meinem Ärger freien Lauf zu lassen, mit dem Rechtsanwalt zu drohen und auf den Einbau der Dämpfer deutlich vor Weihnachten zu bestehen. Das war gestern.

Heute ist Weihnachten.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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