Virginia

“Endokrine Erkrankung des Magen-Darm-Traktes, bedingt durch das Auftreten von bestimmten Pankreastumoren, pankreatischen Gastrinomen. … Leitsymprom ist die charakteristische Trias: exzessive Magenhypersekretion, rezidivierende Ulzera des Magens und gastrinproduzierende Pankreastumoren. … Therapie nur chirurgisch möglich: subtotale Pankreasresektion, Gastrektomie.”

Das steht so, leicht gekürzt, in meinem Pschyrembel von 1982. Zum Zollinger-Ellison-Syndrom. Schön gereiftes Medizinerdeutsch. Inhaltlich nicht mehr ganz zeitgemäß. In den Richtlinien zum Probeauftrag heißt es zwar “Unique Content! Der Text darf  keinesfalls kopiert oder abgeschrieben sein”. Ein bißchen umgeschrieben, in Normaldeutsch gebracht und inhaltlich korrigiert, und sie würden nicht merken, daß es abgeschrieben ist. 1982. Das ist mehr als dreißig Jahre her. Sollen sie erstmal die Quelle finden.

Pardon?

Der Herr in Uniform hatte was gesagt. Ich habe nicht verstanden. Unwilliges Handzeichen in meine Richtung. Irgendwo in Richtung des Transportbands mit meinem Laptop, dem Rucksack und dem Gürtel in Plastikwannen. Stimmt was nicht mit meinem Gürtel? Er könnte ceinture gesagt haben. Er hat sicher nicht Bonjour gesagt. Die Sicherheitskontrolle vor den Gates ist nicht das Umfeld für überflüssige Kommunikation. Eher Handzeichen, Einwortsätze. Wenn überhaupt.

Chaussures!

Er meint meine Schuhe! Ich muß meine Schuhe ausziehen. Wegen der Rasierklingen in den Absätzen! Wie konnte ich das nur vergessen?

Die uniformierten Herrschaften, eine Frau, ein Mann, beide Musterbeispiele robuster Fehlernährung, die jenseits des Metalldetektors warten, mich dabei allerdings nur als die Anzeige über mir wahrnehmen, als rotes oder grünes Licht, sind auch nicht zum Quatschen da. Ich scheine grün zu sein. Und werde im gleichen Bruchteil einer Sekunde unsichtbar. Vermutlich besser so. Mein Bonjour verhallt auch hier ohne erkennbare Reaktion.

Halb sechs ist andererseits nun wirklich nicht die Zeit, zu lächeln oder an einen guten Tag zu denken. Das erste Lächeln ist zum Dienstschluß gegen halb eins zu erwarten. Oder zum diskreten Hinweis auf ein entdecktes Sextoy in der Durchleuchtung. Das Lächeln immer und ausschließlich unter Kollegen, versteht sich. Wiederholtes publikumsgerichtetes Lächeln hat eine handfeste Abreibung in der Umkleide zur Folge. Der Besuch eines Benimmkurses in Eigeninitiative ist ein zwingender Grund für eine fristlose Kündigung.

Möglicherweise ist es eine Zollinger-Ellison-Selbsthilfegruppe, die hier geschlossen Anstellung gefunden hat. Allesamt in akuter Entladung ihres Gastrinoms. Dazu die Tageszeit. Das kann ich verstehen. Zur Péridurale um halb vier kriegen Schwangere und Hebammen auch nur ganz selten ein echtes Lächeln von mir. Geht auch ohne Magengeschwür nicht gut.

Robert M. Zollinger, ein amerikanischer Chirurg schweizerischen Ursprungs, und sein Kollege Edwin H. Ellison beschrieben das Krankheitsbild 1955. Häufig bösartige Tumoren – Gastrinome – meistens in der Bauchspeicheldrüse oder dem Dünndarm, verursachen eine starke Überproduktion von Magensäure. Die viele Säure führt zu chronischem Durchfall, Fettstuhl, Übelkeit, Erbrechen, macht Magen- und Zwölffingerdarm-Geschwüre. Bauchschmerzen. Meist zwischen den Mahlzeiten, oft nachts eben. Na also! Kein Wunder, daß die sich morgens um halb sechs so griesgrämig geben.

In einem Online-Portal für Medizinjobs war ich auf das Angebot gestoßen: Freiberufliche Medizinautoren (m/w) in Homeoffice. Homeoffice könnte mir sehr gut gefallen. Ich sitze im Schatten mit Blick auf Palmen und schreibe medizinische Populärwissenschaft. Super! Ein Online-Dienstleister vergoldet meine Worte großzügig. Auch der Rest der Ausschreibung paßt genau zu mir: ich habe Medizin studiert, schon länger her, aber immerhin, ich kann medizinische Sachverhalte leicht verständlich erklären, sofern ich sie selbst verstanden habe, verfüge über fundierte Kenntnisse der deutschen Rechtschreibung und Grammatik und ich schreibe gerne eigene Inhalte und habe “bevorzugt” bereits erste journalistische Erfahrungen. Letzteres vielleicht nicht, aber ich habe schon in ZEIT ONLINE veröffentlicht und ich betreibe einen Blog. Das zählt bestimmt auch. Auf meine Mail mit Hinweis auf den Blog kommt umgehend eine Antwort: “Ihr Profil könnte gut zu unseren Anforderungen passen, daher ist Ihre Bewerbung in der näheren Auswahl”. Das ist natürlich eine Quatschblase, das ist die Standardantwort. Keiner von denen wird sich in meinem Blog ein Bild von “meinem Profil” gemacht haben.

Für das wirkliche Profil wünschen sie sich eine Probearbeit, abzuliefern als Word-Datei innerhalb einer Woche, “direkt an die Chefredakteurin”, Virginia M.. Ich darf wählen zwischen einem Text zu Systemischem Lupus Erythematodes und Zollinger-Ellison-Syndrom. Ein Text zu Definition, Synonymen, Ursachen, Symptomen (ausformulierte Sätze, kein Aufzählungsstil, die einzelnen Symptome im Text fettgedruckt hervorheben), Diagnose, Differentialdiagnose, Therapie. Und all das in vierhundert Worten! Für das Zollinger-Ellison-Syndrom mag das ja noch angehen. Bei komplexeren Exotika wie dem Guillain-Barré-Syndom, nur um ein Beispiel zu nennen, wird das schon knapp. Es gibt noch Hinweise zu häufigen Fehlern. Zahlreiche Hinweise, vor allem: “Unique Content! Der Text darf  keinesfalls kopiert oder abgeschrieben sein”. Frage ich mich schon: Was kann es in der Medizin noch geben, was nicht schon tausend Mal immer wieder ähnlich geschrieben und abgeschrieben worden ist?

Abschließend drei Zeilen zum Honorar: Nach “erfolgreicher” Probearbeit zahlen sie – zu Beginn – ein Honorar von 1,30 Cent. Je Wort. Eins. Komma. Drei. Null. Cent. Dies sei “stufenweise steigerungsfähig” auf bis zu 4,0 Cent. Je Wort. Vier. Komma. Null. “Je nach Qualität der gelieferten Texte”. Okay. Vergolden sieht anders aus. Vierhundert kompakt ausgefeilte Worte, fundiert, verständlich und nicht abgeschrieben! Macht 5,20 Euro, steigerungsfähig bis 16. Sechzehn! Wahrscheinlich inklusive Mehrwertsteuer. Und dafür ohne Urheberrechte. Für 5,20 Euro die Stunde würde man sich ohnehin keinen Anwalt zur Wahrung der Urheberrechte leisten können.

Vermutlich hatte der Redakteur bei der ZEIT solche Angebote vor Augen. Oft wäre das Schreiben sehr frustierend, schrieb er in einer Mail. Wenn man auf das Schreiben zum Broterwerb angewiesen sei.

In der Homeoffice wäre das, auch im Schatten mit Blick auf Palmen, Grund genug für ein Magengeschwür. 5,20 Euro. Und wovon soll ich meine nächste Tankfüllung bezahlen? Nicht unbedingt Zollinger-Ellison-Syndrom, Magengeschwür aber sicher. Was mir seinerseits immerhin das Profil für die Securité im Flughafen von Marseille verschaffen könnte. Vermutlich auch nicht mehr als 5,20 Euro die Stunde.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr