Trou du cul

9. Januar 2018 Von Alleinerzieher

Sonn­tag, 18:46 Uhr. Im Auto mit Frau und Toch­ter. Der Sohn erwar­tet uns mit den Freun­den am Kino. Super Timing. Ganz sel­ten schaf­fen wir es, so punkt­ge­nau im Auto zu sit­zen. Immer hat jemand was in letz­ter Minute ver­ges­sen. Handy, Porte­mon­naie, Regen­schirm. Wir haben Kar­ten für "Les Heu­res Som­bres" um 19:15 Uhr. Pathé Liberté. Das Kino im Stadt­zen­trum. Ten­den­zi­ell anspruchs­vol­lere Filme und Direkt­über­tra­gun­gen aus der Haupt­stadt oder der Oper in New York zei­gen sie nur im Stadt­zen­trum. Im Schwes­ter-Kino der neuen Bil­lig-Mall Rich­tung Nizza liegt der Schwer­punkt mehr auf Block­bus­tern. "Star Wars", "Jumanji" und fran­zö­si­scher Humor. In Imax oder 4D. Der Chur­chill-Film gilt wohl als anspruchs­vol­ler. Nur im Stadt­zen­trum. Ins Zen­trum gelangt man am schnells­ten über die Auto­bahn. Wenn der Auto­bahn­tun­nel unter der Stadt nicht zu ist. Wenn der Tun­nel zu ist, muss man die Schleich­wege ken­nen oder gott­er­ge­ben auf ein Wun­der hof­fen. Gott­er­ge­ben ist meis­tens bes­ser, weil alle Ein­hei­mi­schen die Schleich­wege ken­nen.

Jetzt müss­test du schon fah­ren wie ein Arsch­loch, wenn wir das Kino noch schaf­fen wol­len, sagt meine Frau.

Sie hat recht. Tun­nel fermé. Acci­dent. Steht da. Der Tun­nel ist zu. Wegen Unfall. Rote Pfeile auf den Leucht­ta­feln über den drei Spu­ren wei­sen blin­kend nach rechts, auf die Aus­fahrt direkt vor dem Tun­nel. Viele Ver­kehrs­teil­neh­mer fol­gen früh­zei­tig die­ser Auf­for­de­rung. Eigent­lich ganz ver­wun­der­lich ange­sichts der im all­ge­mei­nen eher medi­ter­ra­nen Inter­pre­ta­tion der Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung. Die linke Spur ist rela­tiv frei. Ich weiß, was meine Frau meint. Auf dem Weg zur Oper ist unser Timing manch­mal pri­mär nicht gut. Handy, Kre­dit­karte, Tickets. Unter ver­hal­te­nem Pro­test mei­ner Frau sehe ich mich gele­gent­lich genö­tigt, mein Poten­tial zu medi­ter­ra­ner Aus­rei­zung der Ver­kehrs­re­geln unter Beweis zu stel­len. Der Pro­test mei­ner Frau auf dem Weg zur Oper, wie gesagt, eher ver­hal­ten. Zweck­dien­lich ver­hal­ten. Meine Frau würde mich nur ungern offen zum Regel­bruch auf­for­dern. Ich weiß auch so, was meine Frau meint. Meine Toch­ter auch. Meine Toch­ter ist wohl­erzo­gen. Der offene Regel­bruch ent­spricht nicht ihrem Natu­rell. Sie hätte sowieso lie­ber "Belle & Sebas­tian 3" geguckt.

Tu né vas pas faire ça! Das machst du nicht! Tu né vas pas encore con­du­ire comme un thug! Nicht schon wie­der!

Wieso eigent­lich "schon wie­der"? Wann schon über­trete ich mal Ver­kehrs­re­geln? Rot ist rot. Aus Prin­zip. Mit Kin­dern im Auto erst recht. Und Tempo fünf­zig ist Tempo fünf­zig. Plus zehn Pro­zent viel­leicht. Höchs­tens. Habe ich ande­rer­seits denn aktu­ell eine Wahl? In mei­nem Tele­fon ist der QR-Code für alle unsere Kino­plätze gespei­chert. Acht Plätze. Mein Sohn war­tet, die Freunde war­ten. Mein Sohn wollte die­sen Film unbe­dingt sehen, weil er diese Woche eine Klas­sen­ar­beit zum zwei­ten Welt­krieg hat. Seine Initia­tive. Muss man för­dern sowas. Tun­nel auf oder zu, Pfeile nach rechts hin oder her, ich habe keine Wahl. Die linke Spur ist gera­dezu frei. Voll­zo­gene Inte­gra­tion mani­fes­tiert sich auf der lin­ken Spur.

Papa!

Herr Diehl!

Meine Frau hat auch keine Wahl. Sie muss offi­zi­ell Pro­test ein­le­gen. Das ist sie ihren teu­to­ni­schen Genen schul­dig. Und ihrer Rolle als Erzie­hungs­be­rech­tig­ter.

Was? Wol­len wir nun recht­zei­tig ins Kino kom­men oder nicht?

Natür­lich wol­len wir recht­zei­tig ins Kino kom­men. Ist ohne­hin nicht mehr weit bis zur Aus­fahrt, ein knap­per Kilo­me­ter viel­leicht noch. Die Aus­fahrt ist das Nadel­öhr. Gleich nach dem Nadel­öhr gibt es drei neue Spu­ren.

Blau­licht im Rück­spie­gel, Not­arzt, Feu­er­wehr. Vor­ne­weg bahnt ein Klein­wa­gen baye­ri­scher Pro­duk­tion mit Licht­hupe den Weg, um kurz vor der Sper­rung rechts ein­zu­sche­ren. Das ist fort­ge­schrit­tene Inte­gra­tion. Soweit bin ich noch nicht. Passt auch nicht zur Fami­li­en­kut­sche. Hin­ter dem Blau­licht ist die Bahn auch frei. Das wie­derum kann ich.

Papa!

Herr Diehl!

Was? Wol­len wir nun recht­zei­tig ins Kino kom­men oder nicht?

19:02 Uhr in der Ein­gangs­halle des Kinos. Als wäre nichts gewe­sen.

Excep­ti­on­nel­lement. Aus­nahms­weise. Aber nächs­tes Mal die Aus­weise nicht ver­ges­sen! Dem Kar­ten­prü­fer am Zugang zu den Sälen war schon aus der Ent­fer­nung anzu­se­hen, dass er Ärger machen würde. Diese Gesichts­haar­tracht ist ein Warn­zei­chen. "Gewerk­schaf­ter­b­art" heißt das bei wiki­pe­dia. Nor­ma­le­ment, eigent­lich, dürf­ten die Kin­der ohne ent­spre­chende Aus­weise nicht ins Kino. Ich kann ja auch nichts dafür, Anwei­sung der Direk­tion. Die Kin­der sol­len per Aus­weis bele­gen, dass sie zurecht vom jeweils ermä­ßig­ten Tarif pro­fi­tie­ren. Ehr­lich? Sieht man das nicht? Sehen mein Sohn und sein Freund nicht aus wie col­lé­gi­ens? Meine 12jährige Toch­ter und ihre Freun­din nicht wie unter vier­zehn?

Bei­nahe wäre trotz lang­wie­ri­ger Ver­hand­lun­gen mein selbst­lo­ser Ein­satz auf der Straße hin­fäl­lig gewe­sen.

Die Mut­ter des Freunds und der Freun­din, Vio­lo­nis­tin an der Oper, ist außer sich. So kenne ich sie gar nicht. Dem­nächst krie­gen die Kin­der nicht mal mehr eine Cola ohne Aus­weis! Wünscht dem Kar­ten­le­ser auf dem Weg nach Saal 6 alles nur erdenk­li­che Unheil an den Hals. Wer schon mit sol­chen Haa­ren im Gesicht rum­läuft! Dabei hatte der nun ja auch keine Wahl. Anwei­sung der Direk­tion. Wozu wären sonst Vor­schrif­ten da? Trotz­dem, natür­lich hat sie recht. Pinail­leur, petit con pré­ten­tieux, trou du cul. Erb­sen­zäh­ler, Klug­schei­ßer, Arsch­loch.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.