Trou du cul

Sonntag, 18:46 Uhr. Im Auto mit Frau und Tochter. Der Sohn erwartet uns mit den Freunden am Kino. Super Timing. Ganz selten schaffen wir es, so punktgenau im Auto zu sitzen. Immer hat jemand was in letzter Minute vergessen. Handy, Portemonnaie, Regenschirm. Wir haben Karten für “Les Heures Sombres” um 19:15 Uhr. Pathé Liberté. Das Kino im Stadtzentrum. Tendenziell anspruchsvollere Filme und Direktübertragungen aus der Hauptstadt oder der Oper in New York zeigen sie nur im Stadtzentrum. Im Schwester-Kino der neuen Billig-Mall Richtung Nizza liegt der Schwerpunkt mehr auf Blockbustern. “Star Wars”, “Jumanji” und französischer Humor. In Imax oder 4D. Der Churchill-Film gilt wohl als anspruchsvoller. Nur im Stadtzentrum. Ins Zentrum gelangt man am schnellsten über die Autobahn. Wenn der Autobahntunnel unter der Stadt nicht zu ist. Wenn der Tunnel zu ist, muss man die Schleichwege kennen oder gottergeben auf ein Wunder hoffen. Gottergeben ist meistens besser, weil alle Einheimischen die Schleichwege kennen.

Jetzt müsstest du schon fahren wie ein Arschloch, wenn wir das Kino noch schaffen wollen, sagt meine Frau.

Sie hat recht. Tunnel fermé. Accident. Steht da. Der Tunnel ist zu. Wegen Unfall. Rote Pfeile auf den Leuchttafeln über den drei Spuren weisen blinkend nach rechts, auf die Ausfahrt direkt vor dem Tunnel. Viele Verkehrsteilnehmer folgen frühzeitig dieser Aufforderung. Eigentlich ganz verwunderlich angesichts der im allgemeinen eher mediterranen Interpretation der Straßenverkehrsordnung. Die linke Spur ist relativ frei. Ich weiß, was meine Frau meint. Auf dem Weg zur Oper ist unser Timing manchmal primär nicht gut. Handy, Kreditkarte, Tickets. Unter verhaltenem Protest meiner Frau sehe ich mich gelegentlich genötigt, mein Potential zu mediterraner Ausreizung der Verkehrsregeln unter Beweis zu stellen. Der Protest meiner Frau auf dem Weg zur Oper, wie gesagt, eher verhalten. Zweckdienlich verhalten. Meine Frau würde mich nur ungern offen zum Regelbruch auffordern. Ich weiß auch so, was meine Frau meint. Meine Tochter auch. Meine Tochter ist wohlerzogen. Der offene Regelbruch entspricht nicht ihrem Naturell. Sie hätte sowieso lieber “Belle & Sebastian 3” geguckt.

Tu ne vas pas faire ça! Das machst du nicht! Tu ne vas pas encore conduire comme un thug! Nicht schon wieder!

Wieso eigentlich “schon wieder”? Wann schon übertrete ich mal Verkehrsregeln?  Rot ist rot. Aus Prinzip. Mit Kindern im Auto erst recht. Und Tempo fünfzig ist Tempo fünfzig. Plus zehn Prozent vielleicht. Höchstens. Habe ich andererseits denn aktuell eine Wahl? In meinem Telefon ist der QR-Code für alle unsere Kinoplätze gespeichert. Acht Plätze. Mein Sohn wartet, die Freunde warten. Mein Sohn wollte diesen Film unbedingt sehen, weil er diese Woche eine Klassenarbeit zum zweiten Weltkrieg hat. Seine Initiative. Muss man fördern sowas. Tunnel auf oder zu, Pfeile nach rechts hin oder her, ich habe keine Wahl. Die linke Spur ist geradezu frei. Vollzogene Integration manifestiert sich auf der linken Spur.

Papa!

Herr Diehl!

Meine Frau hat auch keine Wahl. Sie muss offiziell Protest einlegen. Das ist sie ihren teutonischen Genen schuldig. Und ihrer Rolle als Erziehungsberechtigter.

Was? Wollen wir nun rechtzeitig ins Kino kommen oder nicht?

Natürlich wollen wir rechtzeitig ins Kino kommen. Ist ohnehin nicht mehr weit bis zur Ausfahrt, ein knapper Kilometer vielleicht noch. Die Ausfahrt ist das Nadelöhr. Gleich nach dem Nadelöhr gibt es drei neue Spuren.

Blaulicht im Rückspiegel, Notarzt, Feuerwehr. Vorneweg bahnt ein Kleinwagen bayerischer Produktion mit Lichthupe den Weg, um kurz vor der Sperrung rechts einzuscheren. Das ist fortgeschrittene Integration. Soweit bin ich noch nicht. Passt auch nicht zur Familienkutsche. Hinter dem Blaulicht ist die Bahn auch frei. Das wiederum kann ich.

Papa!

Herr Diehl!

Was? Wollen wir nun rechtzeitig ins Kino kommen oder nicht?

19:02 Uhr in der Eingangshalle des Kinos. Als wäre nichts gewesen.

Exceptionnellement. Ausnahmsweise. Aber nächstes Mal die Ausweise nicht vergessen! Dem Kartenprüfer am Zugang zu den Sälen war schon aus der Entfernung anzusehen, dass er Ärger machen würde. Diese Gesichtshaartracht ist ein Warnzeichen. “Gewerkschafterbart” heißt das bei wikipedia. Normalement, eigentlich, dürften die Kinder ohne entsprechende Ausweise nicht ins Kino. Ich kann ja auch nichts dafür, Anweisung der Direktion. Die Kinder sollen per Ausweis belegen, dass sie zurecht vom jeweils ermäßigten Tarif profitieren. Ehrlich? Sieht man das nicht? Sehen mein Sohn und sein Freund nicht aus wie collégiens? Meine 12jährige Tochter und ihre Freundin nicht wie unter vierzehn?

Beinahe wäre trotz langwieriger Verhandlungen mein selbstloser Einsatz auf der Straße hinfällig gewesen.

Die Mutter des Freunds und der Freundin, Violonistin an der Oper, ist außer sich. So kenne ich sie gar nicht. Demnächst kriegen die Kinder nicht mal mehr eine Cola ohne Ausweis! Wünscht dem Kartenleser auf dem Weg nach Saal 6 alles nur erdenkliche Unheil an den Hals. Wer schon mit solchen Haaren im Gesicht rumläuft! Dabei hatte der nun ja auch keine Wahl. Anweisung der Direktion. Wozu wären sonst Vorschriften da? Trotzdem, natürlich hat sie recht. Pinailleur, petit con prétentieux, trou du cul. Erbsenzähler, Klugscheißer, Arschloch.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.