Meeresfrüchte

2015-11-01 1009 (Île des Embiez)

Pierre-Marie auf dem Display des Telefons! Das verhieß nichts Gutes! Wenn Pierre-Marie anruft, ist er wahrscheinlich sauer. Sonst kommunizieren wir monatelang nur per Mail.

Was war das denn?

Was war was?

Da war was und dann war es wieder weg.

Er hatte es also gemerkt. Ich hatte aus einem Nachmittag auf einer der Îles des Embiez vor Six-Fours-les-Plages einen kleinen Text mitgebracht und ein Bild. Ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr es hier habt. Zitat meines Schwiegervaters. Sagt er immer wieder, wenn er hier ist. Ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr es hier habt. Der Text gestern Nachmittag keine zwanzig Zeilen. Und irgendwie langweilig. Ich nahm ihn eine Stunde später wieder von der Seite. Jetzt mußte ich mich auf eine Moralpredigt von Pierre-Marie einstellen. Pierre-Marie ist mein Lektor.

Hat mir dann doch nicht gefallen. Zu kurz. Zu langweilig.

Genau. Wenn zu kurz mal alles wäre. Kein Inhalt. Blauer Himmel, Zikaden, Alkohol dazu. Provençalische Stereotypen. Dein Schwiegervater sagt was. Das reicht doch nicht! Selbst wenn dein Schwiegervater der größte Bildhauer Norddeutschlands ist.

Ich hab’s ja gemerkt!

Ein bißchen spät, finde ich! Vorher merken wäre schöner! Vielleicht sogar den Lektor gegenlesen lassen? Ich hätte dir schon meine Meinung dazu gesagt! Das nächste Mal einfach nur ein mittelmäßiges Bild vielleicht? Oder ein Katzenvideo? Mit ein paar Smileys dazu?

Pierre-Marie kennt meine Abneigung gegen Smileys. Abgrundtief. Um mich zu ärgern, schickt er mir manchmal Mails mit zeilenweise Smileys. Manche wackeln. Weinen. Zwinkern. Winken. Unglaublich komisch. Besser nicht auf diesen Tiefschlag eingehen.

Das haben vielleicht zehn, zwanzig Leute angeklickt, mehr waren das bestimmt nicht. Du solltest das nun wirklich nicht überbewerten!

Und das Bild! Eine Katastrophe! Algen! Nur Kiesel. Wenn es schon eine leere Flasche im Gegenlicht sein muß, gab’s da keinen Sand dazu? Und der Horizont war wohl auch schon betrunken!

Das merkt doch keiner!

Wenn sogar ich den schiefen Horizont sehe! Du bist wohl immer noch noch unter billigem Fusel?

Wenn Pierre-Marie erstmal in Fahrt gekommen ist, lässt er sich nur sehr schwer wieder bremsen. Vor ein paar Monaten ist er in einem Café ausgerastet. Hat solange rumgeschrien, bis uns der Kellner aufforderte, unsere “Besprechung” doch bitte im Außenbereich fortzuführen. Und das wegen ein paar Satzzeichen!

Erstens: Den Horizont lasse ich mir von meinem Sohn geraderücken. Der kann sowas. Zweitens war das kein billiger Fusel. Das war ein Chablis. Nicht billig. Eine Flasche nur. Und ziemlich gut. Und drittens hatte ich gestern Dienst.

Seit wann hält dich Dienst vom Trinken ab?

Okay, okay, jetzt lass’ mal gut sein! Was soll ich jetzt machen?

Lies’ es nochmal durch und denk’ Dir noch ein paar Zeilen aus. Mehr zum Schwiegervater, mehr zu der Insel. Irgendwas.

Mein Schwiegervater, als er uns noch regelmäßig zum Arbeiten besuchte, pflegte ebenso regelmäßig zu sagen, mit einem Seufzen, auf der Terrasse, unter Palmen, dem Einfluß einer kleinen Flasche eines lokalen Rosé und dem Gesang der Zikaden: Kinder, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr es hier habt. Das ist natürlich eine rhetorische Aussage. Wir wissen ganz genau, wie gut wir es hier haben. Nicht nur auf der Terrasse. Unter der Sonne eines 1. November noch am Strand zum Beispiel. Das Meer fast zwanzig Grad warm. Mit einem guten Dutzend selbst vom Fels geernteter Seeigel. Frischer geht nicht. Mit Baguette und Butter. Sonst nichts. Außer vielleicht, ich gebe es zu, ein paar Gläschen eines schönen Chablis.

Mein Schwiegervater geht nicht gerne an den Strand. Er liebt andererseits Meeresfrüchte. Den Chablis sowieso. Mit frischem Seeigel an Baguette und Butter, unter dem Einfluß von ein paar Gläschen eines schönen Chablis, könnte er vemutlich nicht umhin, sogar auf kleinem Kiesel am Strand, zu seufzen: Kinder, ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr es hier habt!

Oder ich lass’ den Text mit dem Schwiegervater einfach so. Das geht.

 


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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