Schschsch!

Freitag, 8:24 Uhr.

Ich bin zuständig für die Säle drei und vier. Zweimal HNO. Beide Säle wie ausgestorben. Es muß aber schon jemand da gewesen sein. Die OP-Leuchten sind eingeschaltet und der Narkosemonitor in Saal 3 gibt verzweifelt Alarm, weil er keine Daten empfängt und er glauben muß, daß sich das zu überwachende Subjekt in ernsthafter Gefahr befindet. Außerdem liegen ein paar chirurgische Gerätschaften auf einem grün dekorierten Tisch in der Ecke. Saal vier das gleiche Bild. Also wahrscheinlich Kaffeeküche. Et voilà, da sind sie alle! Bisous erstmal. Ça va bien? Hast du Dienst am Wochenende? In welchem Saal bist du heute? Und hat schon jemand die Chirurgen für Saal 3 und 4 angerufen? – Der Chef  – le cadre – wollte sich darum kümmern! Der Cadre ist im Aufwachraum. Unterwegs mit einem kleinen Stapel Papier. Ein Dossier vermutlich. Cadres sind die mit Dossiers in der Hand. Es gibt unglaublich viele Cadres für das Pflegepersonal. Ausgeprägte hierarchische Struktur. Pflegedienstleiterin, Stellvertreter, Cadres für jede Station. Der Kreißsaal braucht sogar zwei Cadres. Wenn die sich nicht gerade in ihren tageslichtdurchfluteten Büros verstecken, wandeln sie mit einen Stapel Papier in der Hand über die Flure. Wenn gerade kein bedrucktes Papier zur Hand ist, reicht auch ein wichtig gezückter Kugelschreiber. Bevorzugt halten sie sich außerhalb ihrer Station auf. Obwohl allesamt sehr gut ausgebildete Pflegekräfte, haben sie seit Jahren schon keinen echten Patientenkontakt mehr. Cadres eben. Manchmal sieht man sie in Gruppen auf Korridorkreuzungen. Plaudern zu zweit, gerne zu dritt, selten vier oder mehr. Vier oder mehr wäre schon eine Réunion. Réunion braucht einen Saal in der Verwaltungsetage. Und ein Thema. Geht aber auch ohne echten Anlaß. Hauptsache Saal. Wenn man erstmal in einem Saal mit Tisch und weichen Sesseln sitzt, findet sich schon auch was zu bereden. Während der Woche wird die Réunion bevorzugt anberaumt von zwei bis vier, am Freitag besser von zehn bis zwölf. Wichtig ist immer der direkte Übergang in den Feierabend oder zumindest in die Mittagspause. Der leitende OP-Pfleger, mit dem obligaten Dossier in der Hand, ist auf dem Weg in eine Réunion. Ziemlich früh eigentlich. Wahrscheinlich muß er seinem Dossier noch den nötigen Feinschliff verpassen. Ein Zufall, daß ich ihn noch im Aufwachraum antreffe. Daß er jetzt noch Chirurgen finden muß, paßt ihm gar nicht ins Konzept. Muß ich jetzt auch noch für die HNO-Doktoren den roten Teppich ausrollen, fragt er und deutet auf sein Dossier, als ob ich nicht schon genug zu tun hätte! Widerwillig telefoniert er dann doch.

In Saal drei ist inzwischen mein Patient angekommen. Mit den Schwestern. Valérie für die Chirurgin, die angeblich heute schon jemand gesehen hat, und Suzy von der Anästhesie. Mein Patient ist ein siebenjähriger Junge und soll an den Mandeln operiert werden. Er ist erstaunlich ruhig für den herrschenden Lärmpegel. Valérie und Suzy haben sich viel zu erzählen. Und weil sie beide viel und gleichzeitig zu erzählen haben, müssen sie laut genug reden, um sicher gehört zu werden. Dazu der Monitor, der immer noch Alarm gibt.

Schschsch!

Hilft zwei Minuten. Suzy drückt den gelben Knopf zur Alarmunterdrückung. So eine Ruhe! Stille geradezu. Der kleine Patient wird an den Monitor angeschlossen, bekommt eine Maske auf Mund und Nase. Er hat sich Zitronengeruch gewünscht. Mädchen bevorzugen Erdbeere. Er muß in die Maske pusten, weil das eine gelbe Linie auf den Monitor macht. Je mehr er pustet, desto schöner ist die Kurve. Macht er wunderbar und sehr engagiert. Dann aber ist der Zitronengeruch plötzlich weg und es riecht mehr nach Chemie. So gefällt ihm das Kurvenspiel auch nicht mehr wirklich und er wird unruhig.

In diesem Moment betritt Marie-Élise den Saal. Marie-Élise ist die Chirurgin. Marie-Élise ist bekannt dafür, daß sie auch sehr viel zu erzählen hat. Und sich Gehör zu verschaffen weiß. Mit Suzy und Valérie wächst sich das schnell zum akustischen Tsunami aus.

Schschsch wirkt nur noch dreißig Sekunden.

Wichtig ist dabei vor allem, daß man den kleinen Patienten nicht aus den Augen läßt. Der Monitor würde sich vergeblich um Aufmerksamkeit bemühen.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr


3904 Zeichen für Ailas Juli-Heft 2017:

Ich bin zuständig für die Säle drei und vier. Zweimal HNO. Beide Säle wie ausgestorben. Es muss aber schon jemand da gewesen sein. Die OP-Leuchten sind eingeschaltet und der Narkosemonitor in Saal 3 gibt verzweifelt Alarm, weil er keine Daten empfängt und er glauben muss, dass sich das zu überwachende Subjekt in ernsthafter Gefahr befindet. Außerdem liegen ein paar chirurgische Gerätschaften auf einem grün dekorierten Tisch in der Ecke. Saal vier das gleiche Bild. Also wahrscheinlich Kaffeeküche. Et voilà, da sind sie alle! Bisous erstmal. Ça va bien? Hast du Dienst am Wochenende? In welchem Saal bist du heute? Und hat schon jemand die Chirurgen angerufen? Le cadre – der Chef – wollte sich darum kümmern!

Der Chef ist im Aufwachraum. Unterwegs mit einem kleinen Stapel Papier. Ein Dossier vermutlich. Chefs sind die mit Dossiers in der Hand. Es gibt unglaublich viele Chefs für das Pflegepersonal. Ausgeprägte hierarchische Struktur. Pflegedienstleiterin, Stellvertreter, Chefs für jede Station. Der Kreisssaal braucht sogar zwei Chefs. Wenn die sich nicht gerade in ihren tageslichtdurchfluteten Büros verstecken, wandeln sie mit einen Stapel Papier in der Hand über die Flure. Wenn gerade kein bedrucktes Papier zur Hand ist, reicht auch ein gezückter Kugelschreiber. Bevorzugt halten sie sich außerhalb ihrer Station auf. Obwohl allesamt gut ausgebildete Pflegekräfte, haben sie seit Jahren schon keinen echten Patientenkontakt mehr. Chefs eben. Manchmal sieht man sie in Gruppen auf Korridorkreuzungen. Plaudern zu zweit, gerne zu dritt, selten vier oder mehr. Vier oder mehr wäre schon eine Réunion, eine Besprechung. Für eine Besprechung braucht man einen Saal in der Verwaltungsetage. Teppichboden, dezentes Ambiete. Und ein Thema. Geht aber auch ohne. Wenn man erstmal in weichen Sesseln um einen runden Tisch und sitzt, findet sich schon auch was zu bereden. Wichtiges Kriterium einer Besprechung ist der direkte Übergang in den Feierabend oder zumindest in die Mittagspause.

Der OP-Chef ist auf dem Weg in eine Besprechung. Ziemlich früh eigentlich. Er muss seinem Dossier noch den nötigen Feinschliff verpassen. Ein Zufall, dass ich ihn noch im Aufwachraum antreffe, sagt er. Passt ihm gar nicht ins Konzept. Muss ich jetzt auch noch für die HNO-Doktoren den roten Teppich ausrollen, fragt er und deutet auf sein Dossier, als ob ich nicht schon genug zu tun hätte! Widerwillig telefoniert er dann doch.

In Saal drei ist inzwischen mein Patient angekommen. Mit den Schwestern. Valérie und Suzy. Mein Patient ist ein siebenjähriger Junge und soll an den Mandeln operiert werden. Er gibt sich erstaunlich gelassen für den herrschenden Lärmpegel. Valérie und Suzy haben sich viel zu erzählen. Und weil sie beide viel und gleichzeitig zu erzählen haben, müssen sie laut genug reden, um sicher gehört zu werden. Dazu der Narkosemonitor, der immer noch Alarm gibt.

Schschsch!

Hilft zwei Minuten. Suzy drückt den gelben Knopf zur Alarmunterdrückung. So eine Ruhe! Stille geradezu. Der kleine Patient wird an den Monitor angeschlossen, bekommt eine Maske auf Mund und Nase. Er hat sich Zitronengeruch gewünscht. Mädchen bevorzugen Erdbeere. Er muss in die Maske pusten, weil das eine gelbe Linie auf den Monitor macht. Je mehr er pustet, desto schöner ist die Kurve. Macht er wunderbar und sehr engagiert. Dann aber ist der Zitronengeruch plötzlich weg und es riecht mehr nach Chemie. So gefällt ihm das Kurvenspiel auch nicht mehr wirklich und er wird unruhig.

In diesem Moment betritt Dominique den Saal. Dominique ist die Chirurgin. Sie ist bekannt dafür, dass sie auch sehr viel zu erzählen hat. Und sich Gehör zu verschaffen weiß. Mit Suzy und Valérie wächst sich das schnell zum akustischen Tsunami aus.

Schschsch wirkt nur noch dreißig Sekunden.

Wichtig ist dabei vor allem, dass man den kleinen Patienten nicht aus den Augen lässt. Der Monitor würde sich vergeblich um Aufmerksamkeit bemühen.