Schade eigentlich

Eine Landstraße vom Dorf direkt an der Küste zum Dorf in zweiter Reihe. Mäandert knapp zweispurig durch üppiges Grün. Anlieger sind eine hochpreisige Baumschule und ein paar Biobauern, die mißmutig zahlungskräftigen Kunden teilkompostierte Tomaten der Vorwoche in Papptüten zu verkaufen suchen. Dreißig Prozent des Wohnraums im Dorf an der Küste, darunter exklusive Anwesen mit Direktblick Richtung Afrika, sind Zweitresidenzen. Menschen aus Paris und Lyon, ein paar Engländer. Die kaufen auch Biokompost direkt vom übellaunigen Erzeuger. Die Mißmutigkeit scheint Teil des Geschäftsprinzips zu sein. Die Aufzucht von Biogemüse ohne Pestizide ist eben ein mühsames Unterfangen. Meine Frau kauft hier nicht mehr, die Straße aber ist schön zum Radfahren. Schattig.

Unmittelbar rechts und links der Straße finden sich tiefe Gräben, das flache Land zwischen dem Dorf direkt an der Küste und dem in zweiter Reihe gilt als Überschwemmungsgebiet. Die Höchstgeschwindigkeit ist auf fünfzig Stundenkilometer limitiert. Das hält eilige Kleinlaster jedoch nicht von gewagten Überholmanövern bei deutlich höherer Geschwindigkeit ab. Die dürften hier, schwerer als 2,5 t, ohnehin nicht fahren. Ich wundere mich immer wieder, daß hier nicht öfter mal Autos im Graben liegen. Freunde, die wir über diese Strecke lotsen, steigen am Strand schweißgebadet aus ihrem A6 aus. Gibt’s da keinen anderen Weg? Auf halber Strecke finden sich zwei dicht aufeinanderfolgende Engstellen, die eine mit entsprechender Beschilderung zur Regelung der Vorfahrt, die andere ohne Beschilderung, dafür unübersichtlich. Zwischen den beiden Engstellen ist die Straße eigentlich auch zu schmal für Gegenverkehr. Eine Ausweichmöglichkeit ist nur an einer Stelle vorgesehen, eine Parkbucht von den Ausmaßen eines zweitürigen Kompaktwagens.

Neulich stellte ich mir vor, meinen neuen Siebensitzer mit Mogelmotor von Volkswagen im Graben neben der Straße zu versenken. Abgedrängt vom flüchtigen Kleinlaster. Zum Beispiel. Auf der Basis eines Vollkasko-Ereignisses. Wirtschaftlicher Totalschaden. Wäre zumindest ehrlicher als die neuesten Gedankenspiele des Schummelkonzerns. Rücknahme statt Nachbesserung. Und dann könnte man die zurückgenommenen, “alten Wagen außerhalb der EU verkaufen, etwa in der Türkei oder in Afrika.” Schreibt SPIEGEL ONLINE. Ließe einen tiefen Blick zu in eine scheinheilige Welt der Automobilindustrie. In Afrika sind Stickoxide ungefährlich.

Freitag Morgen halb zehn. Ich hatte Dienst und befinde auf dem Rückweg nach Hause. Und dann: Stau! Stau auf der Landstraße zwischen dem Dorf direkt an der Küste zum Dorf in zweiter Reihe. An einem Freitag Morgen um halb zehn. Stau! Ist mit dem Fahrrad nicht weiter schlimm. Auf der Gegenspur ist Platz genug, an den vielleicht zwanzig wartenden Fahrzeugen vorbeizufahren. Es gibt nicht mal Gegenverkehr. Es handelt sich trotzdem ganz offensichtlich um eine Baustelle. Ganz vorne steht ein Herr in offiziellem Bauarbeiter-Outfit – Blaumann, Signalweste, Helm – von der Statur eines Rugby-Spielers mit Schaufel und Schild mitten auf der Straße. Er zeigt uns die rote Seite seines Schilds. Die Baustelle ist wahrscheinlich hinter der Kurve. Die Fahrzeuge ganz vorne stehen offenbar schon länger. Die Fahrer haben die Motoren abgestellt. Ich wage den Versuch, das rote Schild zu Fuß zu passieren, schiebe mein Rad in Richtung des Bauarbeiters. Der deutet mit dem Stiel seiner Schaufel auf das Rot seines Schilds. Wortlos. Das heißt: Kein Verhandlungsspielraum. Mit seiner Schaufel ist er am längeren Hebel, ganz klar. Selbst wenn er selbst mich nicht damit erwischen würde, ich müßte mich spätestens seinem Pendant am anderen Ende der Baustelle stellen. Zudem könnte das Manöver zwischen den Schildern vielleicht doch gefährlich sein. Obwohl nichts zu hören ist. Kein Lastwagenmotor, kein Bagger. Nichts. Nach wie vor kein Gegenverkehr. Vollsperrung. Wenn da ein Wagen aus dem Graben zu zerren sein sollte, kann das noch lange dauern. Vielleicht sollte ich doch umkehren. Aber, wie gesagt, nicht das geringste Anzeichen auf den Einsatz schweren Geräts. Ruhige Stimmen von jenseits des Schilds, mehr nicht.

Ich warte mit den Autos. Ein Motorrad von hinten. Macht Anstalten, sich am Schildträger vorbeimogeln zu wollen. Die Geste Schaufel an rotem Schild kenne ich schon. Reicht auch dem Motorradfahrer als Argument.

Ça va encore durer?

Non, non, ça n’va pas tarder. T’inquiète!

Gleich geht’s weiter. Kein Grund zur Beunruhigung. Alles ist ruhig. Vogelgezwitscher. In der Ferne ein Zug auf der Strecke nach Nizza. Musik aus Autoradios. Von weiter hinten gelegentliches, ungeduldiges Dauerhupen. Wendemanöver. Das ist mühsam und langwierig auf der engen Straße mit den metertiefen Gräben zu beiden Seiten. Fünf Minuten später noch ein Motorrad. Immer noch Rot.

Ça va encore durer?

Non, non, ça n’va pas tarder. T’inquiète!

Keine fünf Minuten später dreht der Bauarbeiter tatsächlich sein Schild auf grün und tritt zur Seite. Ganz unvermittelt. Autos starten mit aufheulenden Motoren und quietschenden Reifen. Und kommen nur wenig später wieder zum Stehen. Aus der Ausweichbucht von den Ausmaßen eines zweitürigen Kompaktwagens ragt links ein Kleinlastwagen bis in die Mitte der Fahrbahn. Dahinter die Fahrzeuge aus der Gegenrichtung. Die Rugby-Spieler mit Schaufel, scheint es, haben ihre Schilder zeitgleich auf Grün gedreht.

Da entwickelt sich ausgezeichnetes Potential für ein Vollkasko-Ereignis bis hin zum wirtschaftlichen Totalschaden im Rahmen einer cholerischen Krise. Das würde jede Versicherung verstehen.

Schade eigentlich.


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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