Letztes Wochenende also ein Auftritt im “Tatort”. Muß wohl stark an eine kalifornische Inszenierung erinnert haben. Organisierte Kriminalität, entführte Tochter. Panzerfaust. Und das in Hamburg. War wohl nicht jedermanns Geschmack. Verhalten positive Rezeption. Ärger. Facebook. Bei Facebook darf ohnehin jeder alles veröffentlichen. Posten heißt das da wohl. Wenn die Redakteurin des ZEIT Magazins sich nicht online über die vielen Ausrufezeichen in Til Schweigers Post gewundert hätte, wäre mir dieser Post nicht aufgefallen. Ich habe erstens kein Konto bei Facebook und gehöre zweitens nicht zu Tils Freunden. Es ist richtig: Es wimmelt da nur so von Ausrufezeichen. Kompanieweise gruppiert. Auch viele Punkte. Auch kompanieweise. Sogar Vokale in normalen Worten – “viiiieel“. Das wirkt schon etwas pubertär. Oder, wie gesagt, Alkohol, Drogen, Ärger. Anna Kemper, die Redakteurin bei der ZEIT, stört sich ein bißchen am Inhalt des Posts, ganz subtil läßt sie Aversionen gegen den Schauspieler durchschimmern. Vor allem aber nimmt sie ihm den eklatanten Mißbrauch des Ausrufezeichens übel, befürchtet gar die ernsthafte Beschädigung der weltweiten Vorräte.
Liebe Frau Kemper!
Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Ausrufezeichen, ebenso wie die meisten bekannten Schriftzeichen, biologischem Hintergrund entstammen. Die Bestände verfügen, solange das Biotop selbst nicht ernsthaften Schaden nimmt, über ein dramatisches Regenerationspotential. Bedrohung erfährt das Ausrufezeichen vielmehr durch den evolutiven, aggressiven Vorsprung vonseiten relativ neu auftretender typographischer Phänomene.
In einer außerhalb der akademischen Fachgesellschaften leider nur wenig beachteten Arbeit zu Nomenklatur und Paläogenetik von Emoticons und Smileys konnte die Arbeitsgruppe um Marvin D. Riley vom St.-Quentin-Institute for Applied Typographic Sciences im neuseeländischen Wellington das Ausrufezeichen zusammen mit weiteren Satzzeichen anhand des gewonnen DNA-Materials als wahrscheinlichen Urkeim sämtlicher aktueller graphischer Textelemente identifizieren. Ursprünglich war das Vorkommen von Ausrufezeichen nach Erkenntnissen der Arbeitsgruppe auf einige wenige genetisch homogene Populationen weltweit beschränkt. Ihre Vermehrung fand und findet geschlechtlich vorwiegend innerhalb der gegebenen Populationen statt. So wie beim Menschen und der Kopflaus. Zum Beispiel. Paläogenetisch lassen sich dabei nur einige wenige Phänomene des Austauschs von Erbmaterial zwischen den Gruppen feststellen. Abgesehen von einigen wenigen lebensfähigen Mutationen wie Fragezeichen, Strichpunkt und vorwiegend im südwesteuropäischen und südamerikanischen Sprachraum beheimateten Variationen wie “¡” sowie “¿” konnten keine weiteren relevanten Entwicklungen nachgewiesen werden. Riley stellt eindrücklich die inzestuöse Genkonstellationen verschiedener Populationen dar. Diese sei jedoch ohne weitere Relevanz. Wobei vor allem das Ausrufezeichen neuzeitlich eine Tendenz zu prägnanter Fertilität aufweist. Das erklärt auch die Tatsache, daß Ausrufezeichen ganz selten nur paarweise anzutreffen sind. Meistens werden dann gleich drei oder mehr daraus. Oder, wie im Falle des Facebook-Posts von Herrn Schweiger, gleich ganze Rudel. Die Befürchtung, daß das Ausrufezeichen durch Mißbrauch zur Neige gehen könnte, ist somit völlig unbegründet. Im Gegenteil.
Erst durch mutwillige Verkreuzung anderer sekundärer typographischer Elemente wie Klammern, Minuszeichen und Doppelpunkten gewann die Evolution graphischer Textelemente an Dynamik. Genetisch unterscheiden sich die genannten Zeichen dabei nur durch erstaunlich wenige Gensequenzen vom Ausrufezeichen. Als Wegbereiter gelten das Smiley des Werbegrafikers Harvey Ball (1963) und die legendäre Codepage 437 von IBM (1981) mit dem weißen (☺︎) und schwarzen (☻) Smiley. Der Durchbruch zu evolutionärem Wildwuchs gelang mit Scott E. Fahlmann von der Carnegie Mellon University, Pittsburgh, Pennsylvania, USA. 1982. Sein Vorschlag der Zeichenkombinationen 🙂 (Doppelpunkt, Minus, Klammer zu) und 🙁 (Doppelpunkt, Minus, Klammer auf) sollte rhetorisch weniger begabten Wissenschaftlern ermöglichen, einen Beitrag eindeutig als scherzhaft beziehungsweise seriös zu klassifizieren. Um Mißverständnisse zu vermeiden.
Mittlerweile haben Emoticons und Emojis, in Japan auch Kaomojis, als typographische Elemente eine rasante Evolution durchlaufen und sind allenthalben und vielgestaltig in beinahe jeder Textform anzutreffen, insbesondere jedoch im Rahmen der Telekommunikation und im Bereich sozialer Medien. Dieses Umfeld scheint die kompakte Darstellung auch komplizierter Sachverhalte bei gleichzeitiger Reduktion orthographischer Ansprüche zu erzwingen. Sie ermöglichen auch tendenziell aphasischen, dysgraphischen und legasthenischen Teilnehmern die Illusion emotionaler Tiefe im Schriftgebrauch. Fortgeschrittenen Nutzern reicht die Kombination von zwei, drei Zeichen für die Darstellung komplexer Inhalte. Eine besondere Gefahr sei dabei dem Umstand zuzumessen, daß sich eine Vielzahl der Emoticons auch ohne gegengeschlechtlichen Partner zu vermehren in der Lage zu sein scheint. Parthenogenese. Mutter- und Tochtergeneration verfügen über identisches Genmaterial. Sinnbefreites, ubiquitäres Auftreten sei die Folge. Schreibt Marvin D. Riley.
Die neuseeländische Arbeitsgruppe schließt aus den gesammelten Befunden, daß der Fortbestand des Ausrufezeichens nicht etwa durch Mißbrauch, sondern durch evolutive Dominanz der Emoticons gefährdet sei. Die konsequente Umsetzung der Darwinschen Lehre. Als Wissenschaftlern sei ihnen eine persönliche Wertung nicht gestattet. Emoticons hätten eben ihre genetische Berechtigung. Nicht mehr und nicht weniger als zum Besipiel Kopflaus und HIV-Virus.
Vor dem Hintergrund dieser Arbeit muß man annehmen, daß wir Herrn Schweiger für seinen Post dankbar sein sollten. Oder Luna. Weil sie ganz offensichtlich ihrem Papa die sichere Beherrschung der Emoticon-Seiten auf seinem Telefon noch nicht nahebringen konnte.
p.s.:
Lesenswert zum Thema Rufzeichen-Inflation und Smiley-Hypokrisie der Artikel von Cosima Schmitt in ZEIT ONLINE vom 17. Januar 2016. Und dieser zu Emojis aus der ZEIT vom 7. Mai 2015. Gründlich recherchierter Hintergrund.
© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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