Parosmie
Banane. Ganz klar. Zur Auswahl hätte es noch Ananas, Orange und Zitrone gegeben. Ein Multiple Choice Test. Zwölf Gerüche in Sniffin’ Sticks. Der Professor hält mir Stifte, die aussehen wie dicke Filzstifte, unter die Nase und zeigt mir eine Karte dazu. Vier Gerüche zur Auswahl. Ich muß den richtigen auswählen. Banane, ganz klar, Antwort C. Banane. Der Professor macht ein Kreuz auf dem Auswertungsbogen. C.
Termin beim Parkinson-Professor. Renommierte Klinik südwestlich von Berlin. Bekannter von Studienkollegen. Der Professor sollte mir sagen, dass das kein Parkinson ist im Arm. Hätte mir gefallen. Zahnradphänomen und ein bisschen Intentionstremor bei bestimmten Bewegungen im Ellenbogen links – und nur da – passen auch zum Korsakow. Trinken Sie mal ein bißchen weniger. Ich trinke doch schon lange nichts mehr. Naja, nicht mehr soviel. Nicht mehr jeden Tag, meine ich. Meine Leberwerte sind super. Dann leben Sie eben mit dem Zahnradphänomen. Und die Bilder aus dem Kopf? Bei solchen Bildern kommt es auf präzise Einhaltung der Standards bei der Erstellung an, könnte er sagen, der Professor. Präzise, wäre ich ihm ins Wort gefallen, präzise! Die habe ich in Frankreich machen lassen, die Bilder, in Südfrankreich! Präzise und Südfrankreich, das passt gar nicht. Klar, könnte er sagen, der Professor, weiß ich doch, ich habe drei Jahre in Montpellier studiert, die Bilder können Sie im Prinzip vergessen. Wahrscheinlich liegt es doch einfach an Ihren maroden Halswirbeln. Kommen Sie doch in einem Jahr wieder, ach was, in fünf Jahren, wenn Sie immer noch was haben am Arm. Hätte der Professor gesagt haben können.
Der Beipackzettel von Azilect beschreibt eine Fülle von möglichen Nebenwirkungen, sehr häufig auftretende, mehr als ein Patient von zehn, bis gelegentlich, einer von tausend. Störungen der Impulskontrolle unter Therapie mit Azilect finden an mehreren Stellen im Beipackzettel Erwähnung. Ich zitiere: “Es gab Fälle von Patienten, die während der Einnahme von einem oder mehrerer Arzneimittel zur Behandlung der Parkinson-Krankheit, nicht in der Lage waren, dem Impuls, dem Trieb oder der Versuchung zu widerstehen, bestimmte Dinge zu tun, die Ihnen selbst oder anderen schaden können. Dies bezeichnet man als Impulskontrollstörungen. Bei Patienten, die das Präparat und/oder andere Arzneimittel zur Behandlung der Parkinson-Krankheit einnehmen, wurde folgendes beobachtet: zwanghafte Gedanken und impulsives Verhalten, starker Drang zur Spielsucht […], verändertes oder gesteigertes sexuelles Interesse und Verhalten, das Sie und andere stark beunruhigt, wie zum Beispiel ein gesteigerter Sexualtrieb.”
Wie Männer eben so sind. Wissen wir ja. Ich meine, spätestens, wenn die Impulskontrolle erstmal wegfällt. Neulich saß ich, spätabends, im Büro der Hebammen mit Nacima, ziemlich jung, ich könnte ihr Vater sein. Es gibt Grenzen, Impulskontrolle hin oder her. Obwohl, wer weiß, wenn sie mir was ins Ohr flüstern würde? Halluzinationen gehören auch zu den Nebenwirkungen, Kategorie sehr selten, ein Patient von zehntausend. Wir waren beide beschäftigt mit Papierkram, für eine Niederkunft macht das gefühlt hundert Seiten. Der Kinderarzt kam dazu, erstaunlich, fand ich, was hat der noch zu so später Stunde hier zu suchen? Er schloss die Tür zum Büro hinter sich, sagte bonjour und erzählte einen Witz. Ganz unvermittelt.
Der Professor hatte uns mit einem Bonjour in erstaunlich korrekter Aussprache begrüßt. Beim ungeübten Deutschen klingt bonjour meist wie Boschua. Professor eben, vermutlich mindestens viersprachig. Deutsch und Englisch sowieso, Französisch ein bisschen, bestimmt Spanisch. Ein paar Jahre wissenschaftlicher Aufenthalt in Barcelona, ließ er an geeigneter Stelle einfließen. Sehr professionelle Aura. Systematische Fragen zu Anamnese, Schwerpunkt Familienanamnese. Eltern, Brüder, Kinder. Beruf, Karriere, und wieso gerade Frankreich. Lebensgewohnheiten, Nikotin, Alkohol. Konstipation, Parasomnien? Alles wird notiert. Körperliche Untersuchung, die üblichen Spiele bis zu den Sehnenreflexen und Babinski. Kenne ich schon. Aus dem Studium noch. Links im Arm der Rigor. Der Vollständigkeit halber führt der Professor den der standardisierten Test des Geruchsinns durch.
Lakritz, Lavendel, Gras oder Nelke? Von diesen Gerüchen habe ich klare Vorstellungen. Der Stift riecht nach nichts. Nach nichts Bestimmtem, nichts, was ich definieren könnte. Nichts als Antwort geht nicht. Leder, Pilze, Geräuchertes, Sesamöl. Auch nichts. Ich muß raten. Womöglich würde mir es der Professor übelnehmen, wenn ich mich nach dem Verfallsdatum seiner Stifte zu erkundigte.
Ein Spermatozyt findet sich einsam wieder im Kopf eines Mannes. Kenn’ ich schon, sagte ich schnell. Nacima sagte nichts. Der Witz ging weiter. Wie um was zu sagen in unser konzentriertes Schweigen über den Papieren. Oder weil er den ganzen Tag schon nichts anderes denken konnte als diesen so wahnsinnig komischen Witz, war vielleicht auf einem der Radiosender gewesen am Morgen, Chérie FM oder NRJ. Die neigen zu sowas, nicht nur um die Frühstückszeit. Um halb acht morgens gerät die auch Schwätzergruppe bei Mistral FM, bei meinen Kindern beliebter Lokalsender von Toulon, gerne in eine schlüpfrige Stimmung. Immer, wenn ich mit den Kinder im Auto sitze zur Schule. Wieviel Prozent der Franzosen verwenden regelmäßig Sextoys? C’est quoi, fragt die Tochter dann von hinten, des sextoys?
Das Ergebnis war eindeutig. Sieben von zwölf Gerüchen habe ich nicht erkannt. Ab drei schöpft der Neurologe Verdacht. Für den Professor schien das allerdings nur noch das i-Tüpfelchen der Diagnose darzustellen. Es zählt vor allem natürlich die Klinik. Der Rigor, das Zahnradphänomen. Das reicht eigentlich schon zur Diagnosestellung. Auch die Grüße der Bekannten von früher, die ich einfließen ließ, um den Professor wohlwollend zu stimmen, konnten nicht an seiner Überzeugung rütteln. Idiopathisches Parkinsonsyndrom. Eine eher milde Verlaufsform zwar, aber, darauf sollte ich vorbereitet sein, die rechte Seite wäre früher oder später auch betroffen. Und nicht nur das. Im Wartezimmer waren in einer Regalwand eine ganze Reihe Broschüren zum Umgang mit der Krankheit exponiert. Themen wie Sport, Ernährung, Logopädie. Speichelfluß, Unruhe, Demenz. Die Broschüren vermitteln einen Eindruck von dem, was da noch alles kommen kann. Störungen der Impulskontrolle gehören da noch zu den kleinsten Übeln. Anlage einer Ernährungssonde. Bei Ausfluß von Speisebrei aus der Nase. Speisebrei. Aus der Nase. Der Professor fand beschwichtigende Worte. Außer Azilect erstmal keine Therapie. Er persönlich würde mit Azilect anfangen. Die Studien diesbezüglich seien nicht so eindeutig, der Nutzen wissenschaftlich nur tendenziell nachweisbar. Aus seiner Erfahrung würde Azilect Verbesserung bringen. Könnte man aber – aus wissenschaftlicher Sicht – auch guten Gewissens bleiben lassen. Klang ein bisschen nach Homöopathie. Was nicht so recht zu den Nebenwirkungen aus dem Beipackzettel passen mag.
Ich kannte ihn wirklich schon, den Witz. Nicht richtig witzig, gar nicht witzig eigentlich. Was soll das schon werden, wenn Spermatozyten drin vorkommen? Im Witz, meine ich. Der Kinderarzt liegt altersmäßig ungefähr in meiner Generation, obwohl er sich gerne ausgesprochen jugendlich gibt mit zerschlissenen Jeans zu offenen Birkenstocks, kleinem Pferdeschwanz und selbstgebasteltem Saiteninstrument. Ob er damit seinen kleinen Patienten was von Spermatozyten vorsingt? Könnte trotz betonter Jugendlichkeit einen normalen Parkinsonkandidaten abgeben. Vielleicht schon länger unter Azilect. So fängt’s womöglich an, dachte ich, wenn die Impulskontrolle verlorengeht zwischenzeitlich. Mit peinlichen Witzen. Persönlich werde ich versuchen, peinliche Witze auszulassen. Witze überhaupt am besten.
Auf dem Weg zum Flughafen versuchte meinte Frau mich zu trösten, sie hätte vermutlich genauso schlecht abgeschnitten im Riechtest. Ich habe keine Ahnung, warum sie das vermutet, viele Gerüche waren ja nun wirklich eindeutig. Den Fisch aus dem Sniffin’ Stick Nummer 12 hatte ich zuhause noch in der Nase.
Parosmie.
© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.
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