Nathatlon

Der Papa von Paul trägt ein T-Shirt “Officiel”, blau auf weiß. Er bedient die rote Blechkiste auf dem Plastikstuhl jenseits der Barriere vor mir. Grüner Plastikstuhl. Verblichenes Grün, deutliche Gebrauchsspuren. Die rote Kiste ist so groß wie ein großer Schuhkarton, Bergstiefel Größe 48. Mit einem schwarzen Tragegriff obenauf, dimensioniert für mindestens zehn Kilogramm. Außerdem eine Leuchte in Warnorange. Es handelt sich um ein Gerät der Firma Swiss Timing. Start Time III. Plastikstuhl und Schuhkarton passen zum technischen Niveau des Schwimmbads, Piscine “Port marchand“, Toulon. 25-Meter-Becken in der Halle. Tropenklima. Wahrscheinlich 26 Grad. Gefühlt 32. Sicher hundert Prozent Luftfeuchtigkeit. An einer der Längsseiten die Tribüne. Vier Stufen nackter Beton. Wenn man nicht ganz oben sitzt, kann man sich nicht anlehnen. Hat stattdessen ständig die nackten Füße anderer Familienangehöriger im Rücken. Mit der Zeit sagen sie nicht einmal mehr Pardon.

Nathatlon heißt die Veranstaltung. Insgesamt sind über vier Termine zehn Disziplinen zu schwimmen. Die vier Schwimmstile über verschiedene Distanzen. Ihre Resultate gereichten der Tochter letztes Jahr zur Qualifikation für ein regionales Ereignis in Fos sur Mer.

Durch die Glasfront gegenüber der Tribüne öffnet sich die Sicht auf den Hafen von Toulon unter grauem Himmel. Ein Schiff von Corsica Ferries schiebt sich, ganz nah und groß, von rechts nach links durchs Bild. Und die Charles-de-Gaulle ist mal wieder da. Der Flugzeugträger. Liegt vor Anker rechts, zur Stadt hin. Wartungsarbeiten. Soll achtzehn Monate dauern. Kostet eine Milliarde Euros. Soll dann aber technisch auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts sein. Achtzehn Monate, wenn niemand streikt bis dahin. Dieser Flugzeugträger erinnert so ein bißchen an das Projekt des Hauptstadtflughafens in Berlin. Fass ohne Boden. Als ob Frankreich nicht genug wirkliche Probleme hätte. Immerhin aber schwimmt das Ding.

Die rote Kiste von Pauls Papa verfügt über ein paar Schalter und eine ganze Reihe verschiedener Anschlüsse. Ein multifunktionales Gerät schweizerischer Präzisionsarbeit. Pauls Papa entwirrt gut zehn Meter weißen Kabels und schließt ein klobiges Handgerät, rot und schwarz, mit zwei Knöpfen, rot und grün, an der Buchse “microphone” an. Während des Aufwärmens werden die Medaillen für die Wettkämpfe vom Vormittag verteilt. Eine Silbermedaille für den Sohn, Gold, Silber und Bronze für die Tochter. Die Tochter ist ehrgeiziger, obwohl fast jedem Training exzessive Diskussionen zu Sinn und Zweck vorangehen. Präpubertär. Zu anstrengend, keine Lust sowieso. Schwimmen nächstes Jahr ohne mich. Lieber Tennis. Oder Gymnastik. Oder nur noch Reiten. Wie auch immer, kein Schwimmen. Verstehe ich sehr gut. Es gibt kaum etwas Langweiligeres als Schwimmen.

Die Maschine verstärkt das “à vos marques”, auf die Plätze, von Pauls Papa auf Hallenlautstärke und produziert unmittelbar im Anschluß auf Knopfdruck, grüner Knopf, ein Tröten. Dazu ein kurzes Aufblitzen der Warnleuchte. In anderen sportlichen Einrichtungen des Départements muß der Officiel ohne Lautsprecherkiste auskommen. Als Hilfsmittel gibt es dort nur Trillerpfeifen. Im Schwimmsportkomplex Port marchand gibt es auch ein beheiztes Außenbecken beinahe olympischer Abmessungen. Kann leider nicht mal für Wettbewerbe auf Distriktsniveau verwendet werden. Der Architekt hatte die Materialstärke der Fliesen nicht oder falsch kalkuliert. Nun fehlen ein paar Zentimeter auf fünfzig Meter. Beinahe olympisch. Aber beheizt. Im neuen Flughafen von Berlin sollen die Rolltreppen eine Stufe zu kurz sein. Und die Klimaanlage funktioniert auch noch immer nicht richtig.

Das erste à vos marques mit Tröte und Leuchte von Pauls Papa an diesem Nachmittag gilt den achthundert Metern Freistil Messieurs. Um den Wettbewerb angesichts zahlreicher Kandidaten zu beschleunigen, lassen sie jeweils zwei Schwimmer pro Bahn starten. Fünf Bahnen, zehn Schwimer. Meine Kinder hassen das, weil man sich so leicht in die Quere kommt. Gut zehn Minuten pro Serie. Ziemlich langweilig für alle Beteiligten, insbesondere die Zuschauer. Noch langweiliger sind die 1.500 Meter. Sechzig Längen im 25-Meter-Becken! Schon auf den ersten Längen wird dabei deutlich, wer das Rennen wohl machen wird. Keines meiner Kinder schwimmt die achthundert Meter. Aus unserem Club schwimmt nur Paul, ein großer Rothaariger, mit. Dritter von zehn Schwimmern.

Ich habe kurz nicht aufgepasst, eine sms beantwortet, den Start verpasst. Mein Sohn ist im Wasser. Hundert Meter Freistil der Herren. Hält sich gut, zweiter Platz. Medaille. Dann hundert Meter Rücken der Damen. Meine Tochter ist die einzige ausländische Teilnehmerin des Wettbewerbs. Seit Jahren wird sie im offiziellen Programm in der Spalte Nationalité als allemande gelistet. Keine Ahnung warum. Obwohl sie überzeugte Französin ist. Dank meiner Tochter wird jedes Provinzschwimmen zur internationalen Kompetition. Meine Tochter erste ihrer Serie von fünf Schwimmerinnen.

À vos marques, Tröte, Leuchte. Schon wieder die Tochter. Fünfzig Meter Schmetterling. Schlechter Start. Holt aber auf zum dritten Platz. Die Tochter ist ehrgeizig. Dank ihres Jahrgangs reicht es bestimmt wieder zu einer Medaille. Ob sie wirklich aufhören will nächstes Jahr? Na ja, vielleicht doch nicht. Vielleicht weniger oft zum Training. Vielleicht. Vier Mal zwei Stunden pro Woche sind, muß ich zugeben, wirklich viel.

Und dazu immer diese Wettbewerbe, ganze Sonntage lang.


© Bertram Diehl, 2017. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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