Martenstein

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“An intellectual is a man who takes more words than necessary to tell more than he knows.” – Dwight D. Eisenhower

Il n’est pas intellectuel!

Der Anästhesie-Pfleger sitzt mit der Kol­legin in meinem Büro. Sie spre­chen über Grie­chen­land. Die grie­chi­schen Schulden. Schulden, die man den Grie­chen ja auch erlassen könnte. Ob man das so ein­fach kann, frage ich mich. Was ver­stehe ich schon davon? So wie man den Deut­schen ja auch schon immer wieder Schulden erlassen hätte, sagt der Pfleger. Wirt­schaft­lich hätten die Deut­schen sich ja nie­mals zu der Kraft auf­schwingen können, die sie heute dar­stellen, wenn man ihnen nicht ihre Schulden erlassen hätte. Damals, nach dem Krieg. Sagt der Pfleger und die Kol­legin stimmt zu. Stimmt wohl, denke ich mir. Deutsch­land würde immer noch an den Schulden der Nazis bei den Grie­chen bezahlen. Zum Bei­spiel. Ich habe davon gelesen. Bei SPIEGEL ONLINE wahrscheinlich. Was aber weiß ich schon wirk­lich dar­über? Zuwenig. Ich könnte Phrasen auf BILD-Ni­veau zur Dis­kus­sion bei­steuern. Besser nicht. Ich ziehe mein Grün­zeug an, werfe meinen Kittel über und ver­ab­schiede mich: ich geh’ dann mal was arbeiten. Ich hätte auch sagen können: ich geh’ dann mal eine rauchen. Genauso fadenscheinig. Glaubt mir keiner.

Il n’est pas intellectuel!

Sagt der Pfleger da und lacht erstaunt. Der ist nicht intel­lek­tuell! Sagt er im Ton­fall wie stimmt ja, du hast ja so recht. Für anspruchsvollen Erkenntnisgewinn ist der nicht zu haben. Der ist ganz und gar nicht intel­lek­tuell! Dritte Person Sin­gular. Der Pfleger spricht über mich. Er hat mit der Kollegin schon über mich geredet. Die Kol­legin hat ihm vielleicht von meinem Blog erzählt. Der ist ja auch nicht wirklich intellektuell. Unterhaltsam, sagt sie. Hinter dem grünen Tuch vielleicht, nachts um halb fünf, zu einer langweiligen Narkose, kann man nett plaudern. Oder zu einem Glas Wein in einem kleinen Restaurant mit Meeresrauschen. Aber das ist pure Spekulation. Sie, die Kollegin, gab sich — mir gegen­über — als, nun ja, zumindest konsequente Leserin. Unterhaltsam eben. Einer­seits. Und spricht dem Pfleger von der Schwierig­keit, Dis­kus­sionen zu komplexer Thematik mit mir zu führen. Scheint es. Andererseits. Es gibt so Themen, die mich nicht interessieren, die mir keine Freude bereiten. Religiöser Kontext zum Beispiel. Nicht mein Ding. Ich stehe dazu. Ist mir zu fremd, macht mir Beklemmungen. Ich will ja auch niemanden beleidigen. Ich gebe mich bei solchen Themen betont einsilbig. Vermeidungshaltung. Oder über Anäs­thesie. Anästhesisten reden gerne über Inhalte ihres Fachgebiets. Je kleiner das Fachgebiet, desto mehr kann darüber geredet werden. Selbst erlebte Fälle. Chirurgen kriegen da gerne die Rolle karnifizierter Inkompentenz ab. Passiert mir auch. Ist eben so. Manchmal. Jeder macht mal Fehler. Weiterbildungstheoretik. Theoretische Erwägungen zum Verhalten irgendwelcher Rezeptoren sind mir zu abgehoben. Zu intellektuell quasi. Das Verhalten von Rezeptoren interessiert mich nur bei unmittelbarem Bezug zum gelebtem Arbeitsalltag. Ansonsten präsentiere ich die bewährte Vermeidungshaltung. Einsilbigkeit.

Zu vielen Themen fehlen mir Einzelheiten im Hintergrundwissen. Ich müßte noch deutlich mehr recherchieren, um halbwegs kompetent mitreden zu können. Unwissen macht mich einsilbig. Wirkt ein bißchen wenig intellektuell, ungebildet. Da hatte der Pfleger schon recht. War auch irgendwie peinlich.

Vor kurzem stieß ich im ZEIT-Magazin auf eine Kolumne von Harald Martenstein über die Schwerhörigkeit. Fand ich sehr gut, die Kolumne. Herrn Martenstein gelingt es, sich aus manifester Schwerhörigkeit heraus als “nachdenklicher Intellektueller” darzustellen. Wenn er was nicht hört oder versteht, sagt er einfach “Ich glaube, darüber muss ich erst mal eine Weile nachdenken”. Das könnte, dachte ich mir dann, auch zur Abwehr unerfreulicher Erörterungen funktionieren. Was denkst du denn zu den griechischen Schulden, Bertram? Ich glaube, darüber muss ich erst mal eine Weile nachdenken. Hätte ich auch sagen können. Statt “ich geh’ dann mal was arbeiten” oder “ich geh’ dann mal eine rauchen”.

Ich fand die Kolumne von Herrn Martenstein auch interessant, weil ich mich mit Schwerhörigen identifizieren kann. Ich bin auch schwerhörig. Sagt meine Frau zumindest. Fällt ihr vor allem auf, wenn wir morgens Einzelheiten zur Organisation des bevorstehenden Tages erörtern. Wenn ich gerade unter der Dusche stehe. Und sie sich die Zähne putzt. Wenn ich gar nichts verstehe, muß ich öfter mal nachfragen. Das nervt sie. Wann kaufst du dir endlich ein Hörgerät? Wobei diese Dinger meines Wissens doch gar nicht wasserfest sind. Unter der Dusche und somit ohne Hörgerät würde ich dann immer noch nichts verstehen. Manchmal verstehe ich im Grundrauschen von Dusche und Zahnbürste einzelne Worte. Schule zum Beispiel oder Kinder oder Dienst. Wahrscheinlich soll ich die Kinder von der Schule abholen oder sie fragt, ob ich Dienst habe. Morgens im Badezimmer reden wir eher selten über Europapolitik oder Rezeptorendynamik. In aller Regel geht es um eher banale Angelegenheiten. Kinder, Einkaufen, Arbeit. Dann kann ich sagen, weiß ich noch nicht oder muß ich gleich mal nachsehen. Das funktioniert ganz gut. Wenig später, in der Küche, kriege ich die gleiche Frage normalerweise noch mal gestellt. Unter wesentlich besseren akustischen Rahmenbedingungen. Weißt du inzwischen, ob du Dienst hast, hast du nachgesehen, ob du die Kinder abholen kannst? In der Küche verstehe ich meine Frau sehr gut. Solange es nicht ums Kochen geht. Und wenn sie nicht gleichzeitig die What-else-Maschine betätigt oder den Kapselbehälter in den Mülleimer entleert. In diesem Kontext werde ich schnell wieder ein Kandidat für die Hörhilfe.

Oder setze mich, weil ich zum wiederholten Male nicht verstehe, ernsthaften Zweifeln an meiner intellektuellen Verfassung aus.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

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