Marie

La connerie et la paresse, Dummheit und Faulheit. Ist in der Sprechstunde eine relativ häufige Antwort, vielleicht zehn Prozent, gepflegter männlicher Ruheständler mit überregionaler Tageszeitung unter dem Arm. Ist die Antwort auf die Frage “présentez-vous des allergies”, haben Sie Allergien? Lächeln ein verschmitztes Lächeln dazu, ergänzen gerne, nein, im Ernst, ich bin nicht einmal auf Iod allergisch. Die Iod-Allergie hingegen ist eine beliebte Allergie junger Erzieherinnen. Ich frage mich immer, zu welcher Gelegenheit junge Erzieherinnen mit Iod in Berührung kommen. Vertragen, auf Nachfrage, keine Austern. Nicht weiter schlimm, im OP gibt’s keine Meeresfrüchte. Auf Bétadine, dem gängigen Haut-Desinfektionsmittel, ist selten mal jemand allergisch. Austern und Bétadine werden fälschlicherweise oft gleichgesetzt, was das Iod betrifft. Diesbezügliche Diskussionen mit jungen Erzieherinnen vermeide ich gerne, notiere auf dem Narkosebogen: Pas de Bétadine, svp, bitte kein Bétadine.

Die Fagen sind immer die gleichen. Sind Sie schon mal operiert worden? Wenn ja, ist alles gut gegangen? Wieviel rauchen Sie, arbeiten Sie, treiben Sie Sport? Wer Sport treibt, hält auch eine Narkose aus.

Les restanques, ça compte comme sport? – Gelten die Weinberge als Sport?

Marie, bon sang, meine Güte! – Mama erhebt Einspruch. Ich verstehe nicht sofort, was Marie meint. Mir ist auch nicht klar, warum Mama ihre Tochter zurechtweist.

Pardon?

Non, c’est bon, laissez tomber. Je ne fais pas de sport. – Schon gut, kein Sport. Restanques.

Marie ist fast sechzehn und hat nächsten Donnerstag eine Abtreibung. Unter Vollnarkose. Deswegen sitzt sie in meiner Sprechstunde. Vermutlich haben die Weinberge was mit ihrer Schwangerschaft zu tun. So genau will ich es gar nicht wissen.

Ich habe zehn Minuten pro Patient. Bei Menschen ohne Vorerkrankungen, denen die Weisheitszähne entfernt werden sollen oder ein Leistenbruch zu reparieren ist, reichen die zehn Minuten problemlos. Formsache. Sie sind volljährig und haben weder Eltern noch besorgte Gatten dabei, wollen den Auftritt beim Anästhesisten so schnell wie möglich hinter sich bringen. Bloß keine Fragen, bloß keine langen Erklärungen zu Durchführung, Risiken und Nebenwirkungen der Narkose. Eltern wollen alles ganz genau wissen, logisch, besorgte Angehörige stellen gelegentlich überraschende Fragen: Sagen Sie, docteur, was soll eigentlich operiert werden?

Nehmen Sie regelmäßig Medikamente? Wenn jemand Medikamente nimmt, kann ich daraus Rückschlüsse auf die Krankheiten ziehen. Ältere Herrschaften wissen ihrerseits oft nicht, wofür sie ihre ganzen Medikamente einnehmen. Meist ist es was für den Blutdruck, Herzrhythmusstörungen, verengte Herzkranzgefäße, das Cholesterin. Manche Hausärzte, so scheint es, gewinnen mit der Menge verschriebener Medikamente an Ansehen bei ihren Patienten. Für jedes Wehwehchen ein Schächtelchen. Für den querliegenden Furz, für die kleine Schlafstörung, das gelegentliche Sodbrennen. Warum nicht auch was für die Nerven und Sie scheinen mir auch ein bisschen depressiv die letzte Zeit. Ach, die Katze ist gestorben! Ich schreibe Ihnen was auf. Zack, Schächtelchen. Das wird schon wieder. Und das Gedächtnis ist auch nicht mehr so gut? Neulich mussten Sie niesen? Bestimmt eine Allergie. Schmerzen in den großen Zehen. Bestimmt die Gicht. Am Ende dürfen sie eine volle Ikea-Tüte aus der Pharmacie schleppen. Eine Art Krankheitsgewinn.

Ouvrez grand la bouche et faites aah, s’il vous plaît, öffnen Sie den Mund soweit wie möglich und sagen Sie Aah, bitte! Gehört zur Untersuchung wie Blutdruckmessung und Auskultation von Herz und Lunge. Dient der Beurteilung von eventuellen Schwierigkeiten bei der Intubation. Will aber auch kaum ein Patient wissen. Sie machen den Mund weit auf und sagen Aah.

Marie kichert kurz, nimmt den Kaugummi aus dem Mund, gehorcht. Und läuft knallrot an. Mama, die den Mund solidarisch auch ein bisschen geöffnet hat, prustet los.

Quoi, was?

Mama kann sich nur schwer beruhigen. Muss auch was mit den Weinbergen zu tun haben.

Mütter können sowas von peinlich sein.


© Bertram Diehl, 2018. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.