Ist das mein Problem?

Wo geht’s denn hier in den Kreißsaal?

Deutsche. Ein junger Mann mit Drei-Tage-Bart und einer Vierjährigen auf dem Arm. Die sprechen mich auf Deutsch an! Im Flur zu den Urgences. Sieht man mir an, daß ich Deutscher bin? Habe ich Socken in Birkenstocks an den Füßen, die FAZ unter dem Arm, Schwarz-Rot-Gold auf der Wange?

Bis zum Ende des Flurs und dann rechts. Maternité.

Und finden es völlig normal, daß ich in ihrer Sprache antworten kann. Man muß dem jungen Mann zugute halten, daß er vielleicht Grund zu Aufregung hat. Daß es seine Frau auf dem Weg in den Kreißsaal womöglich ziemlich eilig hatte.

Zur Zeit – es ist immerhin schon September und die meisten Deutschen sind wieder abgereist, dachte ich – laufen mir erstaunlich viele Deutsche über den Weg. Im Krankenhaus. Gestern saß eine ganze Familie in der Wartegruppe der chirurgischen Station. Und spielte Uno! Sonst hört man deutsch vor allem bei Décathlon. Ich weiß nicht, warum gerade da. Als ob deutsche Urlauber erstmal Badehosen, Schwimmreifen und Flossen bei Décathlon holen müßten. Bei Décathlon gibt es immer Deutsche. Immer, zu jeder Jahreszeit.

Tu es mon sauveur!

Carole auf ihrer internistischen Station. Ich bin ihre Rettung. Sie hat eine deutsche Patientin, die nur Boschua und Merßi sagen kann. Ist vor zwei Tagen knapp der Intensivstation entgangen. Ich soll Carole als Dolmetscher retten. Ich soll der Patientin verdeutlichen, daß sie noch nicht reif sei für 1.500 Autokilometer Heimreise. Auch die Wirkung der vertrauten Sprache wäre dabei nicht zu vernachlässigen, ergänzt Carole. Die Patientin bleibt dabei: am Samstag will sie, nein, muß sie nach Hause. Da führen die Freunde, die sie mitnehmen. Mitnehmen müssen, denn ein medikalisierter Heimtransport würde von ihrer Versicherung nicht übernommen. Das hatte ich Carole gleich gesagt: Deutsche sind so. Auch als Patienten. Da gibt es Sachzwänge. Unabwendbar. Wenn die sich was in den Kopf gesetzt haben, bleiben sie dabei. Die mußt du schon intubieren, wenn du willst, daß sie bleibt.

Die Versicherung ist andererseits oft ein Problem für Patienten aus Deutschland, wenn sie im Provinzkrankenhaus der Côte d’Azur Objekt medizinischer Versorgung werden. Der Versicherungsklassiker. Wenn man sie braucht, läuft nichts so, wie man das in seiner Not gerne hätte. Dann zum Beispiel, wenn die Hüfte kaputtgeht oder das Handgelenk. Schmerzen und allein gelassen. Für die bin ich der Messias. Logisch. Erstmal. Viele können nämlich gerade mal ein Baguette kaufen. Auch nach Jahren in Le Lavandou. Meistens fahren sie ohnehin zu Aldi, Netto oder Lidl, weil sie das von zuhause kennen. Da gibt’s auch Baguette. Intermarché oder Casino zu Jahresend-Feiertagen, wenn’s dann doch mal ein Sixpack Austern sein darf.

Wenn die erste echte Freude über einen sprachkompetenten und zugewandten Kompatrioten in all diesem Unglück mit dem kaputten Handgelenk oder der ausgekugelten Hüftprothese aber erstmal verdaut ist, rutscht man leicht auf Discounterniveau ab. Kann’s nicht noch ein bißchen mehr sein? Rufen Sie doch mal bei der Versicherung wegen des Heimtransports an! Ähm, bitte. Inzwischen leugne ich Sprachkompetenz und Primärnationalität. Oft zumindest. Wenn ich kann.

Bonjour, Bertram! Comment vas-tu?

Caroles Sekretärin. Heißt auch Carole. Heftig geschminkt, Kunstwimpern. Hat ihr süßestes Lächeln aufgesetzt. Sehe ich ganz selten, Carole und ihr süßestes Lächeln. Hat mich auf dem Stationsflur abgefangen. Bestimmt folgen noch ein paar charmante Worte. Und dann wird sie was von mir brauchen.

Eine Ewigkeit, daß wir uns nicht mehr gesehen haben! Du warst bestimmt im Urlaub, so schön gebräunt wie du bist!

Sie hört sich – immer noch ihr süßestes Lächeln in den Augen – sehr interessiert meine Antwort an. Dann aber. Klar.

J’ai une petite faveur à te demander.

Genau. Ein kleiner Gefallen. Meine Dolmetscherfunktion ist schon wieder gefragt. Noch ein Deutscher. Einer, der angeblich nicht zahlen will. Wahrscheinlich ein Mißverständnis. 101 am Fenster. Herr von W., Mitte 70. An welcher Stelle hätte ich da Nein sagen können?

Guten Morgen, Herr W.!

Sie sprechen deutsch?

Ich bin Deutscher.

Wissen Sie, nichts für ungut, aber das muß ich Ihnen mal sagen, das ist das reinste Chaos hier! Niemand kümmert sich! Ich bin seit vorgestern hier und warte noch immer auf mein IRM! Wenn innerhalb der nächsten Stunde nichts passiert, gehe ich!

Herr von W. ist ungehalten. Und – unter uns – er hat recht: Es ist schon ein bißchen chaotisch hier. Niemand kümmert sich. Das sehe ich jeden Tag. Öffentliche Struktur in Südfrankreich. Improvisation statt Organisation. Die Generation Herrn von W.s hält Chaos und Improvisation ganz schlecht aus. Sie hält gar nicht aus, warten zu müssen. Das Ungehaltene dieser Generation im Zusammenhang mit mediterraner Desorganisation kenne ich auch sehr eindrücklich von meinem Schwiegervater. Lautstark dem Ärger Luft verschaffen, klare Ultimaten im Minutenbereich setzen, mit terminalen Konsequenzen drohen – otherwise explodes a bomb! Die Bombe gegen einen armen Hotelangestellten in Istanbul, der nun gar nichts dafür kann, daß der bestellte Leihwagen nicht pünktlich um halb neun Uhr angeliefert war. Hilft aber nicht.

Carole ist Herr von W. letztendlich egal. Soll er doch. Soll er doch einfach gehen. Ist das mein Problem?


© Bertram Diehl 2015. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

bertram@diehl.fr


3. Oktober

Gekürzt abgedruckt in der Oktober-Ausgabe von “Riviera – Das Magazin”. Auch online.