Insel im Sturm

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Vor ein paar Tagen bin ich extra früh auf­ge­stan­den, um noch ein biß­chen Rad zu fah­ren, also, eben mehr als ein biß­chen nur, mehr als die zehn Kilo­me­ter plat­tes Land zum Kran­ken­haus. Wegen der Hitze geht das nur früh mor­gens. Und ab und zu muß, um in Form zu kom­men, schon auch mal ein biß­chen Stei­gung sein. Um Tou­lon haben wir drei Berge, Mont Caume, Faron und Coudon. Ambi­tio­nierte Ama­teure fah­ren die drei mal eben an einem guten Vor­mit­tag ab. Ambi­tio­nierte Ama­teure fah­ren übri­gens ohne Unter­wä­sche. Zumin­dest die aus mei­nem Umfeld. Sagen die. Ich weiß aber nicht, was das bringt. Soweit bin ich noch nicht. Ich fahre auch nur einen der Berge zur Zeit. Wobei ich den Mont Caume noch nie in Angriff genom­men habe. Mein Lieb­lings­berg ist der Faron, weil die Straße von einem zum ande­ren Ende eine Ein­bahn­straße ist. Kein Gegen­ver­kehr. 520 Höhen­me­ter. Der Coudon ist ein biß­chen höher, 650 Meter, oben ist was Mili­tä­ri­sches, man darf nicht ganz rauf. Mor­gens fährt man immer­hin ange­nehm im Schat­ten. Lei­der Sack­gasse. Poten­ti­ell also mit Gegen­ver­kehr. So früh kommt da natür­lich kei­ner run­ter. Aber erstaun­lich viele fah­ren rauf. Beim Run­ter­fah­ren auf der schma­len Straße macht poten­ti­el­ler Gegen­ver­kehr Angst. Da war ich also vor ein paar Tagen. Auf dem Coudon. Abfahrt zuhause 6:04 Uhr. Oben um 7:21 Uhr. Das ist nicht wirk­lich schnell. Weiß ich. Wurde dann auch ein biß­chen knapp fürs Kran­ken­haus. Zumal ich dann ja auch noch duschen mußte. Defi­ni­tiv.

8:25 Uhr. Toben­der Chir­urg in der Umkleide vor der Dusche. David B. Ich habe ihn, trotz lau­fen­der Dusche, schon von wei­tem gehört, ihn und einen mei­ner Kol­le­gen, frag' doch Bertram, wenn dir was nicht passt. Aber der duscht gerade. Drei Sekun­den spä­ter stand er brül­lend in der Umkleide, rief nach mir, Bertram, rüt­telte an der Tür zur Dusche. Kann ich nicht gut haben, auch wenn ich spät dran bin. David B. ist all­ge­mein als connard klas­si­fi­ziert. Arro­gant und, lei­der, in sei­nen hand­werk­li­chen Fähig­kei­ten nicht gerade begabt. Arro­gant ginge ja noch durch, wenn er wenigs­tens gut wäre, also hand­werk­li­ches Geschick bewiese, nett oder zumin­dest kom­pe­tent wäre zu Pati­en­ten und so. Ist er aber nicht. Nicht mal nett zu Pati­en­ten. Und immer, oft, geht irgend­was dane­ben. Häu­fig muß er mehr­fach ope­rie­ren, weil es im ers­ten Ver­such beim bes­ten Wil­len nicht reicht. Des­we­gen steht er häu­fig alleine da. Und muß schreien, weil ihm kei­ner hilft. Kei­ner wollte seine Pati­en­tin mit kaput­ter Hüfte für die­sen Mor­gen neu­lich betäu­ben. Die Labor­werte stimm­ten nicht. Zu anämisch. Waren sich die Anäs­the­sis­ten offen­bar einig. Gibt es auch ganz sel­ten, diese Einig­keit unter den Anäs­the­sis­ten. Gegen David B. leich­ter mal. Die Frau hätte bes­ser vor­be­rei­tet sein müs­sen, wenn man sie halb­wegs unbe­scha­det durch die OP brin­gen wollte. David B. hätte sich um eine kleine Trans­fu­sion küm­mern müs­sen. War ihm nicht so wich­tig. Chir­ur­gen wird oft unter­stellt, es ginge ihnen nur um ihre Ope­ra­tion. Ist lei­der häu­fig was dran. David B. gehört ganz klar zu die­ser Sorte. Damit ist meine Pati­en­tin lei­der mal bar­rée, mit die­sem Chir­ur­gen. Schlechte Kar­ten. Unter der Dusche kann ich dir sowieso nicht hel­fen, laisse-moi tran­quille, con­nard, laisse-moi trois minu­tes!

Gut drei Stun­den spä­ter war die Pati­en­tin soweit. So rich­tig schlimm wurde es schließ­lich nicht. Wir hat­ten genug Blut auf Lager, das Blut­bad zu kom­pen­sie­ren.

Spä­ter, im Dienst, mußte ich lange war­ten auf die Über­nahme einer Pati­en­tin aus den Urgen­ces, der Ambu­lanz. Das kann ganz lange dau­ern und man weiß gar nicht warum. Hätte ich hin­ge­hen kön­nen und mal ein biß­chen Druck machen. Kol­le­gen von mir machen das gerne, Druck machen in den Urgen­ces. Frü­her, wäh­rend mei­ner ers­ten Monate in die­sem Kran­ken­haus, stürmte auch ich gele­gent­lich brül­lend die Urgen­ces. Blitz­an­griff. Wut­an­fall, wenn wie­der ein Uralt-Pati­ent mit einer Aldi­tüte voll Medi­ka­men­ten auf die Sta­tion kam ohne aktu­elle Blut­ana­lyse, EKG und Rönt­gen­auf­nahme. Blut­ana­lyse, EKG und Rönt­gen­auf­nahme sind ganz klar Auf­gabe der Urgen­ces. So war das frü­her in Deutsch­land und das ist eigent­lich auch so in Frank­reich. Nor­ma­le­ment. Ins­be­son­dere bei Alten mit einer gan­zen Aldi­tüte voll Medi­ka­men­ten ist das hilf­reich und nett. Damit der Anäs­the­sist sich früh­zei­tig eine Vor­stel­lung vom Zustand des Pati­en­ten im Gan­zen machen kann. Da hat wie­der einer geschla­fen, wenn das nicht gemacht ist. Oder keine Lust gehabt. Brül­len in den Urgen­ces, vor Publi­kum, Schwes­tern, Ärz­ten, Pati­en­ten, Ange­hö­ri­gen. Egal. Wut. So geht das gar nicht, so kann ich nicht arbei­ten. Das nächste Mal kriegt ihr den Pati­en­ten zurück, bis das ver­dammte EKG geschrie­ben ist. Bor­del à cul de pompe à merde! Das gilt als über­aus häß­li­cher Fluch. Bringt aber nichts. Im Gegen­teil. Die gucken alle nur gelang­weilt. Das ken­nen sie schon. Der zustän­dige Kol­lege ist gerade im Ein­satz auf der Straße. Und die Schwes­ter dazu unauf­find­bar. Oder, bes­ser noch, kei­ner weiß, wer die Schwes­ter dazu ist. Oder war. Ist immer so. Der zustän­dige Kol­lege ist immer gerade im Ein­satz auf der Straße und kei­ner will wis­sen, wer die Schwes­ter dazu ist. Und wenn man sei­nen Auf­tritt als Sturm­bann­füh­rer – Ach­tung, schnell, schnell, der böse Deut­sche im Film sagt immer und unsyn­chro­ni­siert Ach­tung, schnell, schnell – hatte, geht es extra lang­sam wei­ter.

Kein Brül­len mehr also. Hof­fen auf Wun­der. Zum Hof­fen auf ein Wun­der las ich den drit­ten Krimi von Chris­tine Cazon, "Stür­mi­sche Côte d'Azur". Sonst sind Kri­mis nicht so mein Ding, ganz ehr­lich, die von Chris­tine Cazon lese ich gerne, schon weil sie in der Gegend spie­len. In Can­nes. Lebens­nah. Über Hof­fen und Lesen muß ich irgend­wann ein­ge­schla­fen sein. Bei gut 63%. Mein kindle spricht nicht von Sei­ten, er spricht von Pro­zen­ten. Eigent­lich abar­tig im Zusam­men­hang mit Büchern. Ein­ge­schla­fen nach einer Szene Zwei­sam­keit im Forst­haus auf der Insel im Sturm. Der Kom­mis­sar und Alice, die kna­ckige Kell­ne­rin, leicht alko­ho­li­siert. Wor­auf war­ten die bei­den noch? Statt­des­sen schickt der Kom­mis­sar die Kell­ne­rin ins Bett, alleine! Natür­lich, in Wirk­lich­keit, wäre das anders, wis­sen wir. Rausch der Sinne. Die ganze Nacht. Bis in die Mor­gen­däm­me­rung. Statt­des­sen Aspi­rin? Quatsch. So spröde kann der Kom­mis­sar gar nicht sein. Fran­zose. Auf der Insel. Da muß der Fran­zose in echt nicht lange über­le­gen. Das aber kann man ver­mut­lich der Laven­del-Frak­tion der Lese­rin­nen nicht zumu­ten.

Mein kindle schlug irgend­wann mit­ten in der Nacht auf dem Boden neben mei­nem Bett auf. Davon war ich wach­ge­wor­den. Wenig spä­ter hatte meine Pati­en­tin auch den Weg in meine Abtei­lung gefun­den. Papier­kram, The­ra­pie­plan. Eine Stunde spä­ter war ich wie­der im Bett. Konnte aber bis zur Dank­sa­gung hin­ten im Krimi nicht mehr ein­schla­fen.


© Bertram Diehl, 2016. Abdruck, auch aus­zugs­weise, nur mit aus­drück­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

bertram@​diehl.​fr

2 Responses

  1. Oh! Da dankt die Autorin! Und freut sich, wenn ihre Kri­mis bei­nahe in einem Rutsch gele­sen wer­den – dass Sie nach 63% ein­ge­schla­fen sind und zudem an der pikan­tes­ten Stelle, gibt mit aller­dings zu den­ken. Ich werde das mit Duval mal bespre­chen … bei Gele­gen­heit, wenn es sich ergibt -
    Schöne Grüße aus Can­nes
    Chris­tine Cazon

    • Nach­dem der Kom­mis­sar – alleine – in sei­nem Bett zu lie­gen gekom­men war, schien sich mehr Pikan­te­rie nicht anzu­bah­nen. Und außer­dem war es schon spät. Auch in der Wirk­lich­keit des Dienst­zim­mers. Deut­lich nach Mit­ter­nacht. Dies zu mei­ner Recht­fer­ti­gung. Dem Kom­mis­sar, jung und eher unge­bun­den, wer­den sich sol­che Gele­gen­hei­ten sicher noch öfter anbie­ten.
      Gruß,
      Bertram

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Latest Comments

  1. Anke Kersting zu Le Faron